Einteilung der Begriffe
Bevor ich an die kritische Betrachtung der einfachen Sprachteile gehe, welche man etwas zu feierlich die Urteile genannt hat, muß ich von der Definition noch einmal zum Begriff zurückkehren. Ich habe vorhin vorausgenommen, dass all unser Denken, wie es von der Logik in Urteil und Schlüssen wie ein Pfauenrad auseinandergefaltet wird, schon in den Begriffen oder Worten enthalten ist oder wenigstens in ihrer Definition, das heißt in der Besinnung auf ihren Inhalt. Es dürfte sich daraus ergeben, dass auch unsere Denkfehler auf Definitionsfehler zurückzuführen seien. Und da wir es hier mit groben Albernheiten gar nicht zu tun haben wollen, da wir bloß die verhüllten Denk- und Definitionsfehler beachten wollen, da wir endlich die hergebrachten Schulfehler der Definition als der Definition "wesentlich" erkannt haben, als relativ richtige Zeichnungen von verschiedenen Gesichtspunkten aus: so werden wohl auch die Fehler unseres Denkens oder Sprechens — von den groben Albernheiten abgesehen — im Wesen des Denkens oder Sprechens liegen. Und ich scheue mich nicht, das erschreckliche Ergebnis meiner kritischen Betrachtung der Logik schon hier auszusprechen: Wie die Begriffe nebelhaft sind und nicht in zwei verschiedenen Gehirnen an die gleichen Sinneseindrücke erinnern, wie darum die Menschen einander niemals auf die Wirklichkeit hin verstehen können, so wechselt in einem und demselben Gehirn der bewußte Begriff, die Definition, die Besinnung auf seinen Inhalt, je nach Zeit und Umständen, und so wird in einem und demselben Kopfe die Rede oder der Gedankengang ungenau, zitternd, verschwimmend wie ein Nebelbild. Wer sich gegen das Entsetzen gerüstet hat, um daraufhin selbst unsere besten Schriftsteller zu prüfen, der wird bescheiden denken lernen von den Zielen wissenschaftlichen Fortschritts, und nur eine übermächtige Illusion wird ihn verhindern, die Feder wegzulegen.
Gleich zu Anfang von "Werthers Leiden" erzählt Goethe-Werther, er habe ein kleines ländliches Genrebild gezeichnet: "ich setzte mich auf einen Pflug, der gegenüberstand, und zeichnete die brüderliche Stellung mit vielem Ergötzen." Wenige Seiten später spricht er von dem Pfluge, "den ich neulich gezeichnet hatte". So konnte es selbst einem Goethe zustoßen, und in einer so anschaulichen Sache, dass er von einem neuen Standpunkte aus den Pflug gesehen und gezeichnet zu haben glaubte, den er vom ersten Gesichtspunkte, als er nämlich auf ihm saß, nicht anschauen und nicht zeichnen konnte. Dieser kleine Schnitzer des großen Goethe — ich habe ihn schon in anderer Verbindung erwähnt — scheint mir symbolisch dafür, wie die Begriffe nach "Gesichtspunkten" in unserem Denken sich verschieben, wie plötzlich vor die Augen kommen kann, was vorher hinten war.
Aber mein Hinweis auf die Definitionsfehler ist unvollständig. Wenn wir uns durch irgend einen Ruck unserer Begriffe bewußt werden, so besinnen wir uns nicht immer auf ihren Inhalt, sondern oft auch auf ihren Umfang. Dieser psychologische Vorgang, den die Schullogik nicht recht unterzubringen weiß, ist eine Art Experiment, eine Probe auf die Richtigkeit der Definition. Man nennt diesen Vorgang die Division oder die Einteilung. Hier ist es für das blödeste Auge klar, dass der Einteilungsgrund immer subjektiv ist und je nach dem Gesichtspunkt wechselt. Jedes Merkmal des Begriffs kann einen richtigen Einteilungsgrund abgeben. Ich kann die Dampfschiffe in Rad-, Schrauben- und Prallschiffe, ich kann sie in See- und Flußdampfer, ich kann sie in Fracht-und Personendampfer, dann wieder nach der Art der Fracht (Kohlendampfer usw.), nach der Art der Personen (Auswandererschiffe usw.), ich kann sie nach ihrem Tonnengehalt, ich kann sie richtig nach jedem Gesichtspunkt einteilen. Und ich kann die Einteilung der Unterarten wieder nach Gesichtspunkten fortsetzen. Die Einteilung nach einem festen Schema, so dass z. B. jedesmal genau zwei oder genau drei Unterarten angenommen werden (Dichotomie, Trichotomie), ist eine heillose Spielerei, die die Wirklichkeit nach dem Prokrustesbett unseres armseligen Räuberverstandes strecken oder verkürzen will. Die Trichotomie insbesondere hat bei Hegel zu der unsinnigsten Verachtung der Natur geführt, was denn auch den stupenden Schulmeister der dialektischen Methode zu der ungeheuerlichen Klage veranlaßt hat, "die Naturerscheinungen bleiben zuweilen hinter dem Begriffe zurück". Ja wohl, wenn der Begriff sich von der Natur verirrt hat und sich dann eigensinnig darauf versteift, er wäre ihr voraus und sie müsse zu ihm kommen.
