Interesse der Amöbe
Das Gedächtnis des Menschen übt durch Vergleichung eine Klassifikation der Sinneseindrücke ein. Alles philosophische Denken, ja selbst die Geistestat eines Newton läßt sich zuletzt auf Vergleichung von Beziehungen zurückführen, deren Grundlagen die Vergleichung von Sinneseindrücken gebildet hat. Aber die Amöbe besitzt noch keine Sinnesorgane, sie kann — wie wir annehmen müssen — Sehen, Hören, Schmecken und Tasten noch nicht differenzieren. Was hat also das Gedächtnis der Amöbe für ein Material? Eben haben wir die Amöbe angeschaut als ein empfindliches Etwas. das in dem Chaos der Weltvibrationen mitten inne steht. Ich spreche der populären Wissenschaft das Wort Vibrationen nach; eigentlich wissen wir nicht, was das ist, was man die Schwingungen im Äther und die Schwingungen der chemischen Atome metaphorisch nach den wahrnehmbaren Schwingungen der Luft genannt hat. Das Wesen dieser Vibrationen ist das vorläufige Ding-an-sich, welches über unsere Sinnesorgane hinweg in unserem Verstande zu den Erscheinungen des Hörens, des Gesichts und jeder Klassifikation wird. Das vorläufige Ding-an-sich. Im Ernste wird man die Erscheinungen des einen Sinnes nicht zum Ding-an-sich anderer Sinneserscheinungen machen wollen. Der Amöbe fehlt nun aber dieser Weg über die Sinnesorgane. Unmittelbar steht für unsere menschliche Vorstellung die Amöbe mit ihrem Gedächtnis mitten in den Weltvibrationen. Was kann nun dieses Gedächtnis an den durch kein Organ gesiebten Vibrationen klassifizieren? Was kann es an ihnen vergleichen? Was kann es an ihnen interessant finden? Kosmisch gesprochen: alles Mögliche, was wir nicht wissen; aber kosmisch sprechen haben wir nicht gelernt. Menschlich gesprochen also: einzig und allein die Ordnung, die Regel. Die regelmäßige Ordnung, auf die "man" sich verlassen kann, wie wir uns auf die regelmäßige Ordnung der Tages- und Jahreszeiten verlassen.
Das ganze Chaos der Weltvibrationen stürmt auf die Amöbe ein. Aus diesem Chaos macht gewiß nur ein unendlich kleiner Teil Eindruck, der Teil, welcher dem Organismus der Amöbe nützt oder schadet. Wir halten die Hypothese von den Vibrationen fest. Da gibt es die mechanischen Schwingungen, wie wir sie Töne nennen; da gibt es Ätherschwingungen, wie wir sie Licht nennen; da gibt es die allerfeinsten Molekularschwingungen der Körper, die wir, weil sie die bekanntesten sind, für die gröbsten Körpererscheinungen wie Schwere und Undurchdringlichkeit halten. Da gibt es wahrscheinlich Weltvibrationen, die wir heute noch nicht kennen, weil der Zufall der Interesselosigkeit keinen besonderen Sinn für sie entstehen ließ. Aber für gewisse Vibrationen hatte schon die Amöbe Interesse und merkte sie sich darum in ihrem kleinen Gedächtnis. Merken konnte sie sie nur durch Vergleichung der Eindrücke selbst und ihrer Beziehungen in Zeit und Raum. Vielleicht ahnt bereits die Amöbe den qualitativen Unterschied zwischen akustischen Luftvibrationen, zwischen thermischen Äthervibrationen und zwischen mechanischen Atomvibrationen. Nimmt man doch an, daß gewisse Protisten bereits Organoide für Licht- oder Wärmeempfindungen entwickelt haben. Ob das wahr ist oder nicht, wir können uns doch wenigstens vorstellen, daß das vergleichende und darum wiedererkennende Gedächtnis in seiner dumpfen Tiefe eines Tages etwas fühlte wie: Aha, das ist das, was Widerstand leistet! Aha, das ist das, was wärmt! Aha, das ist das, was schwirrt!
Teilte ich den Darwinistischen Wortaberglauben, so könnte ich das Interesse und das Gedächtnis nach diesen Voraussetzungen sehr bequem in Verbindung setzen. Es mußte den Protisten (nach der Selektionstheorie) sehr wichtig sein, das Drücken, das Wärmen, das Schwirren des Freundes oder Feindes sofort aus den allerersten regelmäßigen Vibrationen des drückenden, wärmenden oder schwirrenden Dings zu erkennen und sich danach einzurichten, das Ding zu fressen oder ihm zu entfliehen. Das mit dem besseren Gedächtnis ausgestattete Protist blieb das überlebende u. s. w. Das hieße aber doch nur die Frage nach der Entwicklung des Gedächtnisses zurückschieben, wie der ganze Darwinismus (abgesehen von der stolzen Auflösung des Artbegriffs) nur eine gewaltige Zurückschiebung der Frage nach der Entstehung der Organismen ist. Noch eins wäre mir bei dieser Anwendung des Darwinismus bedenklich: es wird da nicht das Interesse aus dem Gedächtnis abgeleitet, sondern das Gedächtnis aus dem Interesse, ein Unbekanntes aus einem noch Unbekannteren. Eine Gleichung ersten Grades findet da ihre Lösung in einer Gleichung zweiten Grades.
Wir wollen einfacher, freilich auch viel allgemeiner vergleichen. Wir setzen in der Amöbe dabei freilich noch eines voraus: etwas, was unseren Nervenbahnen entspricht. Nur Überschätzung des Mikroskops kann sich — wie schon ausgeführt — dagegen auflehnen mit Berufung auf die scheinbare Strukturlosigkeit der Amöbe. Hundert Experimente beweisen jedoch die Tatsache, daß ein Eindruck im sogenannten Protoplasma der Amöbe weitergeleitet wird. Aber auch ohne diese Versuche können wir nicht anders denken als so: dem äußeren Leben jedes Organismus entspricht irgend ein Grad von Innenleben und dieses Innenleben muß einen Träger haben, wie das menschliche Nervensystem der Träger des menschlichen Innenlebens ist. An diesen Träger ist überall in der Natur das Gedächtnis gebunden. Nun aber hat das Gedächtnis offenbar leichtere Arbeit, wenn es wiederkehrende oder gar regelmäßig wiederkehrende Eindrücke, Stöße oder was das relative, vorläufige Ding-an-sich sonst ist, wiedererkennen kann. In dieser Leichtigkeit der Einübung, in dieser Bequemlichkeit des Wiedererkennens oder Vergleichens muß das interessierende Moment hegen. In Mach's "Ökonomie-Prinzip".
Von diesem Punkte aus also erscheint es mir vorstellbar. wie das interessierte Gedächtnis zuerst im unendlichen Laufe der organischen Entwicklung aus dem Chaos der Weltvibrationen die einander ähnlichen — soweit das Interesse reichte — klassifizieren und an der Klassifikation sich merken konnte, wie das interessierte Gedächtnis sodann innerhalb jeder Vibrationsart wieder einige Unterarten auszeichnen und sich merken konnte, wie unsere sechs Zufallssinne entstanden und innerhalb jedes Sinnes endlich der zufällige Ausschnitt, für welchen wir ein paar Namen wie gelb, grün, warm, kalt, hart, weich oder technische Bezeichnungen wie C, cis haben.