Begleitung, Ergänzung, Interpretation
Der technisch allein sogenannten »Polyphonie« und der reinen Akkordharmonik steht als ein dritter Grenzfall der Mehrstimmigkeit die harmonisch-homophone Musik gegenüber: Unterordnung des gesamten Tongebildes unter eine melodieführende Stimme als deren harmonische »Begleitung« oder »Ergänzung« oder »Interpretation« in allen den höchst verschiedenen Formen, welche solche Beziehungen annehmen können. Primitive Vorstufen dieses Sachverhaltes finden sich in den verschiedensten Formen über die Erde verbreitet, aber, wie es scheint, nirgends auch nur soweit entwickelt wie im Okzident schon im 14. Jahrhundert (in Italien). Mit aller Bewußtheit zum Kunststil entwickelt ist er in der abendländischen Musik erst seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts, und zwar wiederum zuerst in Italien, damals vor allem in der Oper. –
Auch die primitiven Vorstufen der Mehrstimmigkeit nehmen nun diesen Grenztypen entsprechend verschiedene Formen an. Die »Begleitung« einer Singstimme findet sich in unrationalisierten Musiken sowohl als vokale wie als instrumentale. Die Begleitstimme ist als solche teils einfach quantitativ dadurch charakterisiert, daß sie zwar eine eigene Melodie trägt, aber leiser gesungen wird (das kommt z.B. im Volksgesang in Island vor, wo diese Begleitstimme in eigener Melodie einherschreitet), teils dadurch, daß sie der Melodieträgerin gegenüber qualitativ unselbständig auftritt. Und zwar entweder so, daß sie die letztere in Schalttönen oder Koloraturen umspielt. Dies ist in verschiedenen Musiken, z.B. auch in der ostasiatischen (chinesischen, japanischen), häufig. Es findet sich als ....~ s.. .‘p.` t.` . .’¸ d.. – wenn H. Riemann mit seiner Interpretation des umstrittenen Begriffs recht hat – auch in der althellenischen Musik (als einziger für diese bekannter Ansatz einer Mehrstimmigkeit): die Instrumente gehen mit der Singstimme im Einklang, schalten aber zwischen deren ausgehaltenen Haupttönen Koloraturen ein (wofür, nach Ausweis der byzantinischen Quellen, offenbar typische Schemata existierten). – Oder umgekehrt so, daß neben der Melodiebewegung eine oder auch mehrere wechselnde oder simultane Begleittöne als »Bordune« ausgehalten werden.
Begleitstimme kann in allen diesen Fällen sowohl die untere wie die obere Vokal- oder Instrumentalstimme sein. Sowohl bei vokaler wie bei instrumentaler Mehrstimmigkeit dieser Art kommt bei mehr als zwei Stimmen als Melodieträger (»Tenor«, »Cantus firmus« in der Sprache des Mittelalters) ziemlich oft die Mittelstimme vor. So in der javanischen Gamilan-Musik, wo die den Text vortragende Singstimme oder, bei reiner Instrumentalmusik, die Schlaginstrumente in der Mittelstimme den Cantus firmus führen, daneben figurierende Oberstimmen stehen und eine Unterstimme nach eigenem Rhythmus bestimmte Einzeltöne markiert. Im okzidentalen Mittelalter galt es bekanntlich in der Kunstmusik so sehr als selbstverständlich, daß die Hauptstimme (ursprünglich durchweg ein Motiv aus dem Gregorianischen Choral) die Unterstimme sei, über welcher der »Discantus« seine melodischen Figurationen ausführte, daß das Gegenteil bei dem musikgeschichtlich so wichtigen Terzenund Sextengesang der Franzosen und Engländer, als dieser in die Kunstmusik eindrang, als faux bourdon (falsche Begleitung) bezeichnet wurde und diesen Namen dauernd beibehielt. Daß die Oberstimme die Melodieträgerin wurde – was für die Herausbildung der Harmonik, speziell der für diese so wichtigen Stellung des Basses als harmonischer Stütze, von weittragender Bedeutung war –, ist in der okzidentalen Kunstmusik erst ein Produkt langer Entwicklung. Der primitive »Bourdon« insbesondere ist noch kein Baß, nicht in dem Sinn, daß der ausgehaltene Ton immer unten läge. Für einen Stamm auf Sumatra (Kubu) z.B. führt v. Hornbostel einen Vokalbourdon gerade in der oberen Stimme an, obwohl freilich die Regel ist, daß der Bourdon instrumental ist und in der Unterstimme liegt. Keineswegs ist ferner der Bourdon allgemein als harmonische Basis, etwa wie ein Orgelpunkt, zu interpretieren. Er ist – wie alle primitive Mehrstimmigkeit – oft nur ein um der Klangfülle willen gebrauchtes ästhetisches Mittel ohne harmonische Bedeutung oder wenigstens, namentlich wo er von Schlaginstrumenten gegeben wird, von vorwiegend rhythmischer