Pentatonik


Viele primitiv rationalisierte Tonskalen begnügen sich nun mit der Einfügung nur einer Tondistanz, regelmäßig eines Ganztons, innerhalb der beiden »diazeuktischen« Quarten: »Pentatonik«. Es scheint sicher, daß die Pentatonik, welche noch heute das offizielle chinesische System und die Grundlage mindestens einer, wahrscheinlich aber ursprünglich beider javanischen Tonskalen ist, und welche ebenso in Litauen und Schottland, Irland, Wales wie bei den Indianern, Mongolen, Anamiten, Kambodschanern, Japanern, Papuas, Fullahnegern sich findet, in der Vergangenheit der Musik eine bedeutende Rolle gespielt hat, auch bei uns. Manche unzweifelhaft sehr alte Melodien westfälischer Kinderlieder z.B. zeigen sehr deutlich pentatonische, und zwar halbtonfreie (»anhemitonische«) Struktur und das bekannte Rezept für die Schaffung volksliedmäßiger Kompositionen: nur die fünf Obertasten des Klaviers zu benutzen – welche ja ein halbtonfreies pentatonisches System darstellen –, gehört auch dahin. Für die alte gälische und schottische Musik steht die Herrschaft der »Anhemitonik« fest, für die ältere kirchliche Musik des Okzidents glaubten Riemann und, wenn auch in anderer Art, O. Fleischer ihre Spuren nachweisen zu können. Speziell die Musik der Zisterzienser, welche ihrer Ordensregel gemäß puritanische Vermeidung alles ästhetischen Raffinements auch auf diesem Gebiet pflegten, scheint pentatonisch gewesen zu sein. Ebenso findet sich unter den Skalen des jüdischen Synagogengesanges, die im übrigen auf hellenistisch-orientalischer Basis ruhen, eine einzelne pentatonische Skala.

Die Pentatonik geht nun häufig mit einer durch das »Ethos« der Musik bedingten Meidung des Halbtonschrittes Hand in Hand. Man hat daraus geschlossen, daß eben diese Meidung ihr musikalisches Motiv darstelle. Die Chromatik ist der alten Kirche ganz ebenso wie z.B. den älteren Tragikern der Hellenen und der bürgerlich rationalen konfuzianischen Musiklehre antipathisch. Von den ostasiatischen Kunstmusikvölkern sind nur die feudal organisiert gewesenen Japaner mit ihrem Streben nach leidenschaftlichem Ausdruck der Chromatik prinzipiell stark ergeben. Chinesen, Anamiten, Kambodschaner, die ältere javanische Musik (Slendro-Skala) sind ihr ebenso wie auch allen Mollakkorden gleichmäßig abgeneigt. Ob nun freilich die pentatonischen Skalen überall die älteren sind – sie bestehen nicht selten neben reicher besetzten Tonleitern –, ist nicht sicher. Die neben den vollständigen Oktavreihen zahlreichen unvollständigen Skalen der Inder haben nur zum kleinen Teil ein der üblichen Pentatonik ähnliches Aussehen. Inwieweit sie etwa doch aus Alterationen und Korruptionen pentatonischer Skalen hervorgegangen sind, steht ganz dahin. Für die meisten Fälle scheint ihr höheres Alter wenigstens gegenüber den jetzt daneben stehenden Skalen überwiegend wahrscheinlich. Auch in der Musik der Chippewah-Indianer findet sich (nach Densmores Phonogrammen) die Pentatonik gerade in den naturgemäß am reinsten erhaltenen Zeremonial-Gesängen. Wieweit bei der Festhaltung der halbtonlosen Pentatonik auch in Kunstmusiken Abneigung gegen das irrationale Halbtonintervall aus musikalischen, superstitiösen oder (in China) rationalistischen Gründen oder umgekehrt: dessen schwerere eindeutige Intonierbarkeit maßgebend war, bleibt sehr unsicher. Denn daß gerade wirklich primitive, d.h. tonal nicht oder wenig rationalisierte Musiken den Halbton meiden, ist nicht erweislich, die Phonogramme namentlich von Negermelodien zeigen eher das Gegenteil. Es ist daher neuerdings direkt bestritten, ob Pentatonik überhaupt gerade in dem Streben nach Vermeidung des Halbtonschrittes ihren ursprünglichen Grund gehabt habe, – wie z.B. auch Helmholtz annahm. Er setzte einfach ein früheres Abbrechen der Reihe