Stadien der melodischen Rationalisierung
Worin bestand nun aber in den Frühstadien der melodischen Rationalisierung, nach der Auffassung der damaligen Musikpraxis selbst, die Bedeutung der Tonfolgen, und worin äußerte sich im damaligen Musikempfinden das, was damals unserer Tonalität entsprach?
Einerseits in dem Gravitieren um bestimmte Haupttöne, welche (in der Sprache der Stumpfschen Schule geredet) eine Art von »melodischem Schwerpunkt« darstellen, der zunächst nur in ihrer quantitativen Häufigkeit, nicht notwendig in einer ihnen eigenen qualitativen musikalischen Funktion sich ausspricht. Es finden sich in fast allen wirklich primitiven Melodien ein oder zuweilen zwei derartige Töne. Innerhalb des altkirchlichen Gesanges ist allerdings die »pette.- a«, wie der technische Ausdruck in der byzantinischen und ebenso in der ziemlich archaistisch stereotypierten armenischen Kirchenmusik lautet, ein Rest der Gepflogenheiten der Psalmodie, ebenso wie der von altersher sogenannte »Reperkussionston« (Tonus currens) der Kirchentonformeln. Aber auch die »Mese« der hellenischen Musik hat wohl ursprünglich – in den erhaltenen Kompositionen allerdings nur noch in Resten – ähnliche Funktionen, ebenso wie der Finalton in den »plagalen« Kirchentonarten. Dieser Hauptton nun liegt bei allen älteren Musiken regelmäßig etwa in der Mitte des Melodie-Ambitus. Er bildet, wo die Quarten in ihrer das Tonmaterial gliedernden Funktion auftreten, den Ausgangspunkt für die Rechnung nach unten und oben, dient bei der Stimmung der Instrumente als Ausgangston und bei Modulationen als unalterierbar. Praktisch wichtiger aber noch als dieser Ton selbst sind die typischen melodischen Formeln, in welchen bestimmte Intervalle als der betreffenden »Tonart« charakteristisch sich ausprägen. So steht es z.B. noch in den Kirchentönen des Mittelalters. Es ist bekannt, wie schwierig gelegentlich die eindeutige Zurechnung einer Melodie zu einem Kirchenton und wie zweideutig vollends die harmonische Zurechnung der einzelnen Töne in ihnen war. Die Auffassung der »authentischen« Kirchentöne als durch ihren untersten Ton als Finalis charakterisierter Oktavengattung ist vermutlich ein relativ spätes Erzeugnis der von Byzanz beeinflußten Theorie. Aber auch noch der praktische Musiker des späteren Mittelalters erkannte die für unser musikalisches Empfinden oft schwankend erscheinende Zugehörigkeit einer Melodie zu ihrem Kirchenton am sichersten an drei Merkmalen: der Schlußformel, dem sog. Reperkussions-Intervall und dem »Tropus«. Historisch betrachtet gehören in der Kirchenmusik gerade die Schlußformeln jedenfalls zu dem sehr früh und jedenfalls vor der theoretischen Fixierung der »Kirchentöne« als Oktavengattung entwickelten Bestande. In der ältesten Kirchenmusik dürfte, soweit die armenische Musik Rückschlüsse gestattet, das sehr vielen Musiken gemeinsame Intervall der kleinen Terz als rezitativische Schlußkadenz überwogen haben. Die typischen Schlußformeln der Kirchentöne entsprechen durchaus den Gepflogenheiten von Musiken, welche nicht durch Virtuosen ihre tonale Basis verloren haben. Gerade die allerprimitivsten Musiken haben ziemlich feste Schlußregeln, die allerdings, ebenso wie die meisten Regeln der Kontrapunktik, weniger in positiven Anweisungen als im Ausschluß bestimmter sonst erlaubter Freiheit bestehen: so scheint in der Weddah-Musik der Schluß – im Gegensatz zum Gang der Melodie selbst – nie fallend, sondern stets steigend oder auf gleicher Tonhöhe zu erfolgen und insbesondere das Berühren des oberhalb der beiden normalen Töne der Melodie gelegenen »Halbton«-Schrittes im Schluß nicht gestattet zu sein. Man glaubt bei den Weddah beobachten zu können, wie sich von diesem geregelten Schluß her nach rückwärts zu die Reglementierung weiter ausbreitet: dem Schluß entspricht ein weitgehend typischer »Schlußvorbau« mit ebenfalls ziemlich festen Regeln. Ganz das gleiche: die Entwicklung von Bindungen der Melodik von der »Coda« her ist auch im Synagogengesang wahrscheinlich und ebenso in der Kirchenmusik. Desgleichen ist der Schlußton gerade in noch ganz unrationalisierten Musiken oft geregelt: Schluß und Zwischenschluß auf dem melodischen Hauptton, soviel die Phonogramme heute ersehen lassen, sind sehr häufig in manchen Musiken die fast ausnahmslose Regel, und wo es ein anderes Intervall ist, tritt die Quartenund Quintenbeziehung oft sehr deutlich hervor. Sehr häufig, aber nicht immer, hat der Hauptton – wie dies v. Hornbostel namentlich an den Wanyamwesi-Gesängen schön verdeutlicht hat – einen »Aufton« oder auch deren mehrere bei sich, der als zu ihm hin melodisch »leitend« empfunden wird. Er liegt auch in Musiken mit vorwiegend absteigenden Melodien oft unterhalb des Haupttons und kann zu ihm verschiedene »schreitende« Intervalle, nach v. Hornbostel bis zu einer großen Terz, bilden. Die Stellung und Entwicklung dieses »Auftons« in den rein melodischen Musiken bietet – verglichen mit der Rolle des stets auf dem Halbtonschritt unter der Tonika liegenden »Leittons« der Harmonik – ein buntes Bild. Die saiteninstrumen- tal rationalisierten Skalen haben, da neben der Tendenz der Melodie zum Abstieg auch deren Stimmung wohl leichter von oben nach unten zu praktizieren ist, die kleinen Tonschritte – wie die dorische Quart der Griechen – zuweilen in der Nachbarschaft des unteren Grenztons ihres Grundintervalls, der bei Pseudo-Aristoteles deutlich als zur Hypate »leitend« (daher im Gesang schwer als selbständiger Ton auszuhalten) charakterisiert wird. Die arabische verbundene Quartenskala experimentierte später mit drei verschiedenen Arten von Nachbartönen unterhalb g und c´, also oberen Auftönen. Die Degradation des Halbtons überall in der chinesischen Skala zu einem minderwertigen Tonschritt ist offenbar ebenfalls – und so vielleicht in anderen pentatonischen Skalen – Produkt des Empfindens einer durch seine melodisch »leitende« Stelle bedingten »Unselbständigkeit« an ihm. Wenn im allgemeinen die Entwicklung dahin geht, dem Halbtonschritt die Rolle des melodischen »Auftons« zuzuweisen – auch sein im Gegensatz zur sonstigen Meidung der Chromatik relativ häufiges Vorkommen in Gemeinschaft mit dem Reperkussionston in der alten Kirchenmusik gehört dahin –, so ist doch weder dies noch die Entwicklung zum »Leitton« überhaupt etwas ganz Allgemeines. Rein melodische Musiken streifen die Tendenz zu einem typischen Aufton unter Umständen gänzlich ab. Und während die Existenz typischer Aufton-Intervalle sicherlich wie die Tendenz sowohl zur Entwicklung von Schlußkadenzen wie zur »tonalen« Organisierung der Tonintervalle und ihrer Inbeziehungsetzung zum Hauptton als »Grundton« zu steigern geeignet sind – ein Beispiel dafür sind gerade die Kirchentöne –, so gehen rein melodische Musiken im Verlauf ihrer Entwicklung zur Virtuosenkunst nicht selten den gerade entgegengesetzten Weg und beseitigen sowohl die Ansätze zu festen Schlußkadenzen – welche sich, wenn v. Hornbostel recht hat, vielleicht schon in der Wanyamwesi-Musik finden – wie die Rolle der »Haupttöne«. In der hellenischen Musik, welche in historischer Zeit etwas unseren Schlußkadenzen Entsprechendes höchstens in den ersten Anfängen – oder vielleicht umgekehrt: in den letzten Resten – kennt (Sekunde, aber meist große Unter- und kleine Obersekunde vor der Schlußnote), ist allerdings ein typischer, wenn auch durchaus nicht ausnahmsloser Schlußton auch für Unterabschnitte (Versschlüsse) zu beobachten. Der Schlußton fällt dann mit den Grenztönen der der Tonskala zugrunde liegenden Quarten zusammen. Aber manche andere Kunstmusiken, so viele ostasiatische, kennen derartiges kaum und laufen z.B. ganz achtlos nicht nur in die Sekunde des Anfangstons aus – welche, wie schon gesagt, als melodisches, durch Quart und Quint konstituiertes Hauptintervall ziemlich häufig eine Art harmonischer Rolle spielt –, sondern auch in beliebige andere Intervalle, und in der hellenischen Musik scheint jene »tonale« Typik um so geringer, je melodisch raffinierter das Musikgebilde gestaltet ist. Was in ihr, wie auch in anderen, primitiven sowohl als auch in Kunstmusiken als häufige Eigentümlichkeit von Zwischenschlüssen zu beobachten ist, sind vielmehr rhythmische Erscheinungen: speziell häufige Dehnungen der Tonzeitwerte, wie sie in den meisten primitiven Musiken sich finden und später sowohl in den Synagogen als in den Kirchenmelodien eine für die okzidentale Musikentwicklung so bedeutende Rolle gespielt haben. Erst recht unsicher ist das in den alten Kirchentönen nur zeitweise durchgeführte und bald wieder modifizierte Prinzip, daß das musikalische Gebilde mit dem Schlußton (so nach Wilhelm v. Hirsau) oder doch einem harmonischen Intervall zu ihm (im 11. Jahrhundert: Quint, Quart, später Terz, Sekunde, jedenfalls aber nicht weiter von ihm als die Quint) anfangen müsse. Davon ist z.B. in der hellenischen Musik, soweit die Monumente sprechen, fast nichts zu finden. Andere Musiken zeigen die allerverschiedensten Gepflogenheiten: Anfang in der kleinen Sekunde des Schlußtons findet sich ebensogut (arabische und einzelne asiatische Musiken) wie