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Moral für Ärzte. — Der Kranke ist ein Parasit der Gesellschaft. In einem gewissen Zustande ist es unanständig, noch länger zu leben. Das Fortvegetiren in feiger Abhängigkeit von Ärzten und Praktiken, nachdem der Sinn vom Leben, das Recht zum Leben verloren gegangen ist, sollte bei der Gesellschaft eine tiefe Verachtung nach sich ziehn. Die Ärzte wiederum hätten die Vermittler dieser Verachtung zu sein, — nicht Recepte, sondern jeden Tag eine neue Dosis Ekel vor ihrem Patienten ... Eine neue Verantwortlichkeit schaffen, die des Arztes, für alle Fälle, wo das höchste Interesse des Lebens, des aufsteigenden Lebens, das rücksichtsloseste Nieder- und Beiseite-Drängen des entartenden Lebens verlangt — zum Beispiel für das Recht auf Zeugung, für das Recht, geboren zu werden, für das Recht, zu leben... Auf eine stolze Art sterben, wenn es nicht mehr möglich ist, auf eine stolze Art zu leben. Der Tod, aus freien Stücken gewählt, der Tod zur rechten Zeit, mit Helle und Freudigkeit, inmitten von Kindern und Zeugen vollzogen: so dass ein wirkliches Abschiednehmen noch möglich ist, wo Der noch da ist, der sich verabschiedet, insgleichen ein wirkliches Abschätzen des Erreichten und Gewollten, eine Summirung des Lebens — Alles im Gegensatz zu der erbärmlichen und schauderhaften Komödie, die das Christenthum mit der Sterbestunde getrieben hat. Man soll es dem Christenthume nie vergessen, dass es die Schwäche des Sterbenden zu Gewissens-Nothzucht, dass es die Art des Todes selbst zu Werth-Urtheilen über Mensch und Vergangenheit gemissbraucht hat! — Hier gilt es, allen Feigheiten des Vorurtheils zum Trotz, vor Allem die richtige, das heisst physiologische Würdigung des sogenannten natürlichen Todes herzustellen: der zuletzt auch nur ein „unnatürlicher,” ein Selbstmord ist. Man geht nie durch jemand Anderes zu Grunde, als durch sich selbst. Nur ist es der Tod unter den verächtlichsten Bedingungen, ein unfreier Tod, ein Tod zur unrechten Zeit, ein Feiglings Tod. Man sollte, aus Liebe zum Leben —, den Tod anders wollen, frei, bewusst, ohne Zufall, ohne Überfall ... Endlich ein Rath für die Herrn Pessimisten und andere décadents. Wir haben es nicht in der Hand, zu verhindern, geboren zu werden: aber wir können diesen Fehler — denn bisweilen ist es ein Fehler — wieder gut machen. Wenn man sich abschafft, thut man die achtungswürdigste Sache, die es giebt: man verdient beinahe damit, zu leben ... Die Gesellschaft, was sage ich! das Leben selber hat mehr Vortheil davon, als durch irgend welches „Leben” in Entsagung, Bleichsucht und andrer Tugend —, man hat die Andern von seinem Anblick befreit, man hat das Leben von einem Einwand befreit ... Der Pessimismus, pur, vert, beweist sich erst durch die Selbst-Widerlegung der Herrn Pessimisten: man muss einen Schritt weiter gehn in seiner Logik, nicht bloss mit „Wille und Vorstellung,” wie Schopenhauer es that, das Leben verneinen —, man muss Schopenhauern zuerst verneinen ... Der Pessimismus, anbei gesagt, so ansteckend er ist, vermehrt trotzdem nicht die Krankhaftigkeit einer Zeit, eines Geschlechts im Ganzen: er ist deren Ausdruck. Man verfällt ihm, wie man der Cholera verfällt: man muss morbid genug dazu schon angelegt sein. Der Pessimismus selbst macht keinen einzigen décadent mehr; ich erinnere an das Ergebniss der Statistik, dass die Jahre, in denen die Cholera wüthet, sich in der Gesammt-Ziffer der Sterbefälle nicht von andern Jahrgängen unterscheiden.