Auf dem Nachttisch
Chesterton, ›Das Paradies der Diebe‹
Den ganzen Tag hab ich mich schon darauf gefreut: ein neuer Chesterton ist da. Und wenn mir abends die schwarze Katinka Kulicke auf weißem Linnen entgegenblühte, so könnte ich nicht freudiger ins Schlafzimmer gehen, wie nun, da der gelb-rote Band auf dem Nachttisch liegt. (Verzeih, Katinka!) Das Buch heißt ›Das Paradies der Diebe‹ und ist im Musarion-Verlag zu München erschienen. Die erste Nacht –
Die Kriminalgeschichten G. K. Chestertons, deren eine Sammlung schon im selben Verlag vorliegt: ›Der Mann, der zu viel wußte‹ – sind eigentümliche Gebilde. Algebraischen Gleichungen nicht unähnlich, gehen sie in tödlicher Sicherheit mit Null auf, nicht ein Quentchen bleibt, nichts – außer der unerklärlichen Tatsache, dass ein »einfacher kleiner katholischer Priester«, Pater Brown, untrüglich herausbekommt, wer wen wo wie bestohlen hat. Von den Morden zu schweigen. Er sagt zwar, wie er es gefunden hat, aber er sagt nicht, wie er es gefunden hat. Welche Reklame für die katholische Kirche: ihre Geistlichen sind neben allem andern auch noch Detektive, nein, natürlich Detektive.
Das Vergnügen, diese Vonhintennachvorn-Geschichten zu lesen, ist höchst reizvoll. Erst aalt man sich in der Vorfreude der Titellektüre: ›Der Kopf Caesars‹ und ›Die purpurfarbene Perücke‹ und ›Der Salat des Oberst Cray‹, lauter zu lösende Spannungsaufgaben, und nun sind nur noch zwei Geschichten übrig, und nun nur noch eine, die allerletzte – nein! eine haben wir noch nicht gelesen … Die kompliziert einfachen Lösungen sind mitunter wie eine hundertmal überdrehte Spirale. Ein Neger, der gemordet hat wie ein Marder, will ausreißen; die Häfen sind blockiert, kein Schwarzer kann ohne die gewichtigsten Legitimationspapiere hinaus. Wie also wird es er anfangen –? »›Ich bin ganz überzeugt davon, dass er sein Gesicht niemals weiß anstreichen würde. Aber was könnte er denn sonst machen?‹ – ›Ich glaube‹, sagte Pater Brown, ›er würde sein Gesicht schwärzen.‹ Flambeau stand regungslos am Geländer gelehnt da und lachte. Pater Brown lehnte auch regungslos am Geländer, hob einen Augenblick den Finger und deutete in die Richtung der maskierten Negersänger mit rußgeschwärzten Gesichtern, die am Ufer eine Vorstellung gaben.« Das ist Chesterton.
Die kleinen Geschichten sind mit den amüsantesten Einzelheiten bepackt.
Die Journalisten, die sich immer, und manchmal zu Recht, beklagen, dass sie in Dramen und Filmen so schlecht wegkommen und so falsch abgebildet werden, können sich diesmal nicht beschweren. Von einem Chefredakteur: »Sein Leben – « ich gucke keinen an – »sein Leben war eine Reihe von aufreibenden Kompromissen zwischen dem Eigentümer der Zeitung, einem senilen Seifensieder mit drei unausrottbaren fixen Ideen im Kopf und dem sehr tüchtigen stock von Mitarbeitern, den er sich zur Führung der Zeitung gesammelt hatte; einige davon waren wirklich erfahren und ausgezeichnete Leute, die sogar (was noch schlimmer war) einen aufrichtigen Enthusiasmus für die politische Überzeugung des Blattes hatten.« Und: »Er nahm … einen kurzen Bürstenabzug zur Hand, überflog ihn mit blauen Augen und einem blauen Bleistift, änderte das Wort ›Unzucht‹ in ›Ungehörigkeit‹ um und das Wort ›Jude‹ in ›Ausländer‹, läutete dann und schickte die Korrektur in die Druckerei hinauf. « Und dann ganz dick: »Ich weiß, das Wesen des Journalismus besteht darin, das Ende einer Geschichte an den Anfang zu stellen und das eine Überschrift zu nennen. Ich weiß, Journalismus besteht zum größten Teil darin, zu sagen: ›Tod des Lord Jones‹, und zwar zu Leuten, die niemals wußten, dass Lord Jones gelebt hat.« Und nun behüte uns Gott vor dem Reichsverband der deutschen Presse.