auch in sonst primitiven Musiken Anfang in der Oktave (bei den Ewhe-Negern) oder in einer der Dominanten. – Die musikalischen Abschnitte sind in den Kirchentonkompositionen auch der hauptsächliche Sitz der »Tropen«, ursprünglich: melodischer Formeln, welche gedächtnismäßig nach Memoriersilben eingeübt wurden und mindestens die Reperkussions-Intervalle der Tonart charakteristisch enthielten. Sie sind in diesem Fall nichts Primitives und, wie im Christentum alle Musiken, auch nie von magischer Bedeutung gewesen. Das Reperkussions-Intervall selbst endlich war ein jedem Kirchenton spezifisches, aus dem Ambitus und der durch die Lage der Halbtonschritte gegebenen Struktur desselben sich ergebendes, in den betreffenden Melodien besonders häufiges Intervall, in der Zeit, als die Kirchentöne bereits nach byzantinischem Muster in vier von d, e, f, g als Finaltöne nach oben bis zur Oktave aufsteigende »authentische« und vier von den gleichen Finaltönen ausgehende, aber bis zur Unterquart und Oberquint reichende »plagale« Tonarten rationalisiert waren, bei den authentischen mit Ausnahme der von e ausgehenden »phrygischen« die Quint, bei der phrygischen die Sext, bei den plagalen zweimal die Quart, je einmal die große und kleine Terz, vom Finalton aus. Die Intervalle scheinen zumeist dadurch bedingt, daß der untere der beiden Töne des Halbton-Intervalls der Tonart als oberer Ton des Reperkussions-Intervalls gemieden wurde, was wohl weniger als Rest von Pentatonik denn als Symptom für die als »leitend« empfundene Rolle des unteren Halbtons anzusehen ist. Auch die erst spät und zögernd von der Kirche akzeptierten »Tropen« sind den Echamata der byzantinischen Musik analog, vielleicht teilweise von ihr entlehnt, deren Theorie überhaupt eine ganze Serie von bestimmten melodischen Formeln unterschied. Sie ist ihrerseits eine Umbildung des althellenischen Musiksystems – vielleicht unter orientalischem (hebräischem) Einfluß, der nur leider in seiner Richtung nicht feststellbar ist –, greift aber gerade hier in der Formelbildung schwerlich auf hellenische Musikpraxis zurück. Denn daß diese etwa in älterer Zeit ebenfalls mit festen melodischen Formeln gearbeitet hätte, steht – so wahrscheinlich es an sich ist – doch dahin; für die historische Zeit ist dafür jedenfalls nichts mehr nachweisbar, und ein Zurückgreifen gerade auf etwaige sakrale Tonformeln eines heidnischen Kultus in der kirchlichen Musik erscheint schon an sich ausgeschlossen. Nicht sicher bestimmbar ist der an sich naheliegende Einfluß der Synagogenmusik, welche die Tropen ebenfalls entwickelt hat und auch sonst in einer Anzahl von melodischen Wendungen direkt mit Bruchteilen des Gregorianischen Chorals übereinkommt, aber selbst wenigstens in ihren Neuschöpfungen im höchsten Grade von den musikalischen Gepflogenheiten des Milieus abhing und in der Zeit zwischen dem achten und dreizehnten Jahrhundert im Okizdent überwiegend der vom Gregorianischen Choral und der Volksmelodik empfangende Teil war, ebenso wie im Orient gegenüber der hellenistischen und im begrenzten Maße auch persisch-arabischen Musik. Ihre Skalen entsprechen, wie schon früher erwähnt, im wesentlichen den Kirchentönen des Mittelalters.
Diejenigen Intervalle, welche in den einer Rationalisierung überhaupt unterzogenen Musiksystemen am regelmäßigsten in einer Stimmung erschienen, sind – wie schon mehrfach erwähnt – Quint und Quart. Ebensowohl wie z.B. in der japanischen und anderen Kunstmusiken findet man schon in der Negermusik, daß »Modulationen«, d.h. hier Verlegungen des melodischen Schwerpunkts, besonders gern in die Quinten- oder Quartenlage erfolgen; bei den Ewhe-Negern, welche eine sehr deutliche »thematische« Gliederung ihrer Lieder statt der sonst meist vorherrschenden ziemlich ungeordneten Variation des gleichen Motivs zeigen, tritt auch die stufenweise Wiederholung des Motivs, und zwar in der Quart, auf, – ein für die Urwüchsigkeit des entwicklungsgeschichtlich so wichtigen Transpositionsproblems charakteristischer Befund. Aber die Existenz einer melodischen Quintenund Quarten-»Tonalität« und selbst die Durchführung von Dreiklängen hindert nicht, daß (so bei den Ewhe) neben jenen für unser Empfinden »normalen« Modulationen auch ganz irrational-chromatische Einzeltöne auftreten. Ihr Auftreten in einer Mussik selbst da, wo es harmonischen Charakter hat und wo Quint und Quart die Begleitintervalle im mehrstimmigen Gesange sind, bedeutet überhaupt keineswegs deren durchgängige Rationalisierung. Vielmehr finden sich neben ihnen als Träger der