Grenzen der Akkordharmonik
Aber schon rein tonphysikalisch geht das akkordharmonische Tonsystem bekanntlich nicht glatt auf. Grundlage seiner modernen Struktur ist die C-dur- Tonleiter. In reiner Stimmung enthält sie, von den 7 Tönen jeder Oktave aus, nach oben oder unten 5 reine Quinten, ebenso viele Quarten, 3 große und 2 kleine Terzen, 3 kleine und 2 große Sexten und 2 große Septimen aus leitereigenen Tönen, dagegen – infolge der Verschiedenheit der Ganztonschritte – zweierlei um das sogenannte »syntonische« Komma (80/81) verschiedene Arten von kleinen Septimen (3 zu 9/16, 2 zu 5/9). Vor allem aber hat sie von da aus innerhalb der diatonischen Töne je eine Quint und kleine Terz nach oben, Quart und große Sext nach unten, welche gegenüber den reinen Intervallen um das gleiche Komma differieren und ein Verhältnis für die Quinte d – a ergeben (27/40), welches bei der Empfindlichkeit der Quinte gegen alle Abweichungen etwas »unrein« klingt. Die kleine Terz d – f ist eben unvermeidlich eine auch durch die Zahlen 2 und 3 (»pythagoreisch«) determinierte kleine Terz (3/4 : 8/9 = 27/32). Dies Versagen der Rationalisierung, welches darauf beruht, daß reine Terzen nur unter Mitwirkung der Primzahl 5 zu konstruieren sind und der Quintenzirkel also nicht auf reine Terzen führen kann, und welches daher mit M. Hauptmann als der Gegensatz der Quinten- und Terzen-Bestimmtheit gedeutet werden kann, ist auf keinerlei Weise aus der Welt zu schaffen: D und F sind die »Grenztöne« der harmonischen C-dur-Tonart.
Selbstverständlich nicht zu verbessern ist die Rationalisierung durch Mitverwendung der mit der Zahl 7 oder noch höheren Primzahlen zu bildenden Intervalle. Bekanntlich sind solche in der Obertonskala vom siebten Ton angefangen enthalten, und eine harmonische Teilung der Quart (statt wie in unserem Tonsystem, der Quint) ist durch überteilige Brüche nur mit der Siebenzahl möglich (6/7 × 7/8 = 3/4). Allein mag auch die natürliche Septime, der bei Saiteninstrumenten leicht abzudämpfende, aber auf allen Naturhörnern erscheinende siebte harmonische Oberton (= 4/7, Kirnbergers »i«, welches auch auf japanischen Stimmpfeifen vorkommen soll) mit c – e – g konsonieren – Fasch hat den Ton ja dieserhalb auch in die praktische Musik einzuführen versucht – und mag ferner auch das Intervall 5/7 (»natürlicher Tritonus«, übermäßige Quart, – das einzige auf der japanischen Laute Pipa »rein« gestimmte Intervall –) als Konsonanz wirken, und mögen endlich andere Intervalle mit sieben der ostasiatischen (7/8 Intervalle als Ganzton auf dem King, dem Hauptinstrument des chinesischen Orchesters in der untersten Oktave) und arabischen Musik und im Altertum, wenn auch vielleicht nicht, wie behauptet wird, der Musikpraxis, so doch den hellenistischen Theoretikern (diesen sogar solche mit noch höheren Primzahlen) bis in die byzantinische und islamitische Zeit und erst recht den Persern und Arabern geläufig gewesen sein –, so ist doch durch ihre Mitverwendung kein harmonisch-rationales, für eine Akkordmusik brauchbares Intervallsystem zu gewinnen. In der ostasiatischen Musik sind sie übrigens vielleicht Produkt jener von durchaus außermusikalischen Grundlagen her vorgenommenen Rationalisierung, von der noch die Rede sein wird. Im übrigen wäre aber die 7 in Musiksystemen, deren Grundintervall (neben der Oktave) nicht die Quint und Terz, sondern die Quart ist, an sich ganz legitim. Auf unserem, für die Akkordmusik bestimmten Klavier wird der siebte harmonische Ton durch die Anschlagstelle des Klöpfels, auf den Streichinstrumenten durch die Art des Anstreichens totgemacht, auf den Naturhörnern wurde er in die harmonischen Septimen »getrieben«. – Intervalle mit 11 und 13 vollends, wie sie ja die Obertonskala auch enthält und z.B. Chladni sie auch in schwäbischen Volksweisen gehört haben wollte, sind wenigstens in keiner rationalisierten Kunstmusik, soviel bekannt, rezipiert worden, während allerdings die Perser ein mit 17 gebildetes Intervall in die arabische Skala gebracht haben.
