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Adhémar "Révolutions de la mer"

Dieser ethnographischen Deutung der Eiszeit lege ich die gewaltige Hypothese von Adhémar zugrunde. Sie ist dargestellt in seinen französisch klar und elegant geschriebenen "Révolutions de la mer" (2. Aufl. 1860) und in Deutschland seltsamerweise nicht berühmt geworden, trotz eines guten Auszugs von 0. Möllinger (Westermann, 1867). Adhémar hält sich an die astronomischen und geologischen Fragen und gedenkt kaum einmal des dérbâcle für die Menschen (S. 78). Er erklärt anschaulich, dass die Präzession der Tag-und Nachtgleichen den Turnus von 21 000 Jahren berechnen lasse, dass in der einen Hälfte dieses Zeitraums die südliche Erdhälfte, in der anderen Hälfte dieses Zeitraums die nördliche Erdhälfte stärker erwärmt wird, und dass die Summierung der kleinen Differenzen im Laufe der Jahrtausende bis zu Veränderungen führt, die — wie ich hinzufügen möchte — für das Sonnensystem gleich Null sind, für die Erdoberfläche Massenverschiebungen, für die Menschen aber Revolutionen von phantastischer Ungeheuerlichkeit. Adhémar erklärt die Eiszeiten nämlich nicht etwa aus der bloßen Tatsache der größeren und geringeren Erwärmung. Er nimmt die Erscheinung zu Hilfe, dass während einer Periode von 10½ Jahrtausenden der kältere Erdpol eine so ungeheuerliche Masse Eis um sich versammelt, dass dadurch die Verschiebung des Schwerpunktes der Erde erfolgt. Die Verschiebung will Adhémar auf mehr als 1½ Kilometer berechnen. Diese Verschiebung des Schwerpunktes wieder hat ganz mechanisch die unverhältnismäßige Ansammlung von Wasser auf der kälteren Erdhälfte zur Folge, wie wir sie jetzt, das heißt nach etwa 11 000 Jahren, auf der südlichen Hälfte jedes Globus im Bilde sehen können. Seit mehr als 600 Jahren ist der Gipfelpunkt der Erwärmung unserer Erdhälfte überschritten, so zwar, dass im Jahre 6498 die beiden Erdhälften bereits gleichmäßige Jahresmengen von Wärme erhalten werden und von da ab der südlichen Hemisphäre das Übermaß an Wärme zufallen wird. Dann werden die südlichen Eismassen allmählich zusammenschmelzen und die nördlichen sich anhäufen. Der Schwerpunkt der Erde, der jetzt 1½ Kilometer südlich vom Mittelpunkt der Erde liegt, wird allmählich mit dem Mittelpunkt zusammenfallen und dann weiter nach dem Nordpol zu vorrücken. Infolgedessen werden nach den einfachen Gesetzen der Mechanik die Wassermassen der südlichen Erdhälfte sich über die nördlichen ergießen, um Australien und Südamerika herum werden Kontinente aus dem Meere steigen, die Ebenen Europas wie die Niederlande und Dänemark, die größten Teile von Deutschland, Frankreich und Rußland werden für Jahrtausende überflutet werden und in Zusammenhang damit werden wieder ungeheure Gletschermassen von den Gebirgen Europas in die Täler sich herabwälzen und die Seen der Schweiz und Italiens bedecken wie schon in der letzten Eiszeit. Die unmerkliche Abkühlung seit den letzten 600 Jahren, genauer seit dem Jahre 1248, will man bereits urkundlich belegen können durch die Tatsache, dass aus früheren Jahrhunderten Besitzrechte in der Schweiz nachgewiesen worden sind, welche sich auf Gegenden beziehen, die jetzt bereits unter Gletscher liegen. Noch merkwürdiger ist der Umstand, dass die Südküste von Grönland im 10. und 12. Jahrhundert, ja auch noch im 13. Jahrhundert leicht zugängliches Kulturland war, dem päpstlichen Stuhle zu Rom durch den Grönländer Bischof einen reichen Peterspfennig zahlte und dann im Laufe der Jahrhunderte aus der Kulturgeschichte verschwand, um neuerdings wieder entdeckt zu werden. Als besonders wichtig muß hervorgehoben werden, dass Adhémar, als er seine Theorie zuerst aufstellte, die eigentlich wissenschaftlichen Beweise für die Existenz einer Eiszeit oder gar zweier Eiszeiten noch nicht kannte. Er verfügte erst über die damals neue Lehre von den Bewegungen der Gletscher. Erkennt man aber das Überzeugende in Adhémars Hypothese an, so scheint es mir kleinlich — ich möchte fast sagen kurzsichtig —, sich mit einer oder mit zwei Eiszeiten zu begnügen und nicht einen richtigen Turnus anzunehmen. Es versteht sich dann von selbst, dass auch die dunklen Erinnerungen an eine Sintflut ihre neue Erklärung finden, dass aber auch die Sintfluten durch diese Hypothese zu Erscheinungen werden, welche alle 10 000 Jahre wiederkehren, also alltäglich für die Geschichte der Erde, welche nicht die Geschichte eines armen kurzlebigen Menschenvolkes ist.