Harmonik unter Umständen die allerirrationalsten Intervalle in der Melodik, wie später noch zu erwähnen sein wird. Die beiden als Umkehrungen voneinander zusammengehörigen Intervalle selbst aber erscheinen teils in arbeitsteiliger Kooperation, teils in Konkurrenz miteinander. Melodiöse Grunddistanz ist sehr regelmäßig die Quart, Grundlage der Instrumentenstimmung ist sehr oft die Quint. Aber neben dem »Tetrachord« findet sich auch das »Pentachord«, während andererseits, so in Arabien, unter dem Einfluß der Quartentonalität die Konsonanzqualität der Quint gelegentlich bezweifelt worden ist. Auch in der Entwicklung der europäischen Musik tritt die Konkurrenz beider Intervalle hervor, die erst, als die Quint durch die Terz Verstärkung gefunden hatte, in der Theorie der mehrstimmigen Musik des Mittelalters mit Degradation der Quart zur Dissonanz endete. Stärker als in den schon sehr stark an der Quint orientierten Kirchentönen tritt aber sowohl in der byzantischen wie erst recht in der althellenischen Musik die Bedeutung der Quart als des Hauptintervalls hervor. Die Kirchentöne bilden die »plagalen« Nebentonarten von der »Dominante« (Unterquart = Quint) der authentischen Haupttonart aus, und wenigstens drei der »authentischen« von ihnen haben Quinten als Hauptintervall, während dagegen die plagalen, wohl aus dem Orient importierten Tonarten, bei denen die Quart unten liegt, die Quintensprünge vermeiden. Die althellenische Musiktheorie dagegen bildete die ältere Serie ihrer Nebentonarten (die »Hypo«-Tonarten) von der Unterdominante (Unterquint = Quart) aus. Wenn die phonographischen Wiedergaben mancher primitiven Melodien richtig sind (den Grund, daran zu zweifeln, bilden nur die erwähnten starken Neigungen der Stimme zu distonieren), so würden die diatonischen Intervalle, speziell Quart, Quint und Ganzton, auch in solchen Musiken in korrekter Größe auftreten, deren Ambitus unterhalb der Oktave bleibt (so bei den Patagoniern, welche nach den Berichten der Reisenden eine phänomenale Fähigkeit zur sofortigen Nachahmung von europäischen Melodien haben sollen). Dann hätte man die Quart als die historisch erste, die Oktave als die historisch jüngste der drei Hauptkonsonanzen anzusehen. Sicherheit in dieser Richtung ist bisher jedoch nicht zu gewinnen, und es müssen daher die Versuche, z.B. auch die Entwicklung des hellenischen Musiksystems auf diesem Wege zu erklären, als verfrüht gelten. Allerdings galt nicht nur hier wie in anderen rein melodisch orientierten Musiken die arithmetische Teilung der Oktave durch die Quart als die eigentlich »gleiche« Teilung – so nach dem Pseudo-Aristoteles –, sondern es wird gelegentlich erst Pythagoras die Erhebung der Quint zur Bedeutung eines Grundintervalls zugeschrieben. Dies dürfte nun allerdings auf die Rationalisierung der in zwei »diazeuktische«, durch den »Tonos« getrennte Quarten zerlegten Oktave, bei welcher jeder Ton der einen Quart (z.B. e – a) eine Quint von dem entsprechenden Ton der anderen (h – e) abstand, also auf die Fixierung der Stimmung des Instruments mittels des Quintenzirkels, zu reduzieren sein. Wie eigentlich die älteste Stimmung der dreiseitigen Kithara ausgesehen hat, bleibt fraglich. Was aber die einzelnen »Tonarten« anbelangt, so ist auch für Hellas historisch ihre Entstehung durch Rationalisierung von typischen melodischen Formeln, welche im Dienst der regional verschiedenen Gottheiten als deren spezifische » Kirchentöne« sozusagen gebraucht wurden und dann in der nicht religiösen »Lyrik« und »Elegik« (von Leier und Flöten begleiteter Gesang) ihre schulmäßige Entwicklung gefunden haben, wohl kaum fraglich, wenn auch nichts als das Schema der Namen (»dorisch, phrygisch« usw.) aus ihrer Geschichte erhalten ist. Welche Rolle dabei etwa die Instrumente gespielt haben könnten, wird später hypothetisch zu erwähnen sein. Ob die später allgemein akzeptierte, in der bekannten komplizierten hellenischen Skalenlehre überlieferte Konstruktion der rezipierten Tonfolgen als je einer Serie, durch die Lage der Halbtonschritte voneinander unterschiedener, Intervallenfolgen in Oktav-Ambitus zuerst in der Form des Ausgehens von jedem der sieben Töne einer diatonischen Oktave (unter Verlängerung des Ambitus über die Oktave hinaus bis zu zwei Oktaven) gefunden worden ist oder in der anderen einer Umgruppierung der Intervalle innerhalb der gleichen Oktave durch Umstimmung der Instrumente, ist ebenfalls fraglich. Die Einzelheiten sollen uns hier nichts angehen, sondern uns interessieren die inneren Spannungen dieses Tonsystems.
