Weltbild der Amöbe
Nun wollen wir einmal in der Phantasie den Konzertsaal ins Unendliche vergrößern, zum Weltall, den Zuhörer, den Empfindungsträger, ins Unendliche verkleinern, zur Amoeba princeps mit ihrem "strukturlosen", d. h. für unsere bewaffneten Augen organlosen Protoplasma. Was ist das Weltall für die Amöbe? Für den Menschen ist es die Kombination der Wahrnehmungen seiner Zufallssinne, Sinneserscheinung. Was ist das Weltall für die Amöbe, die unsere Sinne nicht hat? Wir wissen es natürlich nicht, weil wir uns von dem Innenleben der Amöbe keine Vorstellung machen können. Nun vollzieht sich aber in unserer Phantasie ein Paradoxon. Ohne Kantsche Philosophie zu Hilfe zu nehmen, gewinnen wir die Vorstellung, daß die Wirklichkeitswelt im Zuschauer sich selbst umso unähnlicher erscheine, als die Sinnesorgane höher entwickelt sind. Und weil wir der Amöbe gar kein Sinnesorgan zuschreiben, gerade darum beschleicht uns so etwas wie eine Ahnung, daß sie die Wirklichkeitswelt richtiger wahrnehme, daß für sie das Ding-an-sich unmittelbar, ich will nicht sagen wahrnehmbar, aber doch wirksam sei. Was ist nun diese Wirklichkeitswelt nach dem Bilde, das die neuere Naturwissenschaft sich macht? Das alte Chaos, ein Chaos von Schwingungskreuzungen, ein Chaos allerdings, in welchem von irgend einem übermenschlichen Standpunkte aus Notwendigkeit (nicht Gesetzmäßigkeit) herrscht, aber doch ein Chaos vom Standpunkte des Menschen. Der sturmgepeitschte Ozean mit seinen unformulierbaren Wellenkreuzungen ist diese Wirklichkeitswelt in nuce. Man denke sich anstatt dieser ausgedehnten Fläche eine unendlich größere Kugel; in dieser Kugel kreuzen sich chaotisch alle Molekularbewegungen der Körper, alle Schwingungen der Luft, alle Vibrationen der mit der Elektrizität verwandten Erscheinungen und Nichterscheinungen. Keine Phantasie kann ausreichen, um sich auch nur das Wesen einer einzigen dieser Schwingungen auszumalen; keine Zahl könnte ausreichen, um die Menge auch nur einer einzigen Art zu beziffern; und vor dem Chaos der Kreuzungen macht der menschliche Verstand in stumpfer Resignation Halt. Das ist das Weltall. Für den Menschen existiert natürlich nur die Welt, die er wahrnimmt, das, worauf er durch seine Sinne die Aufmerksamkeit zu richten sich gewöhnt hat: die Zufallsausschnitte seiner Zufallssinne.
Das ist nun das Paradoxon, von dem ich eben sprach. Im Menschen vereinigt sich der hochmütige Aberglaube, er besäße wunderbare Instrumente in seinen Sinnen, mit der resignierten Einsicht, daß wir nichts wissen können, zu der klaren Überzeugung: diese winzigen Zufallsausschnitte von ein paar armseligen Zufallssinnen sind unsere Welt. Man stelle sich einen Zuchthäusler vor; ein Fenster ist in seiner Zelle, aber es ist mit einem undurchsichtigen Stoffe angestrichen; der Zufall hat ein paar nadelstichgroße Löcher geschaffen, durch welche der Zuchthäusler dorthin sehen kann, wo der Zufall hinführt, auf den Hof seines Zuchthauses. Das ist seine Welt. Und in seltsamem Gegensatze zu dieser Mischung von Hochmut und Verzweiflung trauen wir der angeblich strukturlosen Amöbe ein direkteres Verständnis für den Weltlauf zu, als ob sie, selbst chaotisch, eine Formel zur Auflösung des Chaos nicht brauche. "Non intelligendo fit omnia", die Amöbe. Daran ist sicherlich etwas Wahres. Den angenommenen Vibrationen der Wirklichkeitswelt steht das Leben der Amöbe sicherlich näher als irgend ein Sinnesorgan des Menschen; den angenommenen Vibrationen steht aber ganz gewiß das Zusammenstürzen zweier angeblich leblosen chemischen Elemente noch näher. Und doch wird niemand so töricht sein (vorläufig wenigstens), chemische Hypothesen zur letzten unmittelbaren Erklärung menschlicher Psychologie heranzuziehen. Den Anfang des Psychischen in ein Bewußtsein des Chemismus zu verlegen.
Nur ziemlich phantastisch können wir also die Ergebnisse der Protistenstudien dazu benützen, die Uranfänge unserer Sinne aus dem Interesse und der Aufmerksamkeit zu begreifen, ihre ersten Mitteilungen, d. h. ihre ohne Klassifikation unmöglichen Tast- oder Tonempfindungen schon als erste Begriffs- oder Sprachversuche aufzufassen und bereits auf dieser Stufe zu entdecken, daß die Sprache in der Wirklichkeitswelt nur ein Irreführer ist. Den Leser der Sprachkritik kann diese Zusammenstellung scheinbar so entlegener Begriffe nicht mehr überraschen. Wir werden aber schon an dieser Stelle, nachdem wir noch einige andere Sinneseindrücke der Protisten analysiert haben, uns dem Ursprung der Sprache von einer neuen Seite nähern und begreifen lernen, daß die Aufmerksamkeit oder das Interesse, welches in den Uranfängen des organischen Lebens die Sinne werden ließ, zugleich auch schon etwas wie Sprache war; wir werden sogar erkennen, daß der Zufall, der in der Entwicklung der Sprache, im sogenannten Bedeutungswandel waltet — wie wir später sehen werden — eben auch schon als der Zufall in der Entstehung unserer Sinnesorgane vorhanden war. Die Amöbe hat noch keine Zeichen für C und Cis, unterscheidet beide gewiß noch nicht musikalisch. Kann ihre Schwingungen nicht einmal zählen, weil sie nicht weiß, wie lang eine Sekunde ist. Zählt aber der Musiker die Schwingungen? Die Tonempfindung ist seine Zahl. Und die Amöbe ordnet irgendwie — sicher an Gedächtniszeichen — die Stöße, die sie interessieren; die Ordnung bringt die Sinne in die Welt, die Gedächtniszeichen sind eine Sprache.