Diatonik
Es ist klar, daß Mehrstimmigkeit auf der Basis eines rationalen Notenschriftsystems der harmonischen Rationalisierung des Tonsystems den gewaltigsten Vorschub leisten mußte. Zunächst in der Richtung der strengen Diatonik. Der Gregorianische Choral und seine direkten Derivate scheinen nach den Annahmen ihrer besten Kenner (P. Wagner und Gevaert) noch bis nach der Karolingerzeit auch nicht diatonische Töne enthalten zu haben; ja man hält es teilweise für möglich, daß selbst eine gelegentliche antik-enharmonische Spaltung von Halbtönen, wie sie die: byzantinische Musik beibehielt, sich auch im Okzident in einer Handschrift angedeutet finde. Die byzantinische Theorie kenne in der »Analysis organica« die enharmonischen Intervalle auf den Saiteninstrumenten bei absteigender Tonfolge und hält sie, als die schwierigsten, für die höchste Stufe der »Harmonie«. Aber im Okzident schwindet das alles rasch, und im 10. und 11. Jahrhundert etwa gilt, theoretisch wenigstens, die Diatonik als alleinherrschend. Freilich darf diese »Herrschaft« einer bestimmten Tonalität hier so wenig wie anderwärts in harmonisch nicht gebundenen Musiken mißverstanden werden. In der ostasiatischen Musik – zumal in der so halbtonfrohen japanischen, aber auch in der chinesischen – ganz ebenso wie in der abendländischen des frühen Mittelalters ist die in den Tonzeichen festgelegte Fortschreitung oft gewissermaßen nur das Gerippe für die wirkliche Ausführung. Nicht nur daß improvisierte Verzierungen aller möglichen Art, besonders auch bei den gedehnten Tönen der Schlüsse, als zulässig und direkt als Aufgabe der Sänger galten, sondern diese und erst recht die Magistri größerer Kapellen nahmen sich auch das Recht, melodische Härten durch chromatische Alteration der Töne auszugleichen. Die ältere, dem Orient und Okzident gemeinsame Neumen-Notation legte dies ja schon dadurch nahe, daß sie Ganzund Halbtonschritte gar nicht eindeutig schied. In der byzantinischen Notenschrift finden sich die »a’´ f..a«: Töne, die zwar gesungen, aber (für die Rhythmik) nicht gezählt wurden. Im Abendland war es ein Gegenstand fortwährender Diskussion, wieweit man die melodiösen Alterationen in die Notation aufzunehmen habe. Gerade den dadurch entstandenen Willkürlichkeiten wollte ja Guido von Arezzos Notenschriftneuerung abhelfen. Aber gegenüber seiner starren Diatonik blieb der Zustand weiter bestehen, und die Tatsache, daß die große Mehrzahl aller Tonalterationen nicht schriftlich fixiert ist, bildete bekanntlich eine Hauptschwierigkeit der zuverlässigen Entzifferung der alten Musikmonumente. Die Schranken, an welche bei alledem immerhin die kirchliche Musik-Theorie und Musik-Praxis die Alterationen band, haben ihre Wirkung im Sinn der Beeinflussung auch des außerkirchlichen Gesanges nicht verfehlt. Die große Masse der alten Volkslieder zeigt sich von der Diatonik der Kirchentöne tief beeinflußt. Die Kirchentöne erreichten diesen Einfluß nicht ohne die schon erwähnte melodiöse Nachgiebigkeit. Die Wirkung dieser Elastizität aber wurde mit steigender Anpassung an das Ausdrucksbedürfnis immer weittragender. Manche Choräle, deren rein diatonische Intonation aus dem 15. Jahrhundert bekannt ist, werden nach 500 Jahren heute, wie an Einzelheiten nachgewiesen ist, mit einer fast bis zur Unkenntlichmachung gehenden chromatischen Alteration gesungen, welche nun offizieller Dauerbesitz geworden ist. Und die Kirchentöne mußten sich überhaupt, was viel wichtiger war als jene individuellen Alterationen, die immer weitere Aufnahme ihnen ursprünglich fremder musikalischer Elemente, und zwar als dauernde Bestandteile, gefallen lassen. So, endgültig seit dem auch hier die alte Kirchenherrschaft brechenden Schisma, die Terz (im Fauxbourdon, der wahrscheinlich eben damals offizieller Kirchenbesitz wurde) und dann die reguläre harmonisch regulierte Chromatik.