der mit der Tonika in den nächsten Graden verwandten Töne in primitiven Musiken als Grund ihrer Entstehung voraus – eine, wie die Analyse primitiver Musiken zeigt, unhaltbare Ansicht. Denn sie findet sich immerhin nicht selten (z.B. bei japanischen pentatonischen Melodien: – Skala c, des, f, g, as, c´ gegen c, d, f, g, a, c´ der Chinesen, und ebenso in der – jüngeren – javanischen Pelog-Skala, welche sieben Stufen enthält, deren Gebrauchstonleiter aber fünfstufig ist) in der Gestalt, daß innerhalb der Quart gerade ein Halbtonintervall neben einer leeren Terz steht. Das findet sich jedoch gegenüber der Anhemitonik nur in der Minderzahl der Fälle – auch in der Pentatonik nordamerikanischer Indianer. In solchen Fällen würde also Pentatonik die Verwendung der drei Intervalle Quint, Quart und große Terz bedeuten, neben welchen dann nur der Halbton übrigblieb. Hier dürfte aber die Terz, wenn sie nämlich überhaupt als harmonische Terz und nicht vielmehr als ditonische Distanz zu verstehen sein sollte, sich erst allmählich durchgesetzt haben und die Ausschaltung des Ganztons sekundär sein. Den pentatonischen Musiken, soweit sie den harmonischen Ganzton, also die Differenz zwischen Quint und Quart, verwenden, ist zwar naturgemäß ein der kleinen Terz, aber in der pythagoreischen Abmessung (27/32), wie in der »reinen« Stimmung zwischen d und f, entsprechendes Intervall inhärent, infolge der Ausschaltung des Halbtons (so z.B. auch bei den Indianern), nicht aber, soviel bekannt, die große Terz, am wenigsten die harmonische Abmessung. Diese ist in wirklich primitiven Musiken selten. Vielmehr erscheint gerade das Terz-Intervall in außerordentlich vielen phonographisch kontrollierten Musiken in unreiner Form, nicht als harmonische Terz und auch nicht als – was mit den gerade bei der Terz sehr hohen Anforderungen an Reinheit, wenn Schwebungen vermieden werden sollen, einerseits, dem schnelleren Undeutlicherwerden der Schwebungen andererseits zusammenhängen könnte – Ditonus, sondern als sogenannte neutrale Terz (die nach Helmholtz auch, von gedeckten Orgelpfeifen produziert, leidlich konsoniert), und zwar in sehr unsicherer Bestimmtheit, so daß die Verwendung der reinen großen Terz in einer irgendwie »primitiven« Skala nicht wahrscheinlich ist. Es ist nun allerdings schon aus dem Grunde nicht eben wahrscheinlich, daß die Pentatonik eine wirklich »primitive« Skala darstellt, weil, soviel bekannt, überall, auch in den allerprimitivsten Musiken, eine wenigstens irgendwie dem harmonischen Ganzton naheliegende Distanz, wo aber die Quart und Quint auftreten, ganz regelmäßig diese selbst als ihre Differenz, überall die Basis der praktischen Melodik ist. Die Pentatonik setzt also anscheinend mindestens die Oktave und ihre wie immer sonst geartete »Teilung«, also eine partielle Rationalisierung voraus, ist daher nichts wirklich Primitives. Nun besteht ferner kein Zweifel, daß auch die Struktur eines pentatonisch anhemitonischen Systems an sich nicht notwendig gerade auf der Quart als Grundintervall beruhen muß. Die irische Skala z.B., wie sie 747 die Synode von Cloveshoe gegenüber dem Gregorianischen Choral als die »Sangesart unserer irischen Vorfahren« vertrat, wurde im elften Jahrhundert »akkordisch« verwendet und war dabei halbtonfrei. Und überhaupt: liest man eine anhemitonische Skala statt c, d, f, g, a, c vielmehr f, g, a, c, d, f, so enthält sie Sekunde, kleine Terz (oder pythagoreischer Anderthalbton), große Terz (oder Ditonus), Quint, Sext. Nicht Terz und Septime also, sondern Quart und Septime fehlen dann. In der Tat ist der »Sinn« der Pentatonik in dieser Hinsicht nicht eindeutig. Manche pentatonische Melodie – so viele schottische und die von Helmholtz zitierte Tempelhymne – würde, wenn wir unsere Tonalitätsvorstellungen