Gesichtspunkt
Ich habe oben gesagt, dass es vom Gesichtspunkt abhänge, ob in einem bestimmten Gedankengang eine Definition fehlerhaft sei oder nicht; selbstverständlich denke ich dabei nicht an sachliche Fehler, an tatsächliche Albernheiten, sondern an Formfehler, wie sie von der Schullogik hergebrachterweise aufgezählt werden. Von der Tautologie habe ich schon gesprochen, weil sie die Definition selbst ist. Aber sogar die ewig wiederholte Regel, dass ein Begriff durch seinen Gattungsbegriff und seinen Artunterschied definiert werde, ist ein nebelhafter Satz. Denn er gilt nur, wo die Begriffe sich auf eine anerkannte Klassifikation der Wirklichkeit stützen können, in einigen Gebieten der Naturgeschichte zum Beispiel. Sonst kann man je nach dem Gesichtspunkte Gattungsbegriff und Artunterschied miteinander vertauschen. Das gilt für alle abstrakten Begriffe, auch für die der Physik. Schon Leibniz hat darauf hingewiesen; aber trotzdem er den Begriff "Gesichtspunkt" in die Philosophie eingeführt hat, hat er die Tragweite dieses Begriffs für unser Denken noch nicht erkannt. Ob ich definiere "der Schmeichler lobt lügnerisch'" oder "der Schmeichler lügt lobend" hängt doch offenbar davon ab, ob ich die Aufmerksamkeit auf das "Lügen" oder auf das "Loben" lenke, ob ich den Schmeichler angreifen oder verteidigen will. Beide Definitionen sind richtig, je nach meinem Standpunkt; und ob sie gut gewählt sind, hängt nicht von der Logik ab, sondern von der Rhetorik, Welche doch eher eine Sammlung von Diebskniffen ist als eine Wissenschaft.
Es ließe sich leicht ausführen, dass der Gedankengang dazu führen kann, in einer Definition die Aufmerksamkeit auf den Punkt zu lenken, der den Schulfehler der zu großen Weite, der Enge oder der Abundanz ausmacht. Eine Definition ist ja nur die Besinnung auf den Begriffsinhalt; wenn wir nun Veranlassung haben, unsere Aufmerksamkeit auf zwei Merkmale zugleich zu richten, deren eins vom andern abhängt (z. B. Parallelen sind Linien, die gleiche Richtung und voneinander gleichen Abstand haben), so ist es ein schnelles, aber kein fehlerhaftes Denken. Selbst die berüchtigte Zirkeldefinition ist, genau betrachtet, nur eine verhüllte Tautologie und als solche nicht ein Fehler im Denken, sondern ein Muster des Denkens überhaupt, das eben nichts Anderes ist als Sprache oder Tautologie. Man schlage die Definitionen der wirklich praktischen Handbücher auf, wo man wolle, überall wird es von Zirkeldefinitionen und Tautologien wimmeln. Immer wird es heißen: Ein Dampfer ist ein Schiff, das durch Dampfkraft bewegt wird. Nur wo der Verfasser nach der Logik schielt, wird er die Tautologie künstlich vermeiden — wie ich es oben in der verbesserten Definition des Dampfschiffs tat — und der Leser wird einige Mühe haben zu einer Vorstellung zu kommen: zur Tautologie.
Man hat die Definitionen seit jeher (das heißt seit etwa zweitausend Jahren) nach verschiedenen "Gesichtspunkten" verschieden eingeteilt; und die Logiker haben auf diese Einteilungen viel haarspaltenden Witz verschwendet. Uns ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass diese Einteilungen nicht die Definitionen verschiedener Begriffe angehen müssen, sondern verschiedene Definitionen desselben Begriffs. Freilich hat schon der große Duns, der Doctor subtilis (später bedeutete der Name im Englischen [dunce] und Deutschen einen Dummkopf), die Behauptung aufgestellt, unter allen möglichen Definitionen müsse eine die richtige, die wesenhafte (ousiades, essentialis) sein, genau so, wie Sigwart behauptet, über dem populären landläufigen Begriff müsse ein höherer, logischer Begriff zu finden sein. Ja wohl, wir hätten die einzig richtige Definition unserer Begriffe von den Dingen, wenn wir nur wüßten, was das Wesen der Dinge ist, wenn wir die Welt anders verstünden als durch unsere Sprache. Dann aber freilich, wenn wir die Welt verstünden, würden wir eben nicht sprechen und nicht definieren, sondern grenzenlos, undefinierbar schweigen wie die Natur.