Diese weitere Chromatik, welche zwar als Revolution gegen die reine Diatonik, aber dennoch von innen her und auf dem Boden der diatonischen Kirchentöne erstand, schuf von Anfang an harmonisch gedeutetes Tonmaterial. Sie wuchs eben innerhalb einer Musik mit einer bereits rational regulierten und in eine harmonisch rationale Notenschrift gebannten Mehrstimmigkeit. In den tonal minder entwickelten, der Mehrstimmigkeit oder doch ihrer Rationalisierung entbehrenden Musiksystemen sind dagegen – von der hellenischen Enharmonik jetzt ganz abgesehen – nicht nur 3/4- und 5/4- Töne, sondern oft auch gänzlich irrationale Intervalle als Produkt des melodischen Ausdrucksbedürfnisses zu den älteren rationalen neu hinzugetreten. Die baskische Musik (deren Alter unsicher ist) schiebt in die diatonische Grundskala zwar nur Halbtöne, diese aber anscheinend ganz willkürlich ein und läßt so – für unser Musikemfinden – nicht nur »Dur« und »Moll« rapide wechseln, sondern ganz tonalitätslose Gebilde entstehen, obwohl sie auf der andern Seite wieder bei einem Wechsel der die Haupttöne bestimmenden Tonart sich an gewisse Regeln (Leitton) zu binden scheint. Die arabische Skala hat vom 10. bis zum 13. Jahrhundert eine zweimalige Bereicherung mit zunehmend irrationalen Intervallen erlebt. Für das Maß der Überwucherung der tonalen Bestandteile durch neuentstehende melodiöse Ausdrucksbedürfnisse gibt es eben keine feste Schranke, sobald der feste Halt der alten typischen Tonformeln verlassen ist und der Virtuose oder der auf den Virtuosenvortrag hin geschulte Berufskünstler Träger der Musikentwicklung wird. Es ist doch vielleicht charakteristisch, daß die – soviel ich sehe – am weitesten von restloser »tonaler« Rationalisierbarkeit (namentlich in den Schluß- und Zwischenschlußtönen) entfernten unter den von Fr. Witte publizierten Gesängen der Ewhe-Neger, zwei von »Meistersängern« vorgetragene, sehr bewegte »Epinikien« sind, in denen auch eine ganze irrational- chromatisch erhöhte Tonfolge (nicht im einzelnen irrationale Töne) vorkommt, als Vorläufer des Übergangs in eine andere »Tonart«, während die Lieder, je einfacher (und, scheint es, leidenschaftsloser) desto ärmer an solchen Alterationen sind. Und was wir in manchen tonalitätszersetzenden Erscheinungen unserer Musikentwicklung erleben, hat man mit augenscheinlichem Grund auch für ganz heterogene Verhältnisse konstatiert: daß der Gebrauch gerade von ganz irrationalen Ausdrucksmitteln nicht selten lediglich als Produkt einer gesucht barocken und gezierten Ästhetenmanieriertheit und intellektualistischen Feinschmeckerei verstanden werden kann. Sie entsteht besonders leicht, auch unter sonst relativ primitiven Verhältnissen, im Kreise einer Zunft von gelehrten Musikern, welche eine höfische Musik monopolisieren, – nach Analogie etwa der jedem Geschmack hohnsprechenden Sprachschöpfungen der nordischen höfischen Skaldenkunst. Jedenfalls sind schon aus diesem Grunde bei weitem nicht alle irrationalen Intervalle Produkte spezifisch primitiver Musikentwicklung, sondern gar nicht selten Spätprodukte. Eine nicht harmonisch rationalisierte Musik ist eben in ihrer melodischen Bewegung wesentlich freier, und ein Ohr, welches nicht, wie das unsrige, auch jedes aus rein melodischem Ausdrucksbedürfnis geborene Intervall kraft seiner Erziehung unwillkürlich harmonisch deutet, kann an harmonisch nicht einzuordnenden Intervallen nicht nur Geschmack finden, sondern an ihren Genuß weitgehend gewöhnt werden. Es ist dabei begreiflich, daß Musiken, welche einmal ein irrationales Intervall sich dauernd angeeignet haben, besonders leicht dazu neigen, weitere irrationale Intervalle zu rezipieren. Die gesamte orientalische Musik hat die, wahrscheinlich von dem alten Dudelsack – einem bei Viehzüchtern und Beduinen überall primitiv heimischen Instrument – herrührende, irrationale Terz und ist dem eigenartigen Ethos eben dieser Irrationalität offenbar dauernd attachiert geblieben, so daß die Musikreformatoren immer wieder mit der Schaffung irrationaler Terzen Glück hatten. Die Überschwemmung ganz Vorderasiens mit dem arabischen Musiksystem bedingte endgültig die Abschneidung jeder Entwicklung zur Harmonik oder doch der reinen Diatonik. Nicht von ihr berührt wurde, soweit bekannt, ausschließlich der jüdische Synagogengesang, der sich daher in einer den »Kirchentönen« sehr nahestehenden Form erhalten zu haben scheint, welche die oft behauptete Verwandtschaft der alten christlichen mit der jüdischen Psalmodie und Hymnik in der Tat ziemlich wahrscheinlich macht.