Bedeutung. Oft allerdings hat er einen sozusagen indirekt harmonischen Sinn, und zwar auch da, wo er nur als eine von Schlaginstrumenten (Gong, Tonstab) dargebotene »drone-bass« erscheint. Das Schlaginstrument gibt dann nicht nur, oder auch geradezu nicht, den Rhythmus des Gesanges, um den es sich vielmehr in seiner eigenen Rhythmik manchmal ganz unbekümmert zeigt. Und der an die Dronebase gewöhnte Sänger fällt dann nicht aus dem Rhythmus, sondern aus der Melodie, wenn jene Basis fehlt: die eingeübte variierende Distanz der Melodie vom Begleitton dient ihm offenbar trotz seiner harmonischen Irrationalität dennoch als »Stütze«. Und schließlich findet sich die direkte Orientierung des Haupttones des Gesanges an dem Bourdon natürlich ebenfalls nicht selten (so bei den nordamerikanischen Indianern). Bei den Hindus und wohl auch sonst vielfach gilt der Schluß auf dem durch das Schlaginstrument angegebenen Ton als der normale. Aus einem zweitönigen Bourdon, wie er vorkommt (z.B. quintierender und oktavierender Instrumente), kann sich dann leicht etwas unserem Basso ostinato Ähnliches entwickeln. Einen solchen kennt z.B. die japanische (instrumentale) Gagaku-Musik, bei welcher das Koto (liegende Harfe) diese Rolle übernimmt. Wo das Empfinden für Harmonie im Emporwachsen ist, da kann der Bourdon, zumal der unten liegende instrumentale, diese Entwicklung sehr stark fördern, indem er sich zu einer Art von Baßfundament entwickelt und den Aufbau der Konsonanzen von unten nach oben durchsetzt.
Dieser Art subordinierender Mehrstimmigkeit steht nun als eine (nicht: »die«) Vorstufe der koordinierenden Polyphonie die neuerdings sogenannte »Heterophonie« gegenüber, ein gleichzeitiger Vortrag eines Themas von mehreren Stimmen in mehreren melodischen Varianten, wobei diese mehreren Stimmen aber scheinbar unbekümmert umeinander ihren Weg gehen, jedenfalls auf die Art der Zusammenklänge nicht bewußt geachtet wird. Überwiegend findet sie sich mit Instrumentalbegleitung verbunden, welche als »Stütze« dient. Aber sie kommt auch ohne solche, und zwar auch auf den allerprimitivsten Stufen vor. In primitivster Form erscheint sie z.B. bei den instrumentenlosen Weddahs als ein »Durcheinandersingen« der einzelnen Sänger, bei dem diese in vorläufig noch nicht analysierbarer Art ähnliche Noten wie sie auch im Einzelgesang vorkommen, variieren, dabei in den Schlüssen zuweilen zusammenkommen, entweder in das Unisono oder in ein konsonantes Intervall. Nach Wertheimer scheint es, daß die Wirkung des Zusammensingens und seine Möglichkeit wesentlich darin beruht, daß die Schlußtöne der Melodie in ihrem Zeitwert größer und (wohl namentlich) konstanter werden als beim Einzelgesang und dadurch das Einsetzen der andern Stimmen sich reguliert. Schöne Beispiele urwüchsiger, und zwar ziemlich entwickelter Bauern-Heterophonie sind u.a. von Frau E. Linjeff phonographisch aus dem russischen Volksgesang für die Petersburger Akademie aufgenommen worden. Die heterophone Entwicklung des Themas wird auch hier noch, wie in allen alten Volksmusiken, improvisiert. Daß dabei die mehreren Stimmen einander nicht rhythmisch und auch rein melodisch stören, beruht auf der Wirkung fester Gemeinschaftstradition: Leute aus zwei verschiedenen Dörfern können nicht miteinander mehrstimmig singen. Auch hier fehlt noch jede, sei es homophon-harmonische oder kontrapunktische Organisation des Stimmenensembles zu einer Einheit. Aber schon bei der rein improvisierenden Volksheterophonie und noch mehr bei ihrer kunstmäßigen Übung findet sich, daß auf die Zusammenklänge geachtet wird, in der Art, daß bestimmte Dissonanzen gemieden und bestimmte Arten von Zusammenklängen gesucht werden, wohl zuerst bei den Schlußtönen von melodischen Abschnitten, welche dann – so z.B. in der japanischen Heterophonie – Einklänge oder andere Konsonanzen, besonders oft Quinten, sind. So weit und nicht wesentlich weiter ist z.B. auch die chinesische Polyphonie gelangt, und damit befindet sie sich annähernd auf dem Niveau des frühmittelalterlichen »Discantus«, welcher teils in einem Auseinandertreten der Stimmen aus dem Einklang in wechselnde Konsonanz und ihrem Wiederzusammentreten in den Einklang bestand, teils in der Schaffung einer improvisierten kolorierenden Oberstimme über dem »Tenor«, der dem Gregorianischen Choral entnommenen Hauptmelodie.
