Alte Melodik
Auf die Frage, was denn nun in vorwiegend melodisch, das heißt distanzmäßig konstruierten Tonsystemen an die Stelle der modernen »Tonalität« tritt, um ihrer Struktur feste Grundlagen zu geben, ist etwas ganz Allgemeines nicht leicht zu sagen. Die überaus geistvollen Deduktionen in Helmholtz' schönem Buche halten dem heutigen Stande des empirischen Wissens nicht mehr ganz stand. Und auch die Voraussetzung der »Panharmoniker«, daß jede, auch jede primitive Melodik doch letztlich sich aus zerlegten Akkorden aufbaut, ist gegenüber den Tatsachen jedenfalls nicht glatt durchführbar. Die streng empirische Erkenntnis der primitiven Musik andererseits gelangt erst jetzt auf der Basis der Phonogramme zu einer exakten Grundlage. Wie unsicher bei streng naturalistischem Maßstab auch diese Grundlage ist, ergibt sich, wenn man bedenkt, daß zum Beispiel bei der Analyse patagonischer Phonogramme, für ein und denselben als identisch behandelten Ton, Intonationsfehler-Spielräume von bis zu einem halben Ton angenommen werden mußten. Und die Analyse der reinen Melodik des grenzenlosen Feldes musikalischer Ausdrucksmöglichkeiten ist auch für weiter fortgeschrittene Stadien erst bruchstückweise angebahnt. Die uns letztlich am meisten interessierende Frage vollends, inwieweit »natürliche« Tonverwandtschaft rein als solche als entwicklungsdynamisches Element wirksam gewesen ist, dürfte heute selbst für konkrete Fälle von den Fachleuten nur mit großer Vorsicht und unter Ablehnung aller Generalisationen beantwotet werden können. Und vollends fraglich geworden ist die von Helmholtz in geistvoller Art begründete Rolle der Obertöne für die historische Entwicklung der alten Melodik. Was trotzdem festgestellt werden muß, ist zunächst: daß man sich hüte, die primitive Musik als ein Chaos regelloser Willkür zu denken. Das Gefühl für etwas unserer »Tonalität« im Prinzip Ähnliches ist an sich keineswegs etwas spezifisch Modernes. Es findet sich nach den Feststellungen von Stumpf, Gilman, Fillmore, O. Abraham, v. Hornbostel u.a. in vielen Indianer-Musiken wie in der orientalischen Musik und ist in der indischen unter einem eigenen Wort (Ansa) bekannt. Aber sein Sinn und seine Wirkungsweise ist wesentlich anders und auch seine Tragweite begrenzter in Musiken, welche eine melodische Struktur haben, als dies bei uns heute möglich ist. Betrachten wir zunächst die rein äußeren Charakteristiken der alten Melodik. Die musikalischen Gebilde der Weddah zum Beispiel, eines der wenigen ganz instrumentenlosen Völker, zeigen nicht nur feste, rhythmische Gliederung, eine Art von primitivem Periodenbau, typische Schluß- und Zwischenschluß-Töne, sondern vor allem – trotz der wohl überall starken Neigung der Stimme zum Distonieren – das Streben nach Festhalten der allerdings harmonisch irrationalen, zwischen einem temperierten Dreiviertelton und einem Ganzton in der Mitte liegenden, normalen Tonschritte.