Eine Musik endlich, welche umgekehrt die Zahl 5 und damit die Verschiedenheit der Ganztonschritte eliminiert und sich auf die Zahlen 2 und 3 beschränkt, also als einzigen Ganzton den großen (mit der Relation 8/9, den »Tonos« der Griechen, das Intervall zwischen Quint und Quart (2/3 : 3/4 = 8/9) zugrunde legt, gewinnt zwar (von unten nach oben zu gerechnet) 6 reine Quinten und ebensoviele Quarten (von allen Tönen, außer von der Quart zur Septime) in der diatonischen Oktave. Sie gewinnt dadurch den gerade für rein melodische Musiken gewichtigen Vorteil, in der optimalen Möglichkeit melodiöse Bewegungen in die Quint oder Quart zu transponieren, – ein Umstand, auf welchem in starkem Maß die frühe Präponderanz dieser beiden Intervalle beruht. Aber sie eliminiert gänzlich die harmonischen Terzen, welche nur durch harmonische Teilung der Quint unter Verwendung der Zahl 5 rein zu bilden sind, und damit auch den Dreiklang, also auch die Unterscheidung der Durund Mollgeschlechter und die tonale Verankerung der harmonischen Musik im Grundton. Dies war in der hellenischen Musik und auch in den sogenannten »Kirchentönen« des Mittelalters der Fall. An die Stelle der großen Terz trat dort der Ditonus (e : c = 8/9 × 8/9 = 64/81) und an die Stelle der diatonischen Halbtöne das »Leimma« (Restintervall des Ditonus gegenüber der Quart = 243/256). Die Septime wird dann = 128/243. Die harmonische Tongewinnung machte also halt bei der ersten Teilung der Oktave, welche als durch Quint und Quart in zwei durch den »Tonos« getrennte (»diazeuktische«) – im Gegensatz zu den beiden bei c durch »Synaphe«: Identität des Endtones des einen mit dem Anfangston der anderen verbundenen (»synemene«) – symmetrische Quarttonfolgen (c – f, g – c´) zerlegt angesehen wurde. Die Gewinnung der Einzeltöne dieser Tonfolge konnte also nicht durch harmonische Teilung der Quinten, sondern als innerhalb der Quart als des kleineren von diesen beiden Intervallen, und nicht durch deren harmonische »Teilung« (die nur mittels der 7 möglich ist), sondern nach dem Prinzip der Gleichheit der (Ganzton-) Schritte (»Distanzprinzip«) vollzogen gedacht werden. Die Verschiedenheit der beiden durch harmonische Teilung entstehenden Ganztöne und die beiden harmonischen Halbtöne mußten also fortfallen. Das Leimma, die Differenz zwischen Ditonus und Quart, bildet bei dieser pythagoreischen Stimmung zwar ein mit 2 und 3 gebildetes, aber sehr irrationales Verhältnis. Ähnlich geht es bei jedem anderen Versuch einer Teilung der Quart in drei Distanzen, wie sie vielfach theoretisch gemacht worden (und in der orientalischarabischen Musik praktisch gewesen), aber ohne weit höhere Primzahlen nicht möglich und harmonisch nicht verwendbar sind.