Die Orgel
Die Orgel, ein auf der Kombination der Pansflöte mit dem Dudelsacksprinzip beruhendes Instrument, angeblich von Archimedes konstruiert, jedenfalls im 2. Jahrhundert v. Chr. bekannt, war in der römischen Kaiserzeit ein höfisches, teilweise auch ein Theaterund in Byzanz speziell ein Fest-Instrument. Die antike, von Tertullian, freilich ohne alles technische Verständnis, in den Himmel gehobene Wasserorgel, bei der das Wasser als Regulator des Winddrucks funktionierte, hätte in unsere Breiten wegen des Gefrierens des Wassers nicht eindringen können. Aber vielleicht schon vor der Regulierung durch Wasser, jedenfalls aber seit dem 4. Jahrhundert (Obelisk des Theodosius in Konstantinopel) existierte sie auch als pneumatische Orgel und gelangte von Byzanz aus in den Okzident. Auch dort war sie in der Karolingerzeit zunächst noch wesentlich eine Art von höfischer Musikmaschine: nicht im Dom, sondern im Palast von Aachen stellte Ludwig der Fromme die ihm geschenkte Orgel auf. Sie drang aber dann in die Klöster und klosterartig organisierten Domkapitel, die Träger alles musiktechnischen Rationalismus innerhalb der Kirche, [ein] und wurde dort, scheint es, – und das ist wichtig – namentlich auch für den Musikunterricht benutzt. Kirchlicher regelmäßiger Gebrauch ist erst seit dem 10. Jahrhundert bei Festen nachweisbar. Die Orgel ist im Okzident von Anbeginn an in ununterbrochener technischer Fortentwicklung. Um 1200 hatte sie etwa drei Oktaven Tonumfang erreicht. Seit dem 13. Jahrhundert finden sich theoretische Traktate über sie. Seit dem 14. Jahrhundert wird ihr Gebrauch in den großen Domen schnell zunehmend universell. Ein wirklich auch melodisch voll leistungsfähiges Instrument war sie wohl erst im 14. Jahrhundert geworden, nachdem die Windlade ihre erste rationelle Form in Gestalt der sog. »Springlade« gewonnen hatte, die Ende des 16. Jahrhunderts durch die Schleiflade ersetzt wurde. Sie konnte im frühen Mittelalter höchstens den Cantus planus mitspielen. Planvoll regulierte Mixturen waren noch ganz unbekannt und auch unnötig, da eine Beherrschung des noch nicht existierenden Gemeindegesanges nicht verlangt wurde. Noch im 11. und bis gegen das 13. Jahrhundert wurden die Töne durch Herausziehen der Tasten gebildet, und in den ältesten näher beschriebenen Orgeln mit bis zu 40 Pfeifen auf eine Taste war eine Scheidung der Töne, wie später durch die Schleifen der Windladen, noch unmöglich. Für den eigentlich musikalischen Gebrauch war gegenüber den Zugtasten das »Orgelschlagen« der zuweilen über einen Dezimeter breiten ältesten Drucktasten mit den Fäusten ein Fortschritt, obwohl die Unstetheit der Windzufuhr die Reinheit der Stimmung auch dann noch stark beeinträchtigte. Dagegen war sie, gerade in jener primitiven Verfassung, sehr geeignet – geeigneter als irgendein Instrument irgendeiner anderen Musik –, einen Ton oder einen Komplex von Tönen auszuhalten, über welchem sich eine durch Stimmen oder andere Instrumente – namentlich wohl Violen – ausgeführte Figuration bewegte, also harmonisch zu funktionieren. Es läßt sich auch deutlich erkennen, daß man bei dem Übergang zur Drucktastatur im 12. Jahrhundert und mit der zunehmenden melodiösen Beweglichkeit doch durch besondere Vorrichtungen gerade jene ältere Funktion zu konservieren suchte, bis für diesen Zweck die Doppelbordune eingeführt war. Mit Recht macht Behr darauf aufmerksam, daß eben wegen jener Funktion (nach dem Kölner Traktat de organo) der mehrstimmige Organal-Gesang nicht unter den tiefsten Orgelton herabsteigen durfte. Wie auch der Name »Organizare« für die Schaffung mehrstimmiger Sätze zeigt, ist also die Orgel (und neben ihr vielleicht das Organistrum) an der Rationalisierung der Mehrstimmigkeit sicherlich stark beteiligt. Und da die Orgel, im Gegensatz zum Dudelsack, durchaus diatonisch gestimmt war, so konnte sie sicherlich als wichtige Stütze für die Entwicklung des entsprechenden Tonempfindens dienen. Andrerseits blieb sie freilich zunächst auch rein diatonisch (nur das b molle ließ sie früh zu) und behielt, was schlimmer war, lange die pythagoreische Stimmung, versagte daher beim Terzen- und Sextengesang. Aber im 13. und vollends im 14. Jahrhundert ist mit ihrer zunehmenden technischen Entwicklung bereits ein höchst entwikkeltes Kolorieren ausgebildet. Vielleicht hat die Orgel die figurierende Polyphonie, wie sie bis zum Einsetzen der »ars nova« geradezu vorwaltete, beeinflußt. Kein Instrument irgendeiner älteren Musik war dazu in gleicher Art geeignet, und insofern muß dieser Einfluß der Orgel auf die Entwicklung der Mehrstimmigkeit sehr hoch angeschlagen werden.