Der Quintenzirkel als theoretische Grundlage der Stimmung auf der einen Seite, die Quart als melodisches Grundintervall auf der anderen mußten, nachdem einmal die Oktave zur Basis des Tonsystems gemacht war, der Ambitus der Melodien aber immer weiter wuchs, naturgemäß an eben der Stelle in Spannung gegeneinander geraten, wo diese sich auch für die moderne Harmonik zeigt: bei dem unsymmetrischen Bau der Oktave. Die dorische, von dem Mittelton (Mese) a aus nach unten, von dem Nebenmittelton (paramese) h nach oben bis zu A bzw. a´, also bis zu dem nach Aristoteles normalen Ambitus der menschlichen Stimme von zwei Oktaven, diatonisch fort- schreitende Tonfolge galt in nachklassischer Zeit als die Grundskala der Töne, wie sie es vermutlich auch historisch gewesen ist. Sie enthielt von e nach unten zu bis H und von e´ nach oben bis zu a´ zwei der Mittelquart e – a und der »diazeuktischen« Quart h – e´ symmetrische Quarten, von denen aber jede den Anfangston mit der vorhergehenden gemeinsam hatte, mit ihr in »Synaphe«, also in Quartenbeziehung der Paralleltöne stand, während zufolge der Unsymmetrie der Oktave die Mittelquart e – a zur diazeuktischen Quart h – e´ in Diazeuxis, also in Quintenbeziehung der Paralleltöne, sich befand. Als feste, nicht in eine andere Tonart oder ein anderes Tongeschlecht umstimmbare Töne galten die Grenztöne der vier Quarten, also: H, e, a, h, e´, a´ und der untere Zusatzton (Proslambanomenos) A. Ganz ähnlich galten auch in anderen Musiken die Grenztöne der Quarten als »unbeweglich«, die anderen als wandelbare Melodienelemente. Nur über diese festen Töne hinweg hätte also eigentlich eine reguläre Modulation (Metabole) in ein anderes Tongeschlecht oder eine andere Tonart ( Quartenbeziehung) erfolgen dürfen. Das Unsymmetrische dieser Teilung fiel in die Augen. Eine mit der Mittelquart e – a symmetrische und dabei in »Synaphe« (Quarten-Beziehung) stehende Tonfolge konnte nach oben aber nur durch Einführung des Tones b neben h gewonnen werden. Dies ist in der praktischen Musik in der Tat durch Zufügung der »chromatischen« b-Saite in die Kithara geschehen. Und die Bezeichnung »chromatisch« hat in diesem Falle wirklich wesensähnliche Bedeutung wie in der harmonischen Musik, weil sie einen tonalen Tatbestand ausdrückt, nicht ein bloßes Tondistanz-Verhältnis. Denn die Benutzung der b-Saite wurde als eine Modulation (nach hellenischer Terminologie die Agoge peripheres) in ein anderes, durch die Mese (a) mit der Mittelquart (e – a) verbundenes (Synemmenon), der diazeuktischen Quart h, c, d´, e´ symmetrisches »Tetrachord« a, b, c´, d´ gedeutet, also »tonal« gesprochen, aus der Quinten- in die Quarten-Beziehung. Die Serie der verbundenen Quarten erreicht dann bei d´ ihr Ende. Der Schritt b–h selbst konnte natürlich kein »tonal« zulässiger Tonschritt sein, sondern es mußte, um die b-Saite zu benutzen, von der »Mese« a aus, welche die Modulation vermittelte, in einer der beiden Quarten (a, b, c´, d´ oder h, c´, d´, e´) aufgestiegen und dann in der anderen wieder zur Mese heruntergestiegen werden. So wenigstens die strenge Theorie.
Das wirkliche Motiv für die Konstruktion des »Synemmenon« ist natürlich einfach dadurch gegeben, daß in der auch den Hellenen als normal geltenden diatonischen Skala F der einzige Ton ist, welcher infolge der Unsymmetrie der Oktaventeilung keine Quart über sich hat, und die Quart ein Grundintervall der Melodik fast aller alten Musiken ist. Das in der Kombination von diazeuktischen und verbundenen Tetrachorden sich äußernde Nebeneinander der Quinten- und der Quartenbeziehung findet sich in dieser Art nicht nur in der hellenischen Musik, sondern anscheinend z.B. auch in Java und in etwas anderer Form auch in Arabien. Diese zum Teil unter dem Einfluß der Villoteau-Kiesewetterschen Irrtümer äußerst verworren erscheinende Theorie der arabischen Skala des Mittelalters hat Collangettes auf einen vielleicht nicht sicheren, aber doch plausibleren Boden gestellt. Die vor dem 10. Jahrhundert unter hellenischem Einfluß pythagoreisch von oben und unten geteilten Quarten, welche demgemäß die je fünf Töne enthielten: c, d, es, e, f – f, g, as, a, b (d, e, a von unten, es und as von oben gerechnet), hatten im 10. Jahrhundert, wie später noch zu erörtern sein wird, zwei verschiedene Arten neutraler Terzen in sich aufgenommen, welche auf die Oktave siebzehn zum Teil durchaus irrationale Intervalle ergeben. Im 13. Jahrhundert wurden nun von der Theorie die beiden Quarten, wenn Collangettes recht hat, dahin rationalisiert, daß die eine auch ferner beibehaltene neutrale Terz in jeder Quart eine um einen pythagoreischen Tonschritt von ihr abstehende, also ebenfalls irrationale Sekunde neben sich erhielt, und dann die Intervalle zwischen diesen neutralen und pythagoreisch rationalen Tönen auf den Umfang von pythagoreischen Restintervallen reduziert, also in das Schema der Tonbildung mit den Zahlen 2 und 3 eingeordnet wurden. Die untere der beiden Quarten enthielt nun die Töne (auf c reduziert): c, pythagoreisches des, irrationales d, pythagoreisches es, irrationales e, pythagoreisches e, f mit den sechs Distanzen: Leimma, Leimma, Apotome ( Restdistanz bei Abzug des Leimma vom pythagoreischen Ganzton), Leimma, Apotome minus Leimma, Leimma; das rationale d war also beseitigt; die obere Quart dagegen enthielt – da man die harmonische Quint g doch nicht zu beseitigen wagte – die Töne: f, pythagoreisches ges, irrationales g, harmonisches g, pythagoreisches as, irrationales a, pythagoreisches a, harmonisches b und die sieben Distanzen: Leimma, Leimma, Apotome minus Leimma, Leimma, Leimma, Apotome minus Leimma, Leimma; nach oben zu blieb der in der Oktave dieser diazeuktisch neben der verbundenen Quart stehende Ganztonschritt zu c´, mit welchem ein neues verbundenes Quartensystem anfing. Die untere Quart enthielt dann drei, die obere fünf übereinandergreifende Ganztonschritte in sich. Die Frage, welche von beiden Quartenlagen: Quartenoder Quintentonalität also die ältere sei, ist nicht sicher, aber mit Wahrscheinlichkeit zugunsten der Quint, also der diazeuktischen Quart, zu beantworten. Wenigstens für Musiken, welche die Oktave kannten und von ihr ausgingen, während für primitive Musiken die Quart allerdings auch rein melodisch zu ihrer Rolle gekommen sein könnte. – In Java ist das System der verbundenen Quarten (wenn, wie hier angenommen wurde, das Pelogsystem so gedeutet werden darf!), wahrscheinlich arabischer Import. Ob in der chinesischen Musik die Tetrachorde je eine Rolle als Gliederung der Oktave gespielt haben, ist nicht mehr zu ermitteln. In Hellas ist die chromatische Saite, also die verbundene Quart, nach Tradition und Bezeichnungsart doch wohl nachträglich eingefügt. So wird es überall gewesen sein, wo überhaupt das verbundene Quartenschema neben dem unverbundenen auftaucht. Es erschien hier wohl erst, wenn der Ambitus der verwendeten Töne unter der Einwirkung der Instrumente sich über die Oktave hinaus erweitert hatte und nun nach unten und oben zu verbundene Quarten unsymmetrisch neben den beiden unverbundenen der Ausgangsoktave auftauchten.