Mitunter freilich überkugelt sich die Klugheit des dicken Chesterton. Er sagt zum Beispiel von einem Mann, er erinnere in seiner Figur an eine Champagnerflasche – »und dies war auch der einzig festliche Eindruck, den der Mann erweckte«. Das ist eine wildgewordene Metapher und ein typischer Beweis für die Schwäche eines zu starken Gehirns.
Sehr lustig, wenn er fremde Nationen schildert. Manchmal sitzt es. »Sie hatten beide schwarze Bärte, die nicht zu ihren Gesichtern zu gehören schienen, nach der seltsamen französischen Mode, die es zuwege bringt, echtes Haar wie künstliches erscheinen zu lassen. Mr. Armagnac hatte der Abwechslung halber zwei Bärte … « Manchmal sitzt es gar nicht – wie lustig ist es doch für unsereinen, wenn Fremde deutsche Namen erfinden! Nie wird das was.
Übersetzt ist Chesterton durchaus glatt und sauber. Nur ist ein Übersetzer, der das Modewort ›irgendwie‹ in seine Arbeit hineinpappt, ein schlechter Übersetzer. »Ich schlug irgendwie die Fensterläden zu« – das machen Sie mal, Frau Clarisse Meitner!
Himmel, jetzt ist es halb drei, und ich habe die ganze Nacht mit Katinka Chesterton verbracht. Licht aus. Messer raus. Zwei Mann zum – Blute Nacht.
Wells, ›Menschen, Göttern gleich‹
Man lebt in Paris, um – daran ist gar kein Zweifel – deutsche Übersetzungen englischer und amerikanischer Romane zu lesen. Herrschaften, seid nicht böse; in blauer Nacht darf man es sagen: mich langweilt die französische Literatur so, dass ich mich ernsthaft frage, ob ich vielleicht die Franzosen gar nicht verstehe. Ach, geht mich das nichts an! Ach, ist das begabt und ›fin‹ und talentiert und gut gesagt und zart psychologisch und haardünn und graziös und gleichgültig. Also richtig: Wells. ›Menschen, Göttern gleich‹. (Bei Paul Zsolnay in Berlin.) Die zweite Nacht –
Eine Utopie. Das Genre ist so alt wie die Welt; denn schon im Jahre 386 vor Christo … (folgen zwei Seiten abgeschriebener Bibliographie über die Geschichte der Utopie). Abgesehen davon – eine leicht mechanische Utopie. So: die bösen Menschen sind alle böse oder doch sehr unvollkommen und kläglich – und die guten Utopianer sind alle gut und vollkommen und herrlich und überhaupt. Nicht so stark wie sonst, wenn auch, wie immer bei Wells, interessant und lesenswert; es gibt da doch etwas zu lernen. (Kein Vergleich mit der ›Zeitmaschine‹, aus der sich die selige Minna von Harbou, doch: Minna, eine Filmidee abgekurbelt hat.) Manchmal ist dieser Band von Wells wie eine mit Phantastik dünn übertünchte These. »Der richtige Weg, die Dinge anzupacken, ist gefunden worden.« Sehr schön – aber was hat das noch mit Kunst zu tun? Daneben eine Fülle herrlicher Einzelheiten. Der Held ist auf dem fremden Stern nach wundersamen Abenteuern in eine Schlucht geraten. »Ein jüngerer Mann hätte die Einsamkeit in der Schlucht wahrscheinlich sehr schrecklich empfunden, aber Mr. Barnstaple hatte Ärgeres durchlebt: die Enttäuschungen der Zweisamkeit. Er hätte gern eine letzte Aussprache mit seinen Söhnen gehabt und sein Weib beruhigt, aber sogar diese Wünsche waren vielleicht mehr sentimental als wirklich empfunden.« Vielleicht? Sicher. Übrigens wird auch Sentimentalität wirklich empfunden, aber es ist doch schön, zu sehen, wie ein fast weise gewordner Mann männlichen Empfindungen auf den Grund geht, auf dem sie stehen. Und dann ist da allerdings etwas, das mich bewegen würde, gradenwegs auf den fremden Stern zu fliegen, mich als Strahl hinaufsenden zu lassen, oder wie man das nun macht. Denkt doch nur! »Hier gab es kein Gekläff und Heulen müder oder gereizter Hunde, kein widerliches Geschrei, Gebrüll, Gequieke und keinen jämmerlichen Aufschrei ängstlicher Tiere, keinen Wirtschaftslärm, keine Wutschreie, kein Geblöke und Husten, keinen Lärm von Hämmern, Klopfen, Sägen, Schleifen, Sirenengeheul, Pfeifen, Kreischen und ähnlichem, kein Rattern entfernter Eisenbahnzüge, kein Gerassel von Automobilen oder andrer schlecht konstruierter Mechanismen; die ermüdenden und häßlichen Geräusche mancher unangenehmer Wesen waren nicht mehr zu hören. In Utopien herrschte sowohl für das Ohr wie für das Auge Friede. Die Luft, einst von unentwirrbaren Geräuschen verseucht, war jetzt gereinigte Stille.« Ach, Utopien –! Wo liegst du? Wie kann man zu dir gelangen –? Ach, Utopien.
