II. Die Definition
Definition und Aufmerksamkeit
Was ich über den Begriff der Definition vorzubringen habe, das hat Goethe kurz und bündig, nach seiner Art für einen besondern Fall, schon gesagt, wo er in der Geschichte der Farbenlehre Athanasius Kircher kritisiert: "Unser Verfasser möchte, um sich sogleich ein recht methodisches Ansehen zu geben, eine Definition vorausschicken und wird nicht gewahr, dass man eigentlich ein Werk schreiben muß, um zur Definition zu kommen." Etwas Ähnliches scheint Sigwart vorzuschweben oder doch dem Verfasser seines Registers, wenn da die Definition ein Abschluß des Wissens genannt wird. In der "Logik" selbst wird die Unfruchtbarkeit der Definition (II. S. 699) zugegeben, vorher jedoch (S. 639) wird der Definition dennoch trotz aller Warnungen vor Dubois Reymonds pathetisch verkündeter Weltformel eine bedeutsame Rolle zugeschrieben. Sigwart hätte Wohl nicht der Meister der logischen Disziplinen werden können, wenn er nicht an die logischen Begriffe oder Worte über seine eigene Kritik hinaus geglaubt hätte.
An dem geistreichen Gesellschaftsspiel der Logik nehmen wir erst teil, wenn wir unsere Worte oder Begriffe definieren wollen. Für gewöhnlich gebrauchen wir unsere Worte "wie Essen und Trinken frei", ohne das Bedürfnis ihrer Definition zu fühlen. Solange die Menschen einander halbwegs verstehen, so lange brauchen sie keine Definition der Begriffe; erst wenn sie einander ganz und gar nicht mehr verstehen, wird diese betrübende Tatsache durch eine Definition ausdrücklich festgestellt. Wir haben an anderer Stelle gesehen, dass Bewußtsein eine Hemmung ist, eine schmerzhafte Störung des unbewußten Gedächtnisses. Das Bewußtsein verhält sich zum unbewußt tätigen Gedächtnisgang ernsthaft wie Brustschmerzen zur regelmäßigen Atmung, wie Bauchgrimmen zur behaglichen Verdauung. So kommt auch der Begriff in seiner Definition uns zum Bewußtsein; die Definition gehört gewissermaßen zu den Sprachstörungen, sie ist eine Hemmung im regelmäßigen, behaglichen Gebrauch der Worte. Millionen Menschen essen Käse und sprechen von Käse, Millionen Menschen behaupten ihre Rechte und sprechen von ihren Rechten, ohne einer Definition der Begriffe "Käse" oder "Recht" zu bedürfen. Erst Wenn ich in Südfrankreich einen flüssigen Rahm als Käse vorgesetzt bekomme, werde ich stutzig, komme zum Bewußtsein meiner mangelhaften Bildung und frage nach der Wortdefinition; erst wenn ich vom Händler ein gefälschtes Zeug für mein echtes Geld bekommen habe und ihn zur Strafe für meinen Ärger oder meinen Schmerz verklage, erst dann wird nach der Sachdefinition gefragt.
Wir empfinden den ganzen Wirrwarr der Logik vielleicht deutlicher, wenn wir bemerken, dass jede Definition — obwohl sie uns durchaus nicht von der Stelle zu bringen imstande ist — immer schon ein Satz ist, ein Urteil, ja eigentlich immer schon ein Schluß, gewöhnlich ein unmittelbarer Schluß, oft ein ganz komplizierter Syllogismus. Natürlich will ich damit der Definition nicht höhere Ehre zuerkennen, sondern nur andeuten, wie im bewußten Gebrauch der Worte psychologisch bereits die ganze Denktätigkeit enthalten ist, welche die Logik für ihre schwierigsten Aufgaben in Anspruch nimmt.
Man definiert die Definition als die geordnete Angabe der wesentlichen Merkmale eines Begriffs. Ich brauche nicht zu wiederholen, dass der Begriff der Ordnung und Unordnung nicht aus der Wirklichkeitswelt geholt ist, dass also die "Ordnung" der Merkmale immer auf den subjektiven Gesichtspunkt des Redenden hinauslaufen wird; und ich brauche erst recht nicht zu wiederholen, dass wir vom "Wesen" der Objekte keine Vorstellung haben, ihre Wesentlichen Merkmale also nicht kennen. Was wir mit dem Wortschall "Definition" etwa bezeichnen, das ist wirklich nichts weiter als unser Besinnen darauf, wie wir zu dem betreffenden Wort oder Begriff gekommen sind. Wobei ich mich leider wieder besinnen muß. Dass ich eben nur den Fetisch "Definition" mit dem befreundeteren Fetisch "Besinnung" vertauscht habe; ich hätte auch "Aufmerksamkeit" sagen können, um die Rätselworte nicht zu vermehren.
Halten wir aber fest, dass in den Definitionen schon geurteilt und geschlossen wird und dass jede Definition eine sichtbarliche Tautologie ist, so halten wir in der Hand, was ich gegen den gesamten Betrieb der Schullogik einzuwenden habe: Mit allem Schließen wird nie etwas Neues erschlossen. Niemals geht in unserem Gehirn etwas Anderes vor, als daß wir entweder eine neue Wahrnehmung machen oder von unserem Interesse (im weitesten Sinne) veranlaßt werden, auf alte Wahrnehmungen und ihre Merkzeichen die Aufmerksamkeit zu richten. Alles Andere ist Tautologie, alles Andere steckt schon in den Definitionen.