Was nun die Einteilungsfehler anlangt, so steht es um sie nicht anders als um die Definitionsfehler. Sie verstoßen alle, so wie sie in der Schullogik aufgezählt werden, gegen die Forderung, die ideale Forderung, dass die Unterabteilungen ganz genau die nächst höhere Sphäre ausfüllen sollen und dass sie einander nicht kreuzen dürfen. Solche Einteilungen sind selbst in der Naturgeschichte nur dann möglich, wenn man die Begriffe vorher (eben nach der künftigen Einteilung schielend) zurecht gezerrt hat. In der komplizierten Wirklichkeitswelt oder gar in der Welt der abstrakten Begriffe gehören die Fehler zur Natur der Einteilung. Ich kann den Begriff Käse einteilen in Fettkäse und Magerkäse und habe dann die Rahmkäse, die Sauermilchkäse und die Molkenkäse übersehen. Und sollte ich diese Grenzbegriffe säuberlich mit aufgezählt haben, so gibt es wieder andere Übergänge, die ihr Recht verlangen. Ebenso wird es mir mit der Untereinteilung der Fettkäse ergehen, auch der ehester wird unbestimmbare Grenznachbarn haben, und im kleinsten wie im größten wird die Wirklichkeit durch die zu weiten Maschen der Sprache hindurchfallen, wird der Weltkatalog ein nebelhafter Traum bleiben. Und wie es ein natürlicher Einteilungsfehler ist, die Käse in Fettkäse und Magerkäse zu scheiden, ebenso natürlich sinnlos teilen wir die Menschen in gute und böse, unsere Gedanken in wahre und falsche; und wir vermissen die Einteilungsgründe vollends, wenn wir unter die "gute" Abteilung die Fettkäse und die wahren Gedanken rechnen.
Der idealen Forderung einer logischen Einteilung kann die arme Sprache nicht entsprechen. Die Oktave umfaßt. wenn man den Wolf heulen ließe (wie die alten Musiker sagten), eine unendliche Reihe verschiedener Töne, von denen wir durch Zeichen nur sieben oder zwölf unterscheiden; ebenso gehen vom Rot des Farbenspektrums bis zum Violett unendlich viele Farbentöne, und wir unterscheiden durch Wortzeichen genau doch nur sechs oder sieben. So ist die Einteilung von der Sprache abhängig. Man wende mir nicht ein, dass nach der geltenden Physik gerade die besonders benannten Töne einfachen Verhältnissen ihrer Schwingungszahlen entsprechen, dass demnach die Wirklichkeitswelt eine Analogie zur Sprache besitze. Es leugnet ja nur ein Narr, dass die Dinge-an-sich ihren Erscheinungen irgendwie analog seien.
Abgesehen aber davon, dass in der Musik wenigstens nur die Verhältniszahlen natürlich, die Schwingungszahl des Normaltons aber willkürlich ist (kein Mensch wird behaupten, dass der von der französischen Regierung festgesetzte Diapason oder Kammerton, die Zahl von 870 Schwingungen in der Sekunde, eine natürliche Zahl sei), — so würde die Physik ja nur lehren, aus Welchem Grunde die sieben Töne und Farben leichter zu merken, das heißt zu benennen sind als die unendlich vielen anderen. Vielleicht rühren wir sogar bei dieser Einteilung von Tönen und Farben an das Geheimnis der Sprachbildung und zugleich an das Geheimnis der Naturentwickelung. Vielleicht sind es ähnliche Verhältnisse, die die Typen unserer Pflanzen und Tiere vor der unendlichen Reihe möglicher Pflanzen und Tiere auszeichnen, vielleicht nähern wir uns heute wirklich wieder der Lehre des Pythagoras, dass nämlich die Wirklichkeitswelt auf harmonischen Zahlenverhältnissen beruhe, vielleicht sogar ist die Bequemlichkeit, die wir als furchtbar prosaische Auflösung des Gedächtnis- oder Denkrätsels vermuten, nur eine den Menschenverstand beherrschende Erscheinung der Bequemlichkeit der Natur. Aber all diese lächerlich furchtbaren Möglichkeiten bringen die Tatsache nicht aus der Welt, dass Farbe und Ton in Wirklichkeit unendlich viele Nuancen haben, dass unsere Sprache sie aber nur in armselige sieben oder zwölf Farben und Töne einzuteilen vermag.