Schon daß überhaupt »Tonschritte« sich aus dem, in primitiven Musiken allerdings meist eine sehr starke Rolle spielenden »Glissando-Geheul« heraushoben, ist ja nicht so selbstverständlich, wie es uns heute scheint. Die Schrittmäßigkeit der Tonbewegung ist wohl einerseits durch die Wirkung des Rhythmus auf die Tonbildung zu erklären, welche ihr stoßweisen Charakter verlieh, daneben auch durch die Einwirkung der Sprache, auf deren Bedeutung für die Entwicklung der Melodik hier kurz einzugehen ist. Freilich gibt es Völker, welche – wie die Patagonier – ihre Melodie heute ausschließlich auf sinnlose Silben singen. Aber dies ist nachweislich auch bei ihnen nicht das Ursprüngliche. Artikulierte Sprache aber bedingt artikulierte Tonbildung überhaupt. Unter Umständen konnte die Sprache noch auf anderem Weg ganz direkten Einfluß auf die Gestaltung der Melodieführung gewinnen. Dann nämlich, wenn sie eine sog. »Tonsprache« war, bei welcher die Bedeutung der Silben je nach der Tonhöhe, in welcher sie gesprochen werden, wandelbar ist. Klassischer Repräsentant dafür ist das Chinesische, von den phonographisch kontrollierten primitiven Völkern gehören die Ewhe-Neger dahin. In diesem Fall mußte die Gesangsmelodie sich dem Sprachsinn in einer sehr spezifischen Art anschmiegen und scharf artikulierte Intervalle schaffen. Ähnliches galt auch für diejenigen Sprachen, welche zwar nicht »Tonsprachen« sind, aber den sog. »musikalischen Akzent« (»pitch accent«) im Gegensatz zum »dynamischen« (exspiratorischen »stress accent«), d.h. statt Tonverstärkung Tonerhöhung der Akzentsilbe haben, wie dies für das antike Griechische und – weniger bestimmt – auch für das antike Lateinische gilt, obwohl die Existenz des musikalischen Akzents auch für das Griechische neuerdings nicht mehr unbedingt unbestritten ist. Von den antiken Musikmonumenten folgt nun das älteste, sicher datierbare: der erste delphische Apollon-Hymnus (wie Crusius seinerzeit sofort feststellte) und ebenso ein archaisierender Hymnus des Mesomedes in der Bewegung der Melodie in der Tat dem Sprachakzent, die anderen aber nicht. Und auch bei den Ewhe-Negern bildet, trotzdem ihre Sprache Tonsprache ist, die Einhaltung der Sprechtonbewegung durch die Melodie keine wirklich allgemein streng durchgeführte Erscheinung. Von der Seite der Musik her mußte ja die Neigung zur Wiederholung des gleichen Motivs auf andere Worte, von der Seite der Sprache her jeder Strophenbau eines Liedes mit fester Melodie diese Art von Einheit der Sprache mit dem Melos sprengen, die dann für die Hellenen mit der Entwicklung der Sprache, einem exquisit rhetorischen Werkzeug, und dem dadurch mitbedingten Verfall des musikalischen Akzents gänzlich schwand. Trotz der auf die Dauer, wie die Ewhe-Neger zeigen, ebenfalls nur relativen Bindung der Melodik auch in den Tonsprachen könnte doch diese Verbindung auf die Entwicklung fixierter rationaler Intervalle, wie sie in der Tat gerade den Tonsprachvölkern eigen zu sein scheinen, hingewirkt haben. Der Ambitus der Melodie ist in allen wirklich »primitiven« Musiken klein. Es gibt bei den meisten von ihnen, z.B. auch den Indianern (bei denen übrigens daneben die Gesamt-Tonbildung ihrer Skala ziemlich bedeutend ist), gar nicht wenige »Melodien« auf nur einem einzigen rhythmisch wiederholten Ton, andere von nur 2 Tönen. Bei den ganz instrumentenlosen Weddahs umfaßt der Ambitus 3 Töne in etwa einer kleinen Terz. Bei den Patagoniern, welche wenigstens den weit über die Welt verbreiteten »Musikbogen« als Instrument besitzen, erstreckt sich der Ambitus nach den Erhebungen E. Fishers ausnahmsweise bis auf eine Septime, während allerdings die Quint das normale Maximum ist. Auch in entwickelten Musiken sind alle zeremonialen und deshalb stark stereotypierten Melodien von geringem Ambitus und haben kleinere