zugrunde legen, dem zweiten Typus entsprechen. Es scheint nun in einzelnen Gebieten neben der überall unsangbaren Septime entgegen der Regel auch die Quart für Anfänger schwerer als insbesondere die Terz intonierbar zu sein, so nach Densmore bei den Indianern, nach Ferd. Hand bei Kindern in der Schweiz und Tirol. Letzteres dürfte aber eine Folge der dem Norden charakteristischen, später zu erörternden Entwicklung zur Terz sein; auch die Anhemitonik der Zisterzienser ging mit einer ihnen spezifischen Vorliebe für die Terz zusammen. Ob, wie Helmholtz andeutet, die günstigere Behandlung der, in den höheren Stimmlagen, wegen der großen Zahl der Schwebungen leichter rein klingenden Terz in der nordeuropäischen Musik auch damit zusammenhängt, daß die Frauen hier am Chorgesang beteiligt sind, von dem sie das Altertum, wenigstens auf dem Boden der großen Kulturzentren (Athen, Rom), und ebenso die spätantike, asketisch gewendete und die mittelalterliche Kirche ausschlossen, bleibt angesichts der zuletzt erwähnten Tatsache sehr fraglich. Soviel ich sehen kann, findet in den Musiken der Naturvölker die sehr verschieden gestaltete Beteiligung der Frauen am Gesang in entsprechendem Unterschied der Stellungnahme zur Terz Ausdruck (wobei allerdings zu berücksichtigen ist, daß schwerlich eindeutig feststeht, ob jeweils Terz oder vielmehr ditonische Distanz gehört wird). Im Mittelalter ist die Quart auch in der Theorie parallel mit dem Vordringen der Terz unter die Dissonanzen geraten (allerdings wesentlich deshalb, weil sie von der Theorie [vom Organum usw. abgesehen] weder in Dreiklängen, also Schlüssen, noch in Parallelbewegungen geduldet wurde, also gegenüber der Terz harmonisch benachteiligt war). Und bei den Indianern, deren Pentatonik im Absterben ist, spielen ebenfalls Terzen (kleine und neutrale) eine erhebliche Rolle. Die beiden dicht benachbarten Intervalle, Quart und Terz, scheinen also historisch in einer Art von Antagonismus gestanden zu haben – was Helmholtz mit den Mitteln seiner Theorie ( Tonempfindungen, 3. Auflage, S. 297) gut zu erklären vermochte –, so daß die Pentatonik an sich sowohl mit dem einen wie mit dem anderen zusammengehen könnte. Aber das ist aus Gründen der allgemeinen Stellung der Quart in der alten Musik nicht wahrscheinlich; denn soweit unsere Kenntnisse heute reichen, scheinen die Quint und damit auch die Quart überall da, wo die Oktave einmal »erkannt« ist, als die ersten und meist einzigen harmonisch »reinen« Intervalle aufzutreten, und hat die Quart speziell in der überwältigenden Mehrzahl aller bekannten Musiksysteme, auch solcher, die, wie das chinesische, keine eigentliche »Tetrachord«-Theorie aufgestellt haben, die Bedeutung eines melodischen Grundintervalls besessen. Die westfälischen Kinderlieder bewegen sich von dem häufigsten Mittelton (g) – dem melodischen Hauptton – typisch eine Quarte auf- und abwärts. Von den beiden javanischen Skalen hat die eine (Slendro) annähernd reine Quarte und Quinte mit einem Ton in der Mitte jeder der beiden die Oktave diazeuktisch zusammensetzenden annähernden Quartdistanzen, und auch die andere (Pelog) reicht von dem Mittelton aus in je einer annähernd reinen verbundenen Quarte auf- und abwärts, und ihre übliche Gebrauchsleiter enthält, vom untersten Ton aus gerechnet, Anfangston, neutrale Terz, Quart, neutrale Sext, kleine Septime. J. P. N. Land hält die erstere für altchinesischer, die letztere für arabischer Herkunft. Alles in allem ist doch wohl das Wahrscheinlichste die Deutung der Pentatonik als einer Kombination zweier diazeuktischen Quarten, bei welcher ursprünglich die beiden Quarten nur durch je ein Intervall geteilt waren, welches je nach der melodischen Bewegung (insbesondere, ob auf- oder abwärts) beweglich und eventuell