Wurden nun die mehreren Stimmen einmal »harmonisch« aneinander gebunden, so war die radikalste Form die der strengen Parallelbewegung in Konsonanzen-Intervallen: das vielberufene primitive »Organum« des frühen Mittelalters, welches sich ganz ebenso, wie im 10. Jahrhundert Hucbald es, vielleicht teilweise mißverstehend, erwähnt, ziemlich weit über die Erde verbreitet findet, und zwar speziell oft als älteste Form klassischer mehrstimmiger Kunstmusik (so – angeblich – auch in Japan). Vorwiegend (Indonesien, Bantustämme und sonst) handelt es sich um Quintund Quartparallelen. Bei der Bedeutung dieser Intervalle für das Stimmen der Instrumente ist der in der Kunstmusik der Kontrapunktik und auch in der klassischen Musik so streng verpönte Quintenparallelismus sicher etwas durchaus Urwüchsiges. Daneben erwähnt v. Hornbostel (für die Admiralitätsinseln) Sekundenparallelen, wie sie auch den Langobarden zugeschrieben worden sind. Es wären also auch hier die beiden vollkommensten Konsonanzen und der durch sie als Differenz erzeugte »Tonos« die bevorzugten Träger der Parallelen. Der Sekundenzusammenklang übrigens, der sich auch in der japanischen Gagaku-Musik für die Schlüsse finden soll, ist nach den von Stumpf mitgeteilten Aufklärungen eines japanischen Musikers wenigstens dort ein arpeggierender, kein simultaner. Wirkliche Terzenparallelen dagegen, also harmonische Verwendung der Terz, scheinen sich, soviel bisher bekannt, nur vereinzelt, so in Chorliedern in Togo und Kamerun (Wechsel großer und kleiner Terzen) und da vielleicht unter europäischem Einfluß, zu finden. Als Harfengänge finden sie sich in einem der von Trilles mitgeteilten, früher erwähnten instrumentalen Zwischenspiele der Bantu. Die Terz und (durch deren oktavierende Verdoppelung) die Sext als typische autochthone Grundlagen der Polyphonie scheinen mit Sicherheit bisher also nur für das nördliche Europa, speziell England und Frankreich, die Heimatländer des Fauxbourdon und der Entwicklung der mittelalterlichen Mehrstimmigkeit überhaupt, nachweisbar. Denn daß der volkstümliche Zwiegesang in Portugal Terzen- und Sextenparallelen neben den Quinten kennen soll, kann auf dem Einfluß der kirchlichen Musikentwicklung beruhen.
Die Existenz der Mehrstimmigkeit, auch auf der Basis harmonischer Intervalle, bedeutet an sich noch keineswegs die Durchdringung des gesamten Tonsystems einer Musik mit harmonischen Tonbildungsprinzipien. Im Gegenteil kommt es, wie (im Anschluß an v. Hornbostel) schon erwähnt wurde, vor, daß die Melodik sich davon völlig unberührt zeigt und scheinbar ganz unbekümmert neutrale Terzen und ähnliche irrationale Intervalle weiter verwendet. Die Spannung zwischen melodischen und harmonischen Determinanten ist also, wie schon der primitiven Melodie, so auch schon der primitiven Mehrstimmigkeit eigen. Darum würde aus dem Organum des Okzidents keine Entwicklung zur harmonischen Musik hervorgegangen sein, wenn nicht andere Bedingungen dafür, vor allem aber die reine Diatonik als Grundlage des Tonsystems der Kunstmusik, ohnehin bestanden hätten.
