Skepsis
Kehren wir nun dahin zurück, wo wir die Entwicklung der ethnographischen Sprachwissenschaft verlassen haben. Auf die kurze Zeit des festen Glaubens an einen bestimmten Stammbaum und an einen bestimmten Reiseweg des Urvolks kamen die Jahre des Zweifels. Wir wollen nun zusehen, wie die Forschung gegenwärtig methodisch vorgeht. Immer noch wird die Existenz einer indoeuropäischen Ursprache zum Ausgangspunkt genommen, aus dem "methodischen" Grunde, weil sonst die gesamte Sprachwissenschaft aus den Fugen ginge. Der einen Ursprache entspricht natürlich ein Urvolk. Aber man nimmt diese Voraussetzung nicht mehr wörtlich. Man hat aus den Sanskritquellen nachgewiesen, dass das indoeuropäische Volk der Inder aus irgend einer Mischung hellhäutiger Arier mit schwarzhäutigen Eingeborenen (Dasyu) hervorgegangen sei, und gibt zu, dass ähnliche Mischungen auch in Europa stattgefunden haben mögen.
Schon Schrader hat energisch darauf hingewiesen, dass wir mit einer sentimentalen Bewunderung, wie sie im Übermaß auf den Sprachbau des Sanskrit angewandt worden ist, nicht weiter kommen. Es sind das im Grunde ästhetische, höchst subjektive Gesichtspunkte. Mit demselben Rechte könnten die Chinesen oder Semiten ihre Sprache für den Ausdruck eines geistigen Höhepunktes erklären. Auch die Weiterentwicklung der angeblichen Ursprache in den indoeuropäischen Volkssprachen ist so gewesen, dass man eine Beziehung zwischen Formenbau und geistiger Blüte nicht gut behaupten kann. Die englische Sprache hat die alten Bildungsformen fast völlig verloren, und doch haben Shakespeare und Newton englisch gesprochen oder gedacht.
Auch sonst ist man skeptischer geworden, als man es noch vor dreißig und zwanzig Jahren war. Kein ernsthafter Forscher denkt mehr daran, die Ursprache in dem Sinne wiederherstellen zu wollen, dass eine Sprache erschlossen würde, die irgend wo von irgend wem gesprochen worden wäre. Delbrück sagt (Einleitung) fast boshaft: "Die Ursprache ist nichts als ein formelhafter Ausdruck für die wechselnden Ansichten der Gelehrten über den Umfang und die Beschaffenheit des sprachlichen Materials, welches die Einzelsprachen aus der Gesamtsprache mitgebracht haben." Der Satz würde das Ergebnis meisterhaft bezeichnen, wenn nicht in den Worten "Gesamtsprache" und "mitgebracht" wieder legendarisches Beiwerk enthalten wäre. Die neueste Forschung sucht sich nun trotz dieser Skepsis dadurch zu helfen, dass sie bloß auf die Erschließung der Urform ähnlicher Wörter verzichtet, dass sie aber die Verwandtschaft solcher Wörter nach wie vor als bestehend annimmt und dass sie einen Bedeutungswandel der Urzeit kaum in Betracht zieht. Die alte Hypothese vom Urvolk und seinen Wanderungen besteht heimlich in alter Kraft; denn wo bei verschiedenen Völkern dasselbe Ding (mitunter auch nur Dinge aus ähnlichen Gruppen) mit irgendwie anklingenden Worten bezeichnet wird, da springt sofort der Schluß hervor: die Völker hätten das Ding schon vor ihrer "Trennung" gekannt. Aus einer Anzahl solcher Schlüsse wird die Wanderung und Trennung der Völker gefolgert, nachdem dieselbe Trennung und Wanderung jedem einzelnen Schlüsse zugrunde lag. Ein ABC-Fehler der Logik.