Eben jene freiere, weitgehender Willkür Raum gebende Beweglichkeit der Melodik in den nicht harmonisch gebundenen Tonsystemen aber legt auf der anderen Seite auch dem Rationalismus den Gedanken einer willkürlichen Ausgleichung jener Unstimmigkeiten nahe, die aus der unsymmetrischen Teilung der Oktave und aus dem Auseinanderfallen der verschiedenen Intervall-»Zirkel« sich immer wieder ergeben.
Diese Rationalisierung konnte nun in gänzlich außermusikalischer Weise erfolgen und ist teilweise so erfolgt. Die Rationalisierung der Töne geht ja historisch regelmäßig von den Instrumenten aus: die Länge der Bambusflöte in China, die Spannung der Saiten der Kithara in Hellas, die Saitenlängen auf der Laute in Arabien, auf dem Monochord in den okzidentalen Klöstern hat für die physikalische Messung der Konsonanzen gedient. In diesen Fällen aber stimmte man schließlich doch die Instrumente nach den Tönen, die man hörte, und brauchte sie nur zur genauen Bestimmung und Festlegung der Konsonanzenintervalle, also im Dienst vorher feststehender tonaler Zwecke. Allein es war auch das Umgekehrte möglich und kam vor: gewisse alte zentralamerikanische Blasinstrumente zeigen eine Verteilung der Löcher nach rein symmetrisch-ornamentalen Gesichtspunkten, denen sich also die zu erzeugenden Töne zu fügen hatten. Und dies ist keineswegs ein Ausnahmefall oder nur eine Erscheinung barbarischer Musiken. Ein wahres Exerzierfeld für das die hellenistische rein mathematische und zweifellos lebensfremde Intervallspekulation fortsetzende Experimentieren der arabischen, teils hellenisch, teils persisch beeinflußten Theoretiker war das arabische Musiksystem, dessen äußere Schicksale früher erörtert worden sind. Bis in die Gegenwart ist es in seinen Intervallen dadurch bestimmt, daß die Perser durch eine rein mechanische Teilung des Raumes zwischen den Bünden für den Zeigefinger (salbaba) und den Ringfinger (binçir) eine gänzlich irrationale Terz (von den Theoretikern auf 68/81 berechnet) für den Mittelfinger (wosta [wusta]) und dann Zalzal durch abermalige mechanisch gleiche Teilung des Raumes zwischen dem persischen Wosta und dem Binçir eine andere, der harmonischen Terz näher liegende, aber ebenso irrationale (berechnet auf 22/27) einfügten. Die letztere hat sich, wie wir sahen, der Sache nach bis heute behauptet. Allein dies war weder der einzige noch der erste derartige Eingriff. Andere Instrumente waren Gegenstand noch wesentlich radikalerer Versuche. Der zweisaitige »Tanbur« von Bagdad, dessen Intervalle schon Al Farabi als »heidnische«, d.h. präislamitische, ansah, ist gewiß ein »primitiv« geteiltes Instrument, denn er gewann jene Intervalle durch mechanisch gleiche Teilung eines Achtels der Saite in fünf gleiche Teile, wodurch sich Distanzen von 39/40 bis aufwärts zu 7/8 ergaben. Das zweisaitige Rabab (Rebâb) endlich hat offenbar dem Versuch dienen müssen, die Oktave durch ein Intervall zwischen Quart und Quint in zwei wirklich distanzmäßig gleiche Teile zu teilen. Aber die Saite stellt den Ambitus eines eigentümlichen »Tritonus«- Intervalles dar, welches entsteht, wenn man die große Terz um einen