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Sprachen und Völker

Anfangs, als die Durchforschung der Sanskritsprache noch die Entdeckung hübscher Wortgleichungen gestattete, begnügten sich die Forscher mit diesem immerhin lohnenden Vergnügen. Als dann die ähnlichen Worte gesammelt waren und auch mit Hilfe der berühmten Lautgesetze nicht mehr allzuviel zu holen war, warfen sich die scharfsinnigsten Gelehrten auf die Morphologie der "verwandten" Sprachen; die Arbeit, Ähnlichkeiten und Verwandschaften zwischen den Flexionssilben und den grammatischen Kategorien aufzufinden, war eine noch größere, und darum schien das daraus erwachsene Vergnügen auch höherer Art zu sein. Zur Beruhigung des armen Verstandes führte diese Tätigkeit jedoch nicht, der Ruhepunkt war nicht gefunden.

Heute müssen die besonneneren Fachleute eingestehen, dass die ethnographischen Ergebnisse der Sprachwissenschaft sich mit den ethnographischen Ergebnissen der naturwissenschaftlichen Anthropologie nicht decken. Es werden indogermanische, semitische und turanische Sprachen von Völkern gesprochen, die dem gleichen Rassentypus angehören; umgekehrt sind die Sprachen z. B. der Ungarn und Lappen miteinander verwandt, nicht aber diese Völker nach ihrer Rasse. Derartige Tatsachen allein lassen die neuere Klassifikation der Völker nach ihren Sprachen als eine bei aller Gelehrsamkeit durchaus dilettantische Arbeit erscheinen. Die Sache liegt so, dass man die Völker und Sprachen vorerst nach Merkmalen, die handgreiflich seit Jahrhunderten jedem Reisenden zu Gebote standen, provisorisch eingeteilt hat, z. B. nach der Hautfarbe und nach der geographischen Lage der Völker. Diese provisorische Klassifikation mußte sich nun bald als ungenau erweisen; aber die genaueren anatomischen Beobachtungen der Völkerrassen und die bessere Beobachtung des Sprachbaues führten nicht zu den gleichen Änderungen an der provisorischen Klassifikation, und so ist diese Disziplin in ihrem Fortschreiten in einer beständigen Verlegenheit. Insbesondere die letzte Frage, ob nämlich alle Menschen, also auch alle Sprachen, von einem einzigen Urvolke abstammen — von einem Menschenpaare, würde ein bibelgläubiger Engländer sagen — ist durch die Sprachwissenschaft nicht um einen Schritt weiter zu bringen. Whitney (Sprachgesch. S. 546) kommt zu einem vollständig negativen Ergebnis. Es klingt wie vorsichtige Ironie, wenn er seine gründliche Untersuchung mit folgenden, logischen Worten schließt: "Haben von Anfang an verschiedene Rassen bestanden, so brauchten ihre Sprachen nicht stärker voneinander verschieden zu sein, als es die tatsächlich vorliegenden Sprachen sind; stammen dagegen alle Menschen schließlich von einem einzigen Paare ab, so brauchen ihre Sprachen einander nicht ähnlicher zu sein, als in Wirklichkeit der Fall ist. Weder läßt sich aus der Sprache die Vielheit der Menschenrassen als ursprünglich, noch läßt sich auf diesem Wege das Zurückgehen derselben auf eine ursprüngliche Einheit dartun."

Diese letzte Frage nach dem einheitlichen Stammbaum der Sprachen und Menschen ist aber nicht nur in allen Beantwortungen, sondern in der Aufstellung der Frage selbst antiquiert, mag auch neuerdings wieder Trombettis totgeborenes Buch "L'unità d'origine del linguaggio" selbst von deutschen Schreibern angepriesen worden sein. Seitdem August Schleicher die darwinische Theorie auf die Geschichte der Sprachen angewendet hat, muß es allen ernsthaften Forschern klar geworden sein, dass eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Urzeiten, aus denen keine Dokumente herübergekommen sind, nicht einen Tropfen Tinte wert ist; es hätte wenigstens klar werden müssen. Da aber alle Verwandtschaftsverhältnisse bis in Urzeiten zurückgehen, so ist auch die Aufstellung von Stammbäumen für die gegenwärtigen Sprachen und Völker der Erde (auch nur auf die paar tausend Jahre der bekannten Geschichte zurück) ein recht unbefriedigendes Geschäft. Es steht aber um die Stammbäume der Sprachen womöglich noch schlimmer als um die Stammbäume der Völker.