Das hiergegen reagierende Symmetriebedürfnis aber ruhte praktisch wohl überall in erster Linie auf dem musikgeschichtlich überhaupt so wichtigen Streben nach Transponierbarkeit von Melodien in andere Tonlagen. Denn genau der gleiche Vorgang: Einschiebung eines einzelnen chromatischen Tons, vollzog sich wie in Hellas, so auch im Mittelalter unter dem Druck ganz des gleichen Bedürfnisses und an der gleichen Stelle. In der byzantinischen Musik hat man ausgesprochenermaßen, um Melodien in der Quint glatt transponieren zu können, im dritten .’˜ ..., dem deshalb sogenannten .’˜ ... ßa..., den unserem h entsprechenden Ton in b erniedrigen müssen. Ganz der gleiche Vorgang findet sich im Okzident. Abweichend aber gegenüber der Antike war dabei die Art und Richtung, in welcher das Symmetriebedürfnis praktisch wirkte. Sein Träger war äußerlich damals die Solmisationsskala.
»Solmisation« ist bekanntlich eine »Tonlautierung« durch Aufstellung nicht der Töne selbst, sondern die relative Lage der Tonschritte, speziell der Halbtonschritte, innerhalb des die Tonfolge bezeichnenden Schemas, welches im Okzident von jeher, wie noch heute, speziell dem Einüben der Skala im Gesangunterricht gedient hat. Die Hellenen haben etwas der Sache nach Entsprechendes für ihre Tetrachordgeschlechter gekannt. Ebenso existierte es in Indien. Die kirchliche Gesangspraxis des Mittelalters legte dabei in der Schule Guidos von Arezzo eine diatonische Sechstonfolge zugrunde. Keine Siebentonfolge – in welche sie das Hexachord erst seit dem 17. Jahrhundert allmählich, nachdem es den wesentlichen Teil seiner Rolle ausgespielt hatte und bei den Romanen und Engländern einfache, absolute Tonbezeichnung zu werden im Begriff stand, durch Zufügung der siebenten Silbe (»si«) umwandelte –, denn das hätte innerhalb der Diatonik ja nur eine einzige unverschiebbare und durch den Halbtonschritt unsymmetrisch geteilte Skala gegeben. Keine Viertonfolge wie in der Antike: denn so bedeutsam die Stellung der Quarten, besonders in der Theorie, auch blieb, so trat sie doch mehr als in der Antike zurück durch den Fortfall der antiken Kithara, welche die historische Trägerin des Tetrachords in der Musikpraxis und Musikschulung der Antike gewesen war, und deren Ersatz durch das Monochord als Schulinstrument und überhaupt durch die, zunächst wenigstens, ganz und gar auf den Gesang eingestellte Musikerziehung. Man suchte vielmehr offenbar – das hat H. Riemann überzeugend ausgeführt – einfach die größte mehr als einmal in gleichartiger, und zwar symmetrischer Geteiltheit durch den Halbtonschritt innerhalb der diatonischen Skala vorkommende Tonfolge auf. Diese ist aber eine Sechstonfolge. Einmal von C, dann von G aus, welche in beiden Fällen durch den Halbtonschritt gerade in der Mitte geteilt ist. Die Silben ut, re, mi, fa, sol, la, wovon mi – fa stets den Halbtonschritt bezeichnet, – wurden dabei bekanntlich den in diatonischen Schritten ansteigenden Halbversanfängen einer Johannes-Hymne entnommen. Den beiden symmetrischen Sechstonfolgen von C und G aus trat aber als drittes Hexachord das von F aus an die Seite. Schon vor Guido von Arezzo, der als strenger Diatoniker jede Chromatik ablehnte, hatte die Praxis wiederum, um auch von F aus eine Quart zu haben, den Ton b, »das b molle«, im Gegensatz zum b quadratum (h) neben diesem letzteren rezipiert. Eben dieser Tetrachord-Symmetrie, trat nun die Hexachord-Symmetrie, obwohl und gerade indem sie den chromatischen Ton akzeptierte, wenn vielleicht nicht der Absicht, so dem Effekt nach, gegenüber und verdrängte sie. So waren aus rein melodischen Interessen heraus und sicher ohne jede darauf gerichtete Absicht Grundton, Dominante und Unterdominante unserer C-dur- Tonleiter zu Ausgangspunkten der drei Hexachorde geworden. Für die Entwicklung der modernen Tonalität war dies selbstverständlich nicht gleichgültig. Natürlich aber nicht ausschlaggebend, denn an sich hätte das b molle, entstanden als Konzession an die alte Suprematie der Quart, auf welche die kleine Septime ja ebenso »zurücklenkt«, wie die große nach der Oktave hin»leitet«, auch zugunsten der »Quartentonalität« und des »Mitteltonsystems« wirken können.