Die Übersetzung habe ich nicht kontrolliert. Ich habe aber zu einem Übersetzer kein Vertrauen, der »moving pictures« mit »lebenden Bildern« übersetzt (S. 221). Dies dürfte ein kleiner Skandal sein. Immerhin hat es sich wohl herumgesprochen, dass diese englischen Wörter ›Kino‹ bedeuten. Wie mag das also wohl mit der Übertragung der andern Anglizismen bestellt sein?
Ferdinando Maccono, ›Zwei Märtyrerinnen der Keuschheit‹
Ich wollte nun ›Manhattan Transfer‹ meines großen Lieblings Dos Passos lesen, aber da hat sich ein Heftchen dazwischengeschoben, blutrot leuchtet es, voilà: ›Zwei Märtyrerinnen der Keuschheit‹ von einem italienischen Salesianer-Priester Ferdinando Maccono. (Verlag der Salesianer, München.) Also, das ist beispiellos.
Die Sache ist die, dass vor langen Jahren in Italien zwei kleine Mädchen: Clementina Sechhi, 14 Jahre, und Maria Goretti, 12 Jahre, an zwei verschiedenen Orten von zwei verschiedenen Männern ermordet wurden. Lustmord. Die Mörder sind hart bestraft worden; auch braucht nicht gesagt zu werden, dass sich die bejammernswerten kleinen Opfer nach Kräften gewehrt haben, als die psychologisch zu analysierenden Männer über sie herfielen. Bis dahin wäre an diesen Fällen eigentlich nichts Besonderes zu vermelden. Aber in diese winzige Blutpause, jene, in der sich das Menschentier, das Weibchen, die natürliche Scham kleiner Wesen gegen einen rohen Übergriff zur Wehr setzten, schiebt sich nun die Kirche ein, benutzt diese scheußlichen Vorfälle als herrlichen Propagandastoff und deklariert die zerfetzten armen Dinger als ›Märtyrerinnen der Keuschheit‹. Man höre diese Traktätchen-Überschriften: ›Die engelgleiche Tugend‹ – ›Demut und Bescheidenheit‹ – ›Ihre Abscheu vor dem Bösen und ihre Einfalt‹ – ›Emsige Biene‹ – ›Ein Scheusal im Hause‹ – ›Die Versuchung überwunden und mit Abscheu zurückgewiesen‹ – ›Das Martyrium‹ (das ist der Mord!) – ›Die Verherrlichung auf Erden‹. Soweit die eine. Und die andere: ›Liebe zur Mutter‹ – ›Welch brave Tochter!‹ – ›Die Taube und der Habicht‹ – ›Vorsichtsmaßregeln und Gebet‹ – ›Der Kampf und das Martyrium‹ – ›Von Stichen durchbohrt‹ – ›In der Heilanstalt von Nettuno‹ – ›Die Mittel zur Bewachung der Unschuld‹. In diesem Stil.