Tonschritte als andere. Innerhalb des Gregorianischen Chorals sind 70% aller Tonschritte Sekundenschritte, und auch die Neumen der byzantinischen Musik bedeuten bis auf vier sämtlich nicht: »Pneumata« (Sprünge), sondern: »Somata« (diatonische Tonschritte). Größere als Quintenschritte verbot noch die byzantinische und ursprünglich auch die okzidentale, zunächst stets im Oktaven-Ambitus sich haltende Kirchenmusik, ganz ebenso wie der sehr altertümliche Synagogenchorgesang der syrischen Juden, von dem J. Parisot einige Proben gegeben hat, den Quarten- bis Sexten-Ambitus innezuhalten strebt. Nur die phrygische Tonart, welche als charakteristische Distanz das Sext-Intervall (e–c´) inhärierte, war aus eben diesem Grunde wegen ihrer starken Sprünge bekannt. Auch die erste pythische Ode Pindars hält sich, obwohl die erhaltene Komposition sicher nachklassisch ist, im Sexten-Ambitus. Die indische Sakralmusik meidet Tonsprünge über vier Töne, und Ähnliches wiederholt sich ungemein oft. Es erscheint aber wahrscheinlich, daß in sehr vielen rationalisierten Musiken die Quart der normale Melodie-Ambitus war. Als dem Ohre angenehm galten noch in der mittelalterlich byzantinischen Theorie z.B. des Bryennios »emmelische Tonfolgen«, welche zusammen ein Quart darstellten. Daß sehr häufig der weltliche Volksgesang größeren Ambitus – am auffälligsten bei den Kosaken, aber auch sonst oft – größere melodische Sprünge zeigt als die geistliche Kunstmusik, ist Folge und Symptom der größeren Jugend und geringeren Stereotypiertheit des ersteren, daneben aber auch Folge des wachsenden Einflusses der Instrumente. So ist namentlich der Jodler mit seinem spezifisch weiten, durch die Verwendung des Falsetts charakterisierten Ambitus ein sehr junges Produkt, wahrscheinlich durch den Einfluß eines Horninstrumentes entstanden, wie Hohenemser dies für den Kühreihen durch das erst dem 17. Jahrhundert angehörende Waldhorn nachweist. Bei den wirklich »primitiven« Musiken scheinen relative Kleinheit des Melodien-Ambitus, im Verhältnis dazu nicht selten relative Größe der als »schreitend« empfundenen Intervalle (nicht nur Sekunden, sondern – nach v. Hornbostel – auch Terzen, in vielen Fällen wohl Folge der Pentatonik) und andererseits relative Kleinheit der »Sprünge« (durchwegs selten über eine Quint, außer nach Melodienabschnitten beim Wiedereinsetzen) zusammenzutreffen. Ebenso die Erweiterung des Ambitus, wie die Verwendung rationaler Intervalle ist, wenn auch gewiß nicht überall und allein – denn neben der Oktave findet sich die Quint auch bei Völkern verwendet, deren höchst primitive Instrumente (Bogen) kaum Erhebliches für die Rationalisierung geleistet haben können –, so doch überwiegend von den Instrumenten teils geschaffen, teils wenigstens fixiert oder in der Fixierung gestützt worden. Denn in der Tat wohl nur durch die Mithilfe der instrumentalen Verdeutlichung der Intervalle, erklärt es sich, daß eben doch die überwältigende Mehrzahl der Intervalle, welche irgendwie instrumental begleitete primitive Musiken, auch solche, die die Oktaven nicht kennen, und im übrigen so ungeordnete Gebilde wie die der Patagonier, hervorbringen, rational ist. Die Instrumente bestimmten ferner, indem sie von jeher die Tanzbegleitung übernahmen, namentlich die Melodik der musikgeschichtlich sehr oft grundlegend wichtigen Tanzlieder. Und an ihrer Krücke wagte die Tonbildung einerseits zuerst größere Schritte und erweiterte ihren Ambitus manchmal so sehr, daß er nur unter Zuhilfenahme des – übrigens gelegentlich auch als »die« Gesangmanier überhaupt auftretenden – Falsetts auszufüllen ist (so bei den Wanyamwesi); andererseits, und zwar in Verbindung damit, lernte sie die Konsonanzen, wenn nicht überhaupt erst sicher zu unterscheiden, so doch eindeutig zu fixieren und bewußt als Kunstmittel zu verwenden.