Daß es dies nicht tat, dafür waren entscheidende Besonderheiten der abendländischen Musikentwicklung maßgebend, für welche die Wahl eines Hexachord-Schemas gewiß mehr Symptom als wirkende Ursache war. Nur insofern kann es als eine solche (neben vielen anderen) angesprochen werden, als eben die »innere Logik« der Tonbeziehungen, sobald man einmal das alte Kleben an der auf dem Distanzprinzip ruhenden Tetrachord-Teilung an irgendeinem Punkte aufgab, sofort auf die Bahn der modernen Tonleiterbildung drängte.
Die überragende Rolle der Quarten und Quinten in den alten Musiken, auf die wir überall stoßen, beruht sicherlich auf der Rolle, welche die Eindeutigkeit ihrer Konsonanz beim Stimmen der Instrumente mit beweglichen Tönen von jeher gespielt hat. Die Terz konnte diese Rolle nicht spielen, da von den Instrumenten mit festen Tönen die älteren sie nicht oder als neutrale Terzen gaben: so die meisten Hörner und Flöten und der Dudelsack – mit der später zu erwähnenden charakteristischen Ausnahme gerade eines der ältesten, aus dem hohen Norden Europas bekannten Instrumente. Daß nun von jenen beiden Intervallen die Quart in gewissem Sinn das Übergewicht gegenüber der Quint gewann, hat seinen Grund im allgemeinen wohl einfach darin, daß sie eben von beiden die kleinere Distanz war. Man hat freilich ihr ursprüngliches Vorwiegen und späteres Zurücktreten gegenüber der Quint auch anderweitig zu erklären gesucht, so neuerdings (A. H. Fox-Strangways) physikalisch durch den rein vokalen Charakter der älteren polyphonen Musik: beim Gesang habe die höhere der beiden Stimmen die Tendenz, die Melodie an sich zu reißen, die untere, sich ihr melodisch anzupassen, und zwar auf der Quart, weil dabei der vierte harmonische Ton der unteren mit dem dritten der oberen zusammenfalle: dies aber sei die nächste Verwandtschaft so gelagerter Töne in der Oktave (Tetrachord-Tonalität). Bei instrumentaler Zweistimmigkeit dagegen habe die untere Stimme die stärkere Resonanz, und die obere passe sich ihr harmonisch an in der Quint, bei welcher der dritte harmonische Ton der unteren mit dem zweiten der oberen Stimme zusammenfalle (Skalen-Tonalität). Die Erklärung – über welche nur Fachmännern ein endgültiges Urteil zusteht – erscheint, geschichtlich betrachtet, insofern problematisch, als sie Polyphonie voraussetzt, und außerdem notorisch beim zweistimmigen unbegleiteten Gesang gerade musikalisch ganz Ungeschulter vielmehr die Quintenparallelen sich sehr leicht einzustellen pflegen. Auch die Entwicklung des besonders instrumentenreichen arabischen Musiksystems, innerhalb dessen die Quart, und zwar stets von oben nach unten geteilt, trotzdem auf Kosten der Quint Fortschritte machte, spricht nicht dafür. Eher schon die indische Entwicklung. Aber wiederum: der Aufstieg der Quint in den Kirchentönen gegenüber der hellenischen Musik erfolgte trotz der weitgehenden Zurückdrängung der Instrumente. Auf die Art der letzteren dürfte es anscheinend ankommen. Die Erklärung ist dagegen sicherlich für die Bedeutung des Instrumentalbasses und des durch ihn allerdings beförderten Aufbaus der Harmonien von unten nach oben durchaus schlüssig. Aber die Stellung der Quart in den alten Musiken könnte auf diesem Wege wohl nur insofern miterklärt werden, als die Eigenart der alten Melodien, überwiegend absteigend zu verlaufen, – die aber mit einer stärkeren Resonanz einer Oberstimme gewiß nichts zu schaffen hat – in der Tat als Schluß einer melodischen Phrase auf die Quart drängen konnte. Schon rein melodisch: eine Phrase, die in einem Zuge durch die Leiter der Zwischentöne bis zur Quint hinabging (also c – F), war sehr lang, schloß, wenn der Halbton am Schluß oder Anfang stand, die auch melodisch schwierige Tritonus-Dissonanz ein, und eine Einschiebung des Halbtons in ihre Mitte wirkte nur dann so überzeugend, wie heute in unserer Tonlage etwa die Phrase von g nach c, wenn die Terz schon harmonisch verstanden wurde. Die Quart war, solange die Terz distanzmäßig als Ditonus empfunden wurde, die erste von einem Melodiegang erreichte, klare Konsonanz. Wenn man die Oktave kannte, tauchte sie stets zusammen mit der Quint auf. Für fast alle diejenigen Völker wenigstens, welche den Dreiklang nicht hatten, scheint sie unter den Intervallen auch als melodischer Sprung besonders leicht intonierbar empfunden worden zu sein. Und daß sie zugleich das kleinste, im Gegensatz zu der Vieldeutigkeit der Terz eindeutig konsonierende Intervall war, entschied schließlich auch für eine nach dem Distanzprinzip ihr Tonmaterial gewinnende Musik zu ihren Gunsten als Ausgangspunkt der rationalen Intervallteilung.
