Gedächtnis und Sprache
Noch einen kleinen Schritt weiter zu tun, habe ich versprechen und will ihn jetzt von der letzten Klippe des Denkens in den Abgrund hinaus wagen. Was ist das, was das Urgedächtnis tut, wenn es in seiner dumpfen Tiefe wahrnimmt und zuerst empfindet "Außenwelt", dann "Druck", "Wärme"; wenn es sich die Weltvibrationen klassifizierend und vergleichend merkt, um aus diesem Merken und zu diesem Merken die Sinnesorgane sich zu erschaffen? Ist das nicht dasselbe, was wir getan haben und immer noch tun, wenn wir: die harten Dinger, die unbeweglich dem nackten Fuße im Wege sind, mit einem substantivischen Worte "Steine" nennen, wenn wir die Steine ordnen, zuerst roh interessiert nach ihrer Schwere, Größe, Wälzbarkeit, dann feiner interessiert nach ihrer Zerlegbarkeit im Feuer, dann weiter wissenschaftlich interessiert nach ihrer Zusammensetzung und ihrer Kristallform; wenn wir: an den Steinen ihr Fallen von der Höhe und nachher die Regelmäßigkeit des Fallens entdecken, eine regelmäßige Ordnung zwischen dem Fallen des Steins und dem Kreisen des Mondes ausrechnen, dem Begriffe der Schwere so eine neue Ausdehnung geben und in Jahrtausenden von der Empfindung des wuchtenden Steines bis zur Lehre von der Gravitation gelangen? Wir werden die Sprache das Gedächtnis des Menschengeschlechts nennen. Wir sehen jetzt, daß das Gedächtnis auch auf seiner untersten Stufe nichts anderes leistet als Sprachdienste, daß es auch da — vorläufig ohne hörbare oder sichtbare Zeichen — Sprache ist, d. h. nach Ähnlichkeiten klassifiziert. Wir erkennen, daß das Gedächtnis auf seinem Ungeheuern Wege eigentlich doch dasselbe geblieben ist, daß es auch als Urgedächtnis schon nur nach dein Zufall seines Interesses klassifiziert und vergleicht, also in der Amöbe wie im höchsten Denken des Menschen unfähig sein muß, interesselos die Wirklichkeitswelt zu erkennen, ja daß sich diese Unfähigkeit in dem Grade steigern muß, als die Unmittelbarkeit des Zusammenhanges zwischen dein klassifizierenden Gedächtnis und dem Chaos der Weltvibrationen verloren geht. Wir begreifen die Welt umsoweniger, in je weitere Begriffe wir sie fassen müssen.
Ich wage es, noch deutlicher zu sein. "Für den Menschen" ordnen sich regelmäßige Luftstöße zu Tönen. C, cis. Sicherlich fälschend, aber praktisch. Die Vibrationen des "Äthers" zu Farben. Blau, rot. Fälschend, aber praktisch. Ist es nicht genau so, wie nachher mit den Worten: Stein, Pflanze, Tier? Gehören nicht schon die Sinne (nicht nur die Worte für Lichtempfindungen) zu den normalen Täuschungen, zur Sprache? Und so sucht schon die Amöbe sich im Chaos zu orientieren. Sie kann die Stöße nicht zählen, aber sie ordnet sie irgendwie. Sie wird weniger getäuscht, wenn sie noch keine Töne hört.