Ganzton (oder, das gleiche in arabischer Rechnung, den Ditonus um einen kleinen Ganzton) erhöht. Das ergab, wenn man die Intervalle harmonisch berechnete, entweder die harmonische übermäßige Quart (fis) oder – und dies war in der stets von oben nach unten rechnenden arabischen Musik der Fall – die harmonische verminderte Unterquint der Oberoktave (ges) = 32/45, was in der 2. Potenz 1024/2025 [ergibt], also in der Tat dem der algebraisch gleichen Teilung des Oktavenintervalles ziemlich nahesteht. Die Intervalle der Saiten enthielten dabei die Sekunde, die harmonische kleine Terz und den Ditonus. Da die Saiten um eine kleine Terz voneinander in der Stimmung abstanden, enthielt die Gesamtskala den Ausgangston, die Sekunde, die harmonische kleine Terz, den Ditonus, die Quart, ein der algebraischen Hälfte der Oktave nahestehendes, etwas zu kleines Intervall und zwei kleinere harmonische Terzen (625/1206 = 1/2,08), harmonisch ges (etwas größer als die algebraische Hälfte der Oktave), eine um das syntonische Komma zu hohe Quint, endlich die pythagoreische Sexte. Auch diese, ganz offenbar aus distanzmäßiger Rationalisierung, innerhalb der Oktave hervorgegangene, also ganz gewiß ebenfalls nicht »primitive« Skala verwirft Al Farabi. Für die praktische Musik ist bezüglich des Tanbur von Bagdad schon für Al Farabis Zeit berichtet, daß die Intervalle nicht innegehalten, sondern abweichend – zweifellos den Bünden-Intervallen entsprechend – gegriffen wurden; die Rationalisierung blieb auf die Dauer also einflußlos. Dagegen kann die Oktaventeilung auf den Rabab nicht einflußlos geblieben sein. Nicht nur war die Stellung der Quint, also des harmonischen Grundintervalles bei den Arabern – und wahrscheinlich unter diesem Einfluß – nicht absolut sicher, sondern auch die indische Musik hat, zweifellos unter dem Einfluß Arabiens, den Tritonus zu einem – und zwar einem sehr wichtigen – Intervall erhoben. Auch handelt es sich hier, im Gegensatz zu den fast ganz irrationalen Intervallen des Tanbur, um eine immerhin musikalisch leicht rationalisierbare Distanz. Und auch die willkürlich geschaffene, noch in den Skalen Meschakas nachwir- kende Terz Zalzals hatte ihre Stütze in der altorientalischen neutralen Dudelsack-Terz. Daß freilich auch durchaus willkürlich und ohne alle musikalische Basis mechanisch geschaffene Intervalle einem Musiksystem dauernd einverleibt werden können, zeigt die chinesische Musik. Das Hauptinstrument des ostasiatischen Orchesters, das King (Schlaginstrument von abgestimmten Stein- bzw. Metallplatten), ist in seiner Stimmung ganz augenscheinlich von gar keinen musikalischen Gesichtspunkten, sondern nur durch mechanische Symmetrie determiniert worden. Es ist klar, wie stark solche Akte antimusikalischer Willkür das musikalische Gehör alterieren und vom Verständnis harmonischer Beziehungen ablenken müssen. Sie haben die musikalische Entwicklung der betreffenden Völker zweifellos tief beeinflußt, und der vollkommene Stillstand der ostasiatischen Musik auf einem sonst nur primitiven Völkern eigenen »tonalen« Niveau ist höchst wahrscheinlich wesentlich durch sie herbeigeführt.