Die feste Grundlage für den von jeher und zunehmend kostspieligeren Bau des immer komplizierteren, nach Erfindung des Pedals und besonders seit Anfang des 16. Jahrhunderts durch Differenzierung der Mensuren seiner Vollendung entgegengeführten Instruments bot im Okzident von Anfang an nur seine kirchliche Verwendung. In einer marktlosen Zeit war die Klosterorganisation die einzig mögliche Grundlage, auf dem es gedeihen konnte. In der ganzen Frühzeit blieb es daher ein Instrument vornehmlich des nordischen Missionsgebiets mit seinem seit Chrodegang auch in den Domkapiteln stark klösterlichen Unterbau: Papst Johann VIII. erbat vom Freisinger Bischof die Zusendung eines Orgelbauers, der zugleich, wie damals stets, als Organist zu funktionieren hatte. Orgelbauer und Organisten aber sind zunächst entweder Mönche oder doch von Mönchen oder Domherren instruierte Kloster- oder Kapiteltechniker. Als seit Ende des 13. Jahrhunderts jede ansehnliche Kirche eine Orgel erhielt, viele deren zwei, lag der Orgelbau, mit ihm aber auch ein sehr erheblicher Teil der praktischen Führung in der Entwicklung des Tonsystems, in der Hand berufsmäßiger weltlicher Orgelbauer. Sie entschieden nicht nur über die Stimmung der Orgel, sondern, da an dieser sich die Schwebungen bei unreiner Stimmung in der Tat besonders leicht feststellen lassen, weitgehend über Stimmungsprobleme überhaupt, und die Zeit des allgemeinen Vordringens und der technischen Ausgestaltung dieses Instruments fällt mit den großen Neuerungen innerhalb des mehrstimmigen Gesanges zusammen, die trotz jener anfänglichen Hemmung ohne ihre Beteiligung nicht denkbar sind.
Die Orgel war und blieb Träger kirchlicher Kunstmusik, nicht des Laiengesanges. Denn bis in eine junge Vergangenheit hat sie nicht, wie früher oft behauptet wurde, den Gemeindegesang nach heutiger Art zu begleiten gehabt. Auch nicht den protestantischen, – soweit die Protestanten nicht überhaupt, wie anfänglich die Schweizer Reformierten, die Puritaner und fast alle asketischen Sekten, auch die Orgel (eben weil sie dem Kunstgesang gedient hatte) ähnlich aus der Kirche wiesen, wie das antike Christentum den Aulos. Wie namentlich Rietschel betont hat, blieb die Orgel, auch in der lutherischen Kirche, welche ja sehr stark unter Luthers Einfluß den Kunstgesang beibehielt, zunächst das Instrument, welches diesen, im wesentlichen nach alter Art stützte oder ersetzte. Gänzlich auf die Orgel angelegte Verse, deren Text die Gemeinde im Gesangbuch nachlas, wechselten mit Kunstproduktionen des geschulten Chors. Die Beteiligung der Gemeinde selbst am Gesang schrumpfte im Luthertum, nach einem kurzlebigen Aufschwung, auf einen Umfang zusammen, welcher einen prinzipiellen Gegensatz gegen das Mittelalter oft kaum erkennen läßt. Günstiger stand es mit dem Gemeindegesang der dem Kunstgesang feindlichen reformierten Kirchen, zumal nachdem die französischen Psalmenkompositionen internationale Verbreitung gewonnen hatten. Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts stellte sich denn auch die Orgel in den meisten reformierten Kirchen allmählich wieder ein. Andererseits trat in der lutherischen Kirche Ende des 17. Jahrhunderts mit dem Vordringen des Pietismus die Katastrophe der alten kirchlichen Kunstmusik ein. Nur die Orthodoxie hielt an einem beträchtlichen Maß kirchlichen Kunstgesanges fest, und es wirkt tragikomisch, daß J. S. Bachs Musik, welche – seiner persönlichen religiösen Stellung entsprechend – trotz streng dogmatischer Gebundenheit – doch einen unverkennbaren Einschlag pietistischen Stimmungsgehaltes trägt, an seinem eigenen Wohnort von den Pietisten beargwöhnt, von den Orthodoxen gewürdigt wurde. Die Stellung der Orgel als in erster Linie den Gemeindegesang begleitendes, daneben – wie von alters her – präludierendes, die Zwischenpausen, den Ein- und Austritt der Gemeinde, den langwierigen Akt der Kommunion ausfüllendes Instrument ist also relativ jungen Datums, ebenso wie das spezifisch brünstigreligiöse Cachet, welches Orgelmusik – zumal der, rein ästhetisch angesehen, im Grunde genommen, trotz Helmholtz, barbarisch emotionale Klang der Mixturen und großen Register – für uns heute hat. Die Orgel ist dasjenige Instrument, welches am stärksten den Charakter einer Maschine an sich trägt, weil es denjenigen, der es bedient, am stärksten an die objektiv technisch gegebenen Möglichkeiten der Tongestaltung bindet und ihm am wenigsten die Freiheit gibt, seine persönliche Sprache zu reden. Sie ist in ihrer Entwicklung auch darin den Maschinenprinzip gefolgt, daß, während ihre Bedienung, welche im Mittelalter noch eine Vielzahl von Personen, vor allem von Balgtretern, erforderte – für die 24 Bälge der alten Orgel des Magdeburger Domes waren immer noch 12 »Kalkanten« nötig, für die gleiche Orgel der Kathedrale in Winchester im 10. Jahrhundert waren es noch 70 –, diese physische Arbeit zunehmend durch maschinelle Vorrichtungen ersetzt ist, und daß sie dabei auch das technische Problem des kontinuierlichen Gebläses mit der Eisenverhüttung geteilt hat. –