Auch eine schon festgewurzelte »tonale« Verankerung gerät nun aber bei rein melodisch entwickelten Musiken fortwährend ins Schwanken, sobald die alten typischen Tonformeln sakralen oder medizinischen Gepräges, welche feste Stützen boten, einmal abgestreift sind. Und zwar ist die Zertrümmerung aller »tonalen« Schranken unter dem Druck des wachsenden Ausdrucksbedürfnisses um so vollständiger, je raffinierter das Gehör nach der melodischen Richtung entwickelt wird. So in der hellenischen Musik. Wir sehen, wie die Deutung der chromatischen Saite als Bestandteil eines besonderen verbundenen »Tetrachords« und die Festlegung der Grenztöne der Tetrachorde die Mittel der Modulation theoretisch fest begrenzten. In der Tat läßt sich etwas Entsprechendes auch für die Praxis in den Musikinstrumenten, wenn nicht strikt nachweisen, so doch hier und da angedeutet finden. Aber schon manche Bemerkungen der musikalischen Schriftsteller, erst recht aber die musikalischen Monumente, speziell der große erste delphische Apollon- Hymnus, zeigen doch, daß sich die praktische Musik nach der Theorie mindestens recht wenig richtete. Theoretisch rationalisierbar sind am ehesten – wie Gevaerts unermüdliche Versuche, auch wenn sie im Prinzip abzulehnen sind, immerhin gezeigt haben –, selbst zur Not mit unseren harmonischen Vorstellungen, die erhaltenen Chorgesänge mit teils wirklich alter, teils in offenbar geflissentlicher Archaisierung einfacher Melodik. Die erste pythische Ode des Pindar (deren Komposition zeitlich unbestimmt ist), die Hymnen des Mesomedes und außerdem das kleine, vermutlich volkstümliche Weisen nachahmende, Grabliedchen auf Seikolos lassen sich leidlich der Theorie einfügen. Dagegen spottet der große, dem zweiten Jahrhundert v. Chr. angehörige Apollon-Hymnus (wohl selbst, wenn man Riemanns Hypothese der Verstümmelung eines Notenzeichens annähme) der Rationalisierung. Die Tetrachord-Theorie der Hellenen setzte der melodischen Chromatik insofern enge Schranken, da mehr als zwei Halbton-Intervalle im Anschluß aneinander nicht vorkommen konnten, was auch Aristoxenos damit motivierte, daß sonst die Konsonanzverhältnisse innerhalb des Quartenschemas verlorengehen würden. Der Apollon-Hymnus dagegen enthält drei sukzessive chromatische Intervalle und könnte auch sonst nur durch Annahme äußerst freier Modulationen nach beliebigen Richtungen hin theoretisch gedeutet werden, unter Zuhilfenahme von Gevaerts Deutung, daß hier Tetrachorde ganz verschiedener innerer Struktur (und ganz verschiedener Tongeschlechter) miteinander kombiniert seien. Zweifellos hätte ein antiker Theoretiker den Sachverhalt so konstruiert, wie z.B. auch die Theorie der arabischen Musik durch Kombination verschieden gegliederter Tetrachorde und Pentachorde Ähnliches erweist. Dann aber war eben der Sache nach hier jede – im hellenischen Sinn – »tonale« »Quarten«- und »Quinten«beziehung, außer für die Grenztöne der Tetrachorde, aufzugeben und eine von aller Gebundenheit weitgehend losgelöste Melodik entwickelt. Sie verhält sich, scheint es, zu den theoretischen Fundamenten ähnlich wie die moderne Musik zu der eingangs – und zwar schon in relativ »moderner« Fassung – wiedergegebenen akkordharmonisch strengen Theorie. Und es ist gerade offizielle athenische Musik (ein Preislied an den Gott nach der Abwehr des Keltensturms), um die es sich dabei handelt. In der hellenischen Kunstmusik scheint also gerade in ihrer höchsten Blüteperiode das Streben nach Vermehrung der Ausdrucksmittel zu einer extrem melodiösen, die »harmonischen« Bestandteile des Musiksystems weitgehend sprengenden Entwicklung geführt zu haben. Wenn im Okzident seit dem Ausgang des Mittelalters ganz das gleiche Streben zu dem gänzlich abweichenden Ergebnis der Entwicklung der Akkordharmonik geführt hat, so wird man geneigt sein, dies in erster Linie dem Umstand zuzuschreiben, daß der Okzident zu der Zeit, als jenes gesteigerte Ausdrucksbedürfnis einsetzte, sich im Gegensatz zur Antike schon im Besitze einer mehrstimmigen Musik befand, in deren Bahnen daher die Entwicklung des neuen Tonmaterials einlief. Das trifft zweifellos weitgehend zu. Nun existierte und existiert aber Mehrstimmigkeit keineswegs nur in der okzidentalen Musik, und es erhebt sich zunächst die Frage nach deren spezifischen Entwicklungsbedingungen.