Auf die Frage: warum an einigen Stellen der Erde die Mehrstimmigkeit auftritt, an anderen fehlt, läßt sich eine einheitliche Antwort offenbar heute und wohl dauernd nicht geben. Das verschiedene Tempo, welches den gebrauchten Instrumenten untereinander und im Verhältnis zur Singstimme adäquat ist, die ausgehaltenen Töne der Blasinstrumente im Verhältnis zu den gerissenen der Saiteninstrumente, beim Wechselgesang das Nachklingen oder Aushalten der fast überall gedehnten Schlußtöne der einen Stimme während des Einsetzens der anderen, der Wohlklang der nachhallenden Töne der Harfe beim arpeggierenden Anschlag, die Mehrtönigkeit mancher alter Blasinstrumente bei unvollkommener technischer Beherrschung, endlich der simultane Anschlag beim Stimmen der Instrumente können je nach den Umständen zusammengewirkt und sich mit heute nicht mehr zugänglichen Zufällen verbunden haben.
Dagegen entsteht die andere Frage: warum sich gerade an einem Punkt der Erde aus der immerhin ziemlich weitverbreiteten Mehrstimmigkeit sowohl die polyphone wie die harmonisch-homophone Musik und das moderne Tonsystem überhaupt entwickelt hat, im Gegensatz zu anderen Gebieten mit einer – wie namentlich im hellenischen Altertum, aber auch z.B. in Japan – mindestens gleichen Intensität der musikalischen Kultur.
Fragt man nach den spezifischen Bedingungen der okzidentalen Musikentwicklung, so gehört dahin vor allem andern die Erfindung unserer modernen Notenschrift. Eine Notenschrift unsrer Art ist für die Existenz einer solchen Musik, wie wir sie besitzen, von weit fundamentalerer Bedeutung, als etwa die Art der Sprechschrift für den Bestand der sprachlichen Kunstgebilde, – vielleicht die hieroglyphische und chinesische Poesie ausgenommen, bei welcher der optische Eindruck der Schriftzeichen, ihrer künstlerischen Struktur wegen, als integrierender Bestandteil zum wirklichen Vollgenuß des poetischen Produkts gehört. Aber im übrigen ist jede Art von poetischem Produkt von der Art und Weise der Struktur der Schrift so gut wie ganz unabhängig. Ja, sieht man von den höchsten Kunstleistungen der Prosa, etwa auf der Höhe Flaubertscher oder Wildescher Kunst oder der Ibsenschen analytischen Dialoge ab, so könnte man sich im Prinzip das rein sprachlich-rhythmische Schaffen auch heute selbst von der Existenz einer Schrift überhaupt unabhängig denken. Ein irgendwie kompliziertes modernes musikalisches Kunstwerk dagegen ist ohne die Mittel unsrer Notenschrift weder zu produzieren noch zu überliefern noch zu reproduzieren: es vermag ohne sie überhaupt nicht irgendwo und irgendwie zu existieren, auch nicht etwa als interner Besitz seines Schöpfers. – Notenschriftzeichen irgendwelcher Art finden sich nun auch auf sonst relativ primitiven Stufen, ohne doch überall mit rationalisierter Melodik Hand in Hand zu gehen. Die moderne arabische Musik z.B., obwohl Gegenstand theoretischer Behandlung, ist in der langen Periode seit den Mongolenstürmen allmählich ihres alten Schriftsystems verlustig gegangen und gänzlich schriftlos. Die Hellenen waren sich ihres Charakters als Schriftvolk in der Musik mit Stolz bewußt. Notenzeichen waren namentlich für instrumentale Begleitung fast unentbehrlich, sobald diese in komplizierteren Stücken nicht lediglich unisono mit der Singstimme zu gehen hatte. Die technische Gestaltung der älteren Notenschriftzeichen interessiert hier nicht, sie ist selbst in der chinesischen Musik noch äußerst primitiv. Die Kunstmusiken der Schriftvölker verwenden zuweilen Ziffern, sehr regelmäßig aber Buchstaben zur Tonbezeichnung. So auch die Hellenen, bei denen Vokal- und – wohl sicher als die älteren – Instrumentalzeichen für dieselben Töne ebenso selbständig nebeneinander stehen, wie noch in der byzantinischen Terminologie