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Das Problem des Sokrates

 

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Mit Sokrates schlägt der griechische Geschmack zu Gunsten der Dialektik um: was geschieht da eigentlich? Vor Allem wird damit ein vornehmer Geschmack besiegt; der Pöbel kommt mit der Dialektik obenauf. Vor Sokrates lehnte man in der guten Gesellschaft die dialektischen Manieren ab: sie galten als schlechte Manieren, sie stellten bloss. Man warnte die Jugend vor ihnen. Auch misstraute man allein solchen Präsentiren seiner Gründe. Honnette Dinge tragen, wie honnette Menschen, ihre Gründe nicht so in der Hand. Es ist unanständig, alle fünf Finger zeigen. Was sich erst beweisen lassen muss, ist wenig werth. Überall, wo noch die Autorität zur guten Sitte gehört, wo man nicht „begründet,” sondern befiehlt, ist der Dialektiker eine Art Hanswurst: man lacht über ihn, man nimmt ihn nicht ernst. — Sokrates war der Hanswurst, der sich ernst nehmen machte: was geschah da eigentlich? —

 

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Man wählt die Dialektik nur, wenn man kein andres Mittel hat. Man weiss, dass man Misstrauen mit ihr erregt, dass sie wenig überredet. Nichts ist leichter wegzuwischen als ein Dialektiker-Effekt: die Erfahrung jeder Versammlung, wo geredet wird, beweist das. Sie kann nur Nothwehr sein, in den Händen Solcher, die keine andren Waffen mehr haben. Man muss sein Recht zu erzwingen haben: eher macht man keinen Gebrauch von ihr. Die Juden waren deshalb Dialektiker; Reinecke Fuchs war es: wie? und Sokrates war es auch? —

 

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— Ist die Ironie des Sokrates ein Ausdruck von Revolte? von Pöbel-Ressentiment? geniesst er als Unterdrückter seine eigne Ferocität in den Messerstichen des Syllogismus? rächt er sich an den Vornehmen, die er fascinirt? — Man hat, als Dialektiker, ein schonungsloses Werkzeug in der Hand; man kann mit ihm den Tyrannen machen; man stellt bloss, indem man siegt. Der Dialektiker überlässt seinem Gegner den Nachweis, kein Idiot zu sein: er macht wüthend, er macht zugleich hülflos. Der Dialektiker depotenzirt den Intellekt seines Gegners. — Wie? ist Dialektik nur eine Form der Rache bei Sokrates?

 

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Ich habe zu verstehn gegeben, womit Sokrates abstossen konnte: es bleibt um so mehr zu erklären, dass er fascinirte. — Dass er eine neue Art Agon entdeckte, dass er der erste Fechtmeister davon für die vornehmen Kreise Athen's war, ist das Eine. Er fascinirte, indem er an den agonalen Trieb der Hellenen rührte, — er brachte eine Variante in den Ringkampf zwischen jungen Männern und Jünglingen. Sokrates war auch ein grosser Erotiker.

 

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Aber Sokrates errieth noch mehr. Er sah hinter seine vornehmen Athener; er begriff, dass sein Fall, seine Idiosynkrasie von Fall bereits kein Ausnahmefall war. Die gleiche Art von Degenerescenz bereitete sich überall im Stillen vor: das alte Athen gieng zu Ende. — Und Sokrates verstand, dass alle Welt ihn nöthig hatte, — sein Mittel, seine Kur, seinen Personal-Kunstgriff der Selbst-Erhaltung ... Überall waren die Instinkte in Anarchie; überall war man fünf Schritt weit vom Excess: das monstrum in animo war die allgemeine Gefahr. „Die Triebe wollen den Tyrannen machen; man muss einen Gegentyrannen erfinden, der stärker ist” ... Als jener Physiognomiker dem Sokrates enthüllt hatte, wer er war, eine Höhle aller schlimmen Begierden, liess der grosse Ironiker noch ein Wort verlauten, das den Schlüssel zu ihm giebt. „Dies ist wahr, sagte er, aber ich wurde über alle Herr.” Wie wurde Sokrates über sich Herr? — Sein Fall war im Grunde nur der extreme Fall, nur der in die Augen springendste von dem, was damals die allgemeine Noth zu werden anfieng: dass Niemand mehr über sich Herr war, dass die Instinkte sich gegen einander wendeten. Er fascinirte als dieser extreme Fall — seine furchteinflössende Hässlichkeit sprach ihn für jedes Auge aus: er fascinirte, wie sich von selbst versteht, noch stärker als Antwort, als Lösung, als Anschein der Kur dieses Falls. —

 

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Wenn man nöthig hat, aus der Vernunft einen Tyrannen zu machen, wie Sokrates es that, so muss die Gefahr nicht klein sein, dass etwas Andres den Tyrannen macht. Die Vernünftigkeit wurde damals errathen als Retterin, es stand weder Sokrates, noch seinen „Kranken” frei, vernünftig zu sein, — es war de rigueur, es war ihr letztes Mittel. Der Fanatismus, mit dem sich das ganze griechische Nachdenken auf die Vernünftigkeit wirft, verräth eine Nothlage: man war in Gefahr, man hatte nur Eine Wahl: entweder zu Grunde zu gehn oder — absurd-vernünftig zu sein ... Der Moralismus der griechischen Philosophen von Plato ab ist pathologisch bedingt; ebenso ihre Schätzung der Dialektik. Vernunft = Tugend = Glück heisst bloss: man muss es dem Sokrates nachmachen und gegen die dunklen Begehrungen ein Tageslicht in Permanenz herstellen — das Tageslicht der Vernunft. Man muss klug, klar, hell um jeden Preis sein: jedes Nachgeben an die Instinkte, an's Unbewusste führt hinab ...

 

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Ich habe zu verstehn gegeben, womit Sokrates fascinirte: er schien ein Arzt, ein Heiland zu sein. Ist es nöthig, noch den Irrthum aufzuzeigen, der in seinem Glauben an die „Vernünftigkeit um jeden Preis” lag? — Es ist ein Selbstbetrug seitens der Philosophen und Moralisten, damit schon aus der décadence herauszutreten, dass sie gegen dieselbe Krieg machen. Das Heraustreten steht ausserhalb ihrer Kraft: was sie als Mittel, als Rettung wählen, ist selbst nur wieder ein Ausdruck der décadence — sie verändern deren Ausdruck, sie schaffen sie selbst nicht weg. Sokrates war ein Missverständniss; die ganze Besserungs-Moral, auch die christliche, war ein Missverständniss ... Das grellste Tageslicht, die Vernünftigkeit um jeden Preis, das Leben hell, kalt, vorsichtig, bewusst, ohne Instinkt, im Widerstand gegen Instinkte war selbst nur eine Krankheit, eine andre Krankheit — und durchaus kein Rückweg zur „Tugend,” zur „Gesundheit,” zum Glück ... Die Instinkte bekämpfen müssen — das ist die Formel für décadence: so lange das Leben aufsteigt, ist Glück gleich Instinkt. —

 

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— Hat er das selbst noch begriffen, dieser Klügste aller Selbstüberlister? Sagte er sich das zuletzt, in der Weisheit seines Muthes zum Tode? ... Sokrates wollte sterben: — nicht Athen, er gab sich den Giftbecher, er zwang Athen zum Giftbecher... Sokrates ist kein Arzt sprach er leise zu sich: der Tod allein ist hier Arzt ... Sokrates selbst war nur lange krank ... „

 


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