Ist das nicht verabscheuenswert? Ist eine größere Niedrigkeit denkbar, als kriminalistische Vorgänge, die man von allen Seiten betrachten kann, nur von einer nicht, als blutige Plakate an die Mauern zu kleben? So sieht die praktische Erziehungsarbeit der katholischen Kirche aus? Das Heft trägt die oberhirtliche Druckerlaubnis, ist also als offiziell anzusehen, und nicht als Entgleisung eines Übereifrigen. Einmal sieht aus den blutigen Tüchern ein gehörnter Fuß heraus. »Somit waren es die schlechte Erziehung, der Müßiggang und das Lesen schlechter Blätter, welche im jungen Serenelli die niedersten Leidenschaften aufweckten und ihn zu einem schrecklichen Menschenmorde verleiteten. Was muß man denken von all den Unbesonnenen, die ihn nachahmen in der Scheu vor der Arbeit, im Lesen schlechter Romane und verderblicher Blätter, in der Teilnahme an gewissen Zusammenkünften, worin man zum Hasse aufstachelt, im Besuch gewisser Kinos?« Man muß denken, dass gewisse Zusammenkünfte die Stimmenzahl des Zentrums gefährden könnten, und dass »Übeltäter der Feder und der Kunst« jene hundsgemeine Denkungsart nicht teilen, die auf die Geschlechtsteile stiert wie der Fakir auf eine goldene Nadel. Hier hat manches gute Wort für die katholische Kirche gestanden, für ihre Weisheit, ihre mitunter für Deutschland nützliche Außenpolitik (mit der es jetzt vorbei ist) – aber wenn die Erziehungsarbeit der Geistlichen so aussieht, dann lasse ich hundertmal die protestantischen Feiglinge in der Sozialdemokratie zusammenzucken und bin für Kulturkampf. Für einen Kampf gegen die Unkultur und für die Freiheit.
Chesterton, ›Der Heilige Franziskus von Assisi‹
Da sieht ›Der Heilige Franziskus von Assisi‹ eben jenes Chesterton (bei Josef Kösel und Friedrich Pustet in München) schon anders aus. Auf mich hat er wenig Eindruck gemacht; es ist das ein Buch, das den Glauben voraussetzt, zu dem es bekehren will. Ich habe es nicht verstanden; und drei Seiten aus den Reden Buddhas sagen mir mehr und erschüttern mich tiefer als das zweifellos ehrlich gemeinte Pathos des Dicken. Dazu brodelt leise in mir der Einwurf: »An ihren Werken sollt ihr sie erkennen« – und da habe ich sie dann erkannt.
Lion Feuchtwanger, ›Pep‹
›Pep‹ ist kein Verdauungsmittel, sondern ein sehr lustiger Gedichtband Lion Feuchtwangers (dessen Werke ein besonders tüchtiger Verleger am Ende noch aus dem Englischen aufkaufen wird). Das Bändchen ist bei Gustav Kiepenheuer erschienen – und ich habe sehr gelacht. Vor allem ist die Form außerordentlich gut gegossen; die langen Zeilen, die im Deutschen sehr schwer zu meistern sind, sind gut geformt, wie immer bei Feuchtwanger: saubere Arbeit. Thema: das Erstaunen des Amerikaners, dass da noch etwas andres sein müsse, außer den Dollars. Die, I beg your pardon, Seele. Die Lieder, von denen ich ums Vergehen gern wissen möchte, was wohl ein Amerikaner von ihnen dächte, sind von Jaap Kool unter Musik gesetzt. Leider ist die Ausgabe auch bebildert – das ist schief gegangen: falsch primitiv, falscher Klamauk, ich werde es in fließendem Englisch sagen: No good. Wenn das Buch einen Fehler hat, kaum zu schmecken, so sagt es eine faksimiliert wiedergegebene Zeile besser als alles andre: »Er schwitzte stark in jenen Nächten und brauchte sich wenig mit ›Hallo, dein Gewicht!‹ zu beschäftigen … « Aber als europäische Beurteilung Amerikas, die mir sonst fast überall zu milde, zu wenig selbstbewußt erscheint, ist das eine gute und lustige Sache.
Alfred Polgar, ›Ich bin Zeuge‹
Die dritte Nacht. Es kann nicht alles auf meinem Nachttisch liegen. Erstens ist er dazu zu klein; zweitens bin ich nicht der praeceptor Germaniae, und drittens ist Schweigen nicht immer Kritik in der Melodie Nietzsches, die S. J. zuletzt so sehr geliebt hat: »Schweigen und Vorübergehn«. Manchmal ist Schweigen auch: Zeitmangel, Ignoranz, Überbürdung, Mangel an den letzten, entscheidenden zehn Karat Interesse … Aber da ist ein Buch, das kommt mir nicht vom Nachttisch und nicht vom Tagtisch herunter, ein kleiner hellgrüner Band in sanfter, grauer Antiqua gedruckt. Alfred Polgar: ›Ich bin Zeuge‹ (bei Ernst Rowohlt in Berlin). Hätte ich einen Degen, ich senkte ihn. So bleibt mir nur übrig, die Schreibmaschine dreimal auf- und wieder zuzuklappen. Den Daumen nach oben! Er hat gesiegt.