die Bezeichnung der gleichen melodischen Bewegungen für Gesang und Instrumente verschiedene sind. Die Notenbezeichnungen sind durch die alypischen Tabellen – ein Produkt der Kaiserzeit – eindeutig überliefert. Schon daß solche Tabellen angelegt wurden, zeigt die praktische Verwickeltheit des Systems. Die Bezeichnungen namentlich für die Pykna der Chromatik und Enharmonik sind ziemlich umständlich. Als Noten für den Ausführenden würden sie bei irgend komplizierteren Aufgaben Schwierigkeiten gemacht haben; eine noch so einfache »Partitur« mit diesen Mitteln wäre undenkbar. Vielmehr gab in der praktischen Musikübung, wenigstens der getanzten Chorlieder, der Koryphaios, wie den Rhythmus mit dem Fuße, so den Gang des Melos mit der Hand an. Die Cheironomie galt als integrierender Bestandteil der Orchestik und wurde als rhythmische Gymnastik auch gesondert und unabhängig vom eigentlichen Tanz geübt. Daß dann die im Abendland erst ziemlich spät – im 10. Jahrhundert – nachweisbare Entwicklung der Buchstabenbezeichnung, wie es scheint, nach einigen Schwankungen, den Bustaben A gerade zur Benennung des jetzt noch ihm entsprechenden Tons verwendete, zeigt jedenfalls das eine: daß zur Zeit ihrer Entstehung die »Kirchentöne« noch nichts bedeuteten, da sonst zweifellos die Buchstaben hier ebenso wie bei den Hellenen auf das Tetrachordsystem Rücksicht genommen haben würden. Diese Buchstabenbezeichnung hat in der Musikpraxis des größten Teils des Okzidents keine dauernde Rolle gespielt und ist, außer für das Gebiet mit schwächster Entwicklung der Mehrstimmigkeit: Deutschland, schließlich ganz verschwunden. Denn in den klassischen Gebieten der Mehrstimmigkeit diente für die Einübung der diatonischen Skala seit der guidonischen Zeit das Solmisationssystem mit seinen von G, C, und F ausgehenden Hexachorden und ermöglichte durch Übertragung der Hexachord-Intervalle auf die Gliedmaßen der Hand (wie sie sich auch in Indien findet) eine Gebärdensprache. An Schriftsymbolen für den Gebrauch der Sänger war zunächst die im Orient, später in der byzantinischen Kirchenmusik heimische Tonschrift der »Neumen« verwendet worden. Die Neumen sind eine Übertragung der cheironomischen Bewegung in Schriftsymbole: Stenogramme für Gruppen melodischer Tonschritte und Singmanieren, deren Entzifferung trotz der Arbeiten von O. Fleischer, H. Riemann, J. B. Thibaut, v. Riesemann u.a. noch nicht ganz geglückt ist. Sie geben weder die absolute Tonhöhe, noch den Zeitwert des Einzeltons, sondern nur die innerhalb der Einzelgruppe von Symbolen erfolgenden Tonschritte und Singweisen (z.B. das Glissando) möglichst sinnfällig an, aber, wie die fortwährenden Kontroversen und Verschiedenheiten der Interpretation seitens der einzelnen Magister der Klosterchöre zeigen, auch diese, namentlich die Unterscheidung der Ganz- und Halbtonschritte, nicht wirklich exakt, – ein Umstand, der übrigens sicherlich der Biegsamkeit der offiziellen Musikschemata gegenüber den melodiösen Bedürfnissen der Musikpraxis und damit dem Eindringen von Tonaltraditionen in die Musikentwicklung zugute gekommen ist. Die Verbesserung der Notenschrift gegenüber dieser Unordnung bildete aber schon seit dem 9. Jahrhundert den Gegenstand eifriger, im Norden (Hucbald) wie im Süden (Kirchers Maunskript aus dem Kloster S. Salvatore bei Messina) betriebener Spekulationen des musikgelehrten Mönchtums, und die Rezeption der Mehrstimmigkeit im Klostergesang und damit auch unter die Objekte der Theorie steigerte zweifellos den Anreiz zur Schaffung übersichtlicher und leichtverständlicher Tonzeichen, wie speziell die Art von Hucbalds Versuchen zeigt. Der erste wichtige Schritt: die Eintragung der Neumen in ein Liniensystem, ist gleichwohl nicht etwa im Interesse der Mehrstimmigkeit, sondern