Das ungeheure Bild dieses Kampfes der Völker, die sich um sonnendurchwärmte Erdflecke rauften wie Schiffbrüchige um eine Planke, dieses Bild der Vorzeit braucht nicht aufgegeben zu werden, wenn die Hypothese Adhémars sich als falsch herausstellen sollte. An epochalen Änderungen im Klima der Erde ist nicht mehr zu zweifeln. Es scheint sicher, dass die Erdachse nicht so fest ist, wie die physikalische Theorie von der UnVeränderlichkeit freier Achsen in regelmäßigen rotie-den Körpern gelehrt hat. Die Tatsache, dass auf Spitzbergen Steinkohlen vorhanden sind, die wahrscheinliche Annahme, dass die Pflanzen, aus denen sich diese Steinkohlen gebildet haben, einst dort im hohen Norden gewachsen sind, die Annahme endlich, dass die Steinkohlenflora Spitzbergens und die Sachsens die gleiche sei, dass also das Klima auf Spitzbergen und in Mitteleuropa in einer Steinkohlenzeit irgend einmal ähnlich gewesen sein müsse — all das wird von den Fachgelehrten anerkannt und so erklärt: dass die Erdachse ihre Stellung im Erdballe geändert habe. Ein Widerspruch gegen die Lehre von der Unveränderlichkeit der freien Achse besteht nicht. Die Erde ist nicht ein regelmäßiges und starres Ellipsoid, sondern ein unregelmäßiger und plastischer Körper. "Hiernach lag zur Zeit der archaischen Periode die Gegend von Neuseeland ungefähr am Nordpol." (Ich entnehme den Satz wie die anderen Angaben dem Aufsatze "Astronomie und Botanik" von K. R. Kupffer, in der "Umschau"', VIII, 15 u. 16, ohne mir seine Vorstellung von einer bestimmten "archaischen Periode" anzueignen.) Die neuesten astronomischen Beobachtungen (vor wenigen Augenblicken erst begonnen, vor 25 Jahren nämlich) scheinen eine Bewegung des Nordpols der Beobachtung zuzuführen, eine minimale Bewegung freilich, die sogar zum Teil periodisch in sich zurückkehren soll, die aber doch einen unperiodischen Rest hat. Man will diesen Bewegungsrest auf den winzigen Weg von etwa einer Bogensekunde im Jahrhundert berechnet haben. Die Änderung ist groß genug, um eine Verschiebung des Nordpols um 50° in 18 Millionen Jahren zu schaffen. Ich lasse ganz beiseite, was K. R. Kupffer aus der Wanderung bestimmter Pflanzenarten an Hilfschlüssen zieht. Ich wollte nur zeigen, dass auch ohne die Hypothese Adhémars die neue Forschung Revolutionen der Erde erkennt, von denen sich die sprachwissenschaftliche Ethnographie nichts hatte träumen lassen. Ich kehre zu der Hypothese der periodischen Eiszeiten zurück.

Ich weiß wohl, dass der Wohnsitz sprechender Menschen auf unserer Erde während der Zeit, da das große Pendel der Erdachse im Rhythmus von 21 000 Jahren hin und her schwang — wer weiß wie oft —, nicht nachgewiesen ist, dass die Vorstellung von einer Reihe von Eiszeiten eine Phantasie oder Hypothese bleiben muß. Aber die Vorstellung braucht nicht falsch zu sein, weil sie nicht nachgerechnet werden kann. Es wäre für die Geologen nicht möglich, bei so großen Zwischenzeiten die einzelnen Eisepochen auseinander zu halten. Was aber die Ungeheuerlichkeit der Ziffern betrifft, so scheint sie nur demjenigen so, der — bewußt oder unbewußt — an die wenigen Jahre der biblischen Legende denkt. Eine Folge von zehn Eisperioden, zu 21 000 Jahren, welche der Ziffer nach etwa mit der Rechnung Lyells zusammenträfe (rein zufällig), könnte nur für die orthodoxe Vorstellung etwas Erschreckendes haben. Aber so eine Viertelmillion Jahre ist doch nur eine kurze Spanne Zeit, wenn man sie vergleicht mit den Zeiträumen, welche die Geologie für die Abkühlung und Festigung des Erdballs und für die Entwicklung der Organismen auf der Erdkruste annehmen muß. Warum nun plötzlich diese Schüchternheit, wo es sich um Entwicklung des Menschen handelt?

Ich will es versuchen, gerade auf dem Gebiete, um dessen willen uns das Alter der sprechenden Menschen auf Erden zuerst beschäftigt hat, die Vorstelllung eines hohen Alters zu wecken. Nur muß man von mir nicht Ziffern verlangen! Nur muß man mit mir glauben, dass die Langsamkeit der Entwicklung für die Menschen keine Schande und keine Ausnahme ist. Schreckt man doch vor den wildesten Zahlen nicht zurück, wenn von leblosen Dingen wie der Wärmeabnahme der Sonne die Rede ist, oder von "unvernünftigen" Tieren, wie von der Entwicklung einer Art.