Ihr kennt das alles: seine Zartheit und seine bezaubernd starke Schwäche: seine Skepsis und den Glauben an diese Skepsis, welcher aber wiederum leicht an sich selbst zweifelt, das kann man bis in die tausendste Windung fortsetzen, und er tut es auch; seine Tapferkeit und seine Unbedingtheit, wenn er vom Kriege spricht – da hat es nie, niemals eine, auch nur eine einzige Zeile gegeben, die zum Lobe der Schlächterei ausgesprochen wurde, jeder Aufsatz, der aus dieser Zeit stammt, und die vorher und die nachher sind eine einzige Verhöhnung, Verspottung, Verneinung der niedrigsten Geistesverfassung, die es gibt: der militärischen – dazu zuckt es in dem Buche von Antithesen, die funkeln, ohne dass man je die Lichtquelle entdecken könnte. Es ist ein Spiel von Nordlichtern, etwas ganz und gar einzigartiges.
Man lese etwa die Geschichte der ›Nichtbegegnung mit einer Frau‹ – das ist von einer Zartheit, dass man die Seiten streicheln möchte, auf denen das steht; einmal: »Liebe: ein privates Weltereignis« – und jeder Scherz ist von einer warmen Güte durchzogen, die ganz unverfälscht rein und süß schmeckt. »Kunst«, hat Polgar einmal geprägt, »kommt von Sein.« Gut – aber das Sein allein tuts nicht; es ist ihre Grundbedingung, – doch ohne Können ist sie nichts. (So, wie Kunst ohne Sein nicht ist.) Und der kann –! Ich kann das handgreiflich kontrollieren: wir haben nämlich einmal alle beide über dasselbe Thema geschrieben – eine Beeinflussung ist ausgeschlossen, ich bin sicher, dass Polgar meine Arbeit überhaupt nicht kennt, und ich habe die seine erst jetzt im Buch gelesen. Das Thema lag übrigens auf der Straße; nein, es ging auf der Straße. Das Thema: ›Der Herr mit der Aktentasche‹. Was er da gemacht hat: das kann ich nicht.
Wie da der Ernst des Lebens feierlich-heiter genommen wird, mit einer leisen Angst, mit einem Scherzando, in dem im Baß ganz leise die Paukenschläge rummeln … Der Mann mit der Mappe sitzt im Restaurant und ißt. »Zu Suppe, Fleisch und Süßspeise hat er die Beziehung eines Vorgesetzten zum Untergebenen … Er ist der strikte Gegensatz zu dem andern Stammgast, der ein bescheidener Untergebener seiner Mahlzeit, den vorgesetzten Braten wie den Vorgesetzten empfängt, das Auge treu und stark auf ihn gerichtet, Messer und Gabel, faustumklammert, als ehrenbezeugende Schildwachen auf den Tisch gepflanzt.« Und dann, ein Donnerschlag an ernstem Witz: das Fazit. Was ist der Mann mit der Mappe? »Er ist die Schule. Er ist das Abiturium. Er ist die Kaserne. Er ist der Richter, der die Gesellschaft vor den armen Sündern schützt. Er ist das Amt. Er ist das Büro. Er ist der Aufseher in der Katorga und der Mustersträfling in ihr … Er ist das tätige Leben, dessen Rhythmus den Unmusikalischen alle Musik ersetzt. Ich möchte aus seiner Haut eine Aktentasche haben.«
Und da erinnere ich mich, dass Polgar ›notre maître à nous tous‹ neulich von Berlin geschrieben hat: »Hier bibbert noch, wer stille steht«, und da stehe ich in meinem schönsten Pyjama auf und schwenke das Buch über meinem Kopf und rufe dreimal Hurra! Wenn es eine Gedankenübertragung gibt: der Meister wird nachts nicht schlecht aufgefahren sein. Wir sind Zeuge, wie einer Zeuge ist. »Ich schwöre … « Filigran aus Stahlfäden, Taue aus Gold und die feinste Hand unsrer Zeit.
Peter Panter
Die Weltbühne, 17.01.1928, Nr. 3, S. 92.