in dem der melodiösen Eindeutigkeit und des Vom-Blatt-Singens entwickelt worden, wie Guido von Arezzos eigene Anpreisung seiner Erfindung (oder vielmehr: seiner konsequenten Durchführung des in Gestalt von zwei farbigen Linien zur Bezeichnung der Lage von F und C. schon vorher von den Möchen angewendeten Mittels) deutlich zeigt. Der Ersatz der Neumen – welche ja nicht nur Töne und Intervalle, sondern ebenso auch Vortragsmanieren bedeuteten und daher zunächst unverändert in das Liniensystem übernommen wurden – durch einfache Punkte und durch quadratische und oblonge Notenzeichen ging im wesentlichen parallel mit dem entscheidenden zweiten Schritt der Entwicklung: der seit dem 12. Jahrhundert sich vollziehenden Einführung der Zeitwertbestimmung in die Tonbezeichnung: das Werk der sog. »Mensural-Notation«. Sie ist in der Hauptsache ein Produkt von Musiktheoretikern, welche – nicht alle, aber in der Mehrzahl Mönche – der Musikpraxis besonders der Notre Dame und daneben namentlich des Kölner Doms nahestanden. Auf die Einzelheiten der vielverschlungenen Entwicklung dieser, für die okzidentale Musik fundamentalen, jetzt in dem Werk von J. Wolf eingehend analysierten Vorgänge braucht hier nicht näher eingegangen zu werden. Für uns kommt es darauf an, festzustellen, daß sie durch gewisse sehr spezifische Probleme der Polyphonie bedingt wurde, welche auf dem Boden der Rhythmik liegen. Soweit sie für die Entwicklung des Rhythmus von Bedeutung ist, kommen wir darauf zurück. Für die Mehrstimmigkeit war das Entscheidende, daß jetzt die Fixierbarkeit des relativen Zeitwerts der Tonzeichen und das feste Schema der Takteinteilung die Beziehungen der Fortschreitungen der Einzelstimmen zueinander eindeutig und übersichtlich zu bestimmen gestatteten, also eine wirkliche mehrstimmige »Komposition« zuließen. Diese war mit der Entwicklung der kunstmäßig reglementierten Mehrstimmigkeit an sich noch keineswegs gegeben. Auch als die mehrstimmige Begleitung einer als »Tenor« geltenden Grundmelodie schon zu einer regelrechten Kunst geworden war, blieb das Diskantieren noch im weitesten Umfang Improvisation (»contrapunctus a mente«), etwa so, wie später das Spielen des Basso continuo. Noch bis gegen Ende des 17. Jahrhunderts stellten die Kapellen zuweilen – so in dem von Caffi angeführten Kontrakt die Kapelle von S. Marco in Venedig 1681 – neben den Sängern des »Canto fermo« einen besonderen »Contrappunto« an, während die päpstliche Kapelle die Fähigkeit zum (improvisierenden) Kontrapunktieren von allen Stellenbewerbern verlangte. Der Kontrapunktist mußte, wie später der Generalbaßspieler, auf der vollen Höhe der musikalischen Kunstbildung seiner Zeit stehen, um »super librum«, d.h. lediglich auf Grund der ihm vorliegenden Stimme des Sängers des Cantus firmus, richtig zu kontrapunktieren. Das für den Anfang des 13. Jahrhunderts gerühmte Diskantieren der päpstlichen Sänger in Rom hatte im Prinzip den gleichen Charakter. Die Mensural-Notenschrift gestattete zuerst aber planvolle mehrstimmige Kunstkompositionen, und die große, wenn auch, infolge der glänzenden Kiesewetterschen Preisschrift, seinerzeit überschätzte Stellung der Niederländer in der Musikentwicklung der Epoche von 1350 bis 1550 beruhte, soweit äußerliche Umstände mitspielten, sehr wesentlich darauf, daß sie diese planvolle schriftliche Komposition an das Zentrum der Kirchenmusik: die päpstliche Kapelle brachten, die sie, auch (und gerade) nach der Rückkehr von Avignon, fast völlig beherrschten. Erst die Erhebung der mehrstimmigen Musik zur Schriftkunst schuf so den eigentlichen »Komponisten« und sicherte den polyphonen Schöpfungen des Abendlands im Gegensatz zu denen aller anderen Völker Dauer, Nachwirkung und kontinuierliche Entwicklung. –