irrational war. So könnte sich z.B. auch das javanische Pelogsystem erklären lassen, und die deutlichsten Belege für eine ähnliche Entwicklung, daß die Grenztöne der Quarten zuerst als die Grundlagen aller Intervallbestimmung unbeweglich werden, finden sich sowohl bei den Hellenen wie bei den Arabern und Persern. Von hier aus konnte die Entwicklung dann natürlich an sich ebensowohl zu einem, mit Ausnahme der Quart, irrationalen Tonsystem wie zur Anhemitonik, wie endlich zu einer Pentatonik mit Halbtönen und großer Terz oder auch – wie in vielen schottischen Liedern – mit Ganzton und kleiner Terz fortschreiten. Der als Opfermelodie sicher besonders alte t..p.. sp..de..... der Hellenen war nach Plutarch pentatonisch, und zwar offenbar anhemitonisch. Der spät, aber ersichtlich archaisierend komponierte zweite delphische Apollon-Hymnus scheint die Verwendung von mehr als drei Tönen eines Tetrachords, nicht aber den Halbtonschritt zu vermeiden. Im ganzen ist die Meidung oder Deklassierung der Halbtöne zu nur melodisch »leitenden« Distanzen doch wohl der ältere und auch wohl der weitest verbreitete »tonale« Sinn der Pentatonik, die selbst schon eine Art von Auslese rationaler harmonischer Intervalle aus der Fülle der melodischen Distanzen darstellt. In jedem Fall sind wir hier mit allen diesen Erscheinungen schon aus dem Bereich der harmonischen Intervallgewinnung, welche den Weg über die Teilung der Quinte nimmt, heraus und in das Gebiet der Skalenbildung durch bloße Auslese melodischer Distanzen innerhalb der Quart gelangt, welche der Willkür wesentlich mehr Freiheit läßt als jede harmonisch determinierte Skala. Von dieser Freiheit haben die Skalen der rein melodischen Musiken umfassenden Gebrauch gemacht. Vor allem die Theorie. Wenn man einmal von der Quart als dem melodischen Grundintervall ausging, so gab es unermeßliche, im Prinzip willkürliche Möglichkeiten ihrer mehr oder minder rationalen »Teilung« durch irgendwelche Kombination von Intervallen. Die Skalen der hellenistischen, byzantinischen, arabischen, indischen Theoretiker, die sich offenbar gegenseitig beeinflußt haben, geben solche in den allerverschiedensten Büchern an, von welchen heute schlechterdings nicht mehr feststellbar ist, inwieweit sie eigentlich jemals in der praktischen Musik verwendet worden sind. Das einzige, was dafür spricht, ist die in der orientalischen und der, offenbar auch von daher beeinflußten, byzantinischen Theorie noch häufiger und typischer als in der hellenistischen sich findende Angabe eines spezifischen »Ethos« für die einzelnen Arten der Teilung, welche vermuten lassen kann, daß in der Tat mindestens in den Kreisen, welche die damalige Kunstmusik trugen, die Effekte dieser oft höchst barocken Skalen genossen wurden. Aber auch der Umfang, in dem dies geschah, ist ganz unsicher. Soweit wirkliche Realitäten der Praxis dahinterstanden, handelt es sich wenigstens zum Teil – aber auch eben nur zum Teil – wohl um eine Art Pantheonbildung von ursprünglich lokalen Instrumentenstimmungen, daneben gelegentlich noch um Übertragungen von Stimmungen einzelner Instrumente auf andere, z.B. von Naturtönen der Blasinstrumente auf Saiteninstrumente. Beide sind dann Objekte systematischer Rationalisierung geworden. Eine ursprünglich lokale Differenzierung der melodischen Skalen tritt in den Regionalbezeichnungen der hellenischen Tonarten (dorisch, phrygisch usw.) und ebenso bei den indischen Skalen und in der arabischen Quartenteilung sehr deutlich hervor. Eine, wahrscheinlich ursprünglich durch die Übernahme von Intervallen herbeigeführte, Entwicklung verschiedener instrumentaler Herkunft des Tondistanzsystems zeigen gewisse Erscheinungen der hellenischen und arabischen Musiken.

 


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