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Ob wir moralischer geworden sind. — Gegen meinen Begriff „jenseits von Gut und Böse” hat sich, wie zu erwarten stand, die ganze Ferocität der moralischen Verdummung, die bekanntlich in Deutschland als die Moral selber gilt —, in's Zeug geworfen: ich hätte artige Geschichten davon zu erzählen. Vor Allem gab man mir die „unleugbare Überlegenheit” unsrer Zeit im sittlichen Urtheil zu überdenken, unsern wirklich hier gemachten Fortschritt: ein Cesare Borgia sei, im Vergleich mit uns, durchaus nicht als ein „höherer Mensch,” als eine Art Übermensch, wie ich es thue, aufzustellen ... Ein Schweizer Redakteur, vom „Bund,” gieng so weit, nicht ohne seine Achtung vor dem Muth zu solchem Wagniss auszudrücken, den Sinn meines Werks dahin zu „verstehn,” dass ich mit demselben die Abschaffung aller anständigen Gefühle beantragte. Sehr verbunden! — Ich erlaube mir, als Antwort, die Frage aufzuwerfen, ob wir wirklich moralischer geworden sind. Dass alle Welt das glaubt, ist bereits ein Einwand dagegen ... Wir modernen Menschen, sehr zart, sehr verletzlich und hundert Rücksichten gebend und nehmend, bilden uns in der That ein, diese zärtliche Menschlichkeit, die wir darstellen, diese erreichte Einmüthigkeit in der Schonung, in der Hülfsbereitschaft, im gegenseitigen Vertrauen sei ein positiver Fortschritt, damit seien wir weit über die Menschen der Renaissance hinaus. Aber so denkt jede Zeit, so muss sie denken. Gewiss ist, dass wir uns nicht in Renaissance-Zustände hineinstellen dürften, nicht einmal hineindenken: unsre Nerven hielten jene Wirklichkeit nicht aus, nicht zu reden von unsern Muskeln. Mit diesem Unvermögen ist aber kein Fortschritt bewiesen, sondern nur eine andre, eine spätere Beschaffenheit, eine schwächere, zärtlichere, verletzlichere, aus der sich nothwendig eine rücksichtenreiche Moral erzeugt. Denken wir unsre Zartheit und Spätheit, unsre physiologische Alterung weg, so verlöre auch unsre Moral der „Vermenschlichung” sofort ihren Werth — an sich hat keine Moral Werth -: sie würde uns selbst Geringschätzung machen. Zweifeln wir andrerseits nicht daran, dass wir Modernen mit unsrer dick wattirten Humanität, die durchaus an keinen Stein sich stossen Will, den Zeitgenossen Cesare Borgia's eine Komödie zum Todtlachen abgeben würden. In der That, wir sind über die Maassen unfreiwillig spasshaft, mit unsren modernen „Tugenden” ... Die Abnahme der feindseligen und misstrauenweckenden Instinkte — und das wäre ja unser „Fortschritt” — stellt nur eine der Folgen in der allgemeinen Abnahme der Vitalität dar: es kostet hundert Mal mehr Mühe, mehr Vorsicht, ein so bedingtes, so spätes Dasein durchzusetzen. Da hilft man sich gegenseitig, da ist Jeder bis zu einem gewissen Grade Kranker und Jeder Krankenwärter. Das heisst dann „Tugend” -: unter Menschen, die das Leben noch anders kannten, voller, verschwenderischer, überströmender, hätte man's anders genannt, „Feigheit” vielleicht, „Erbärmlichkeit,” „Altweiber-Moral” ... Unsre Milderung der Sitten — das ist mein Satz, das ist, wenn man will, meine Neuerung — ist eine Folge des Niedergangs; die Härte und Schrecklichkeit der Sitte kann umgekehrt eine Folge des Überschusses von Leben sein: dann nämlich darf auch Viel gewagt, Viel herausgefordert, Viel auch vergeudet werden. Was Würze ehedem des Lebens war, für uns wäre es Gift ... Indifferent zu sein — auch das ist eine Form der Stärke — dazu sind wir gleichfalls zu alt, zu spät: unsre Mitgefühls-Moral, vor der ich als der Erste gewarnt habe, Das, was man l'impressionisme morale nennen könnte, ist ein Ausdruck mehr der physiologischen Überreizbarkeit, die Allem, was décadent ist, eignet. Jene Bewegung, die mit der Mitleids-Moral Schopenhauer's versucht hat, sich wissenschaftlich vorzuführen — ein sehr unglücklicher Versuch! — ist die eigentliche décadence-Bewegung in der Moral, sie ist als solche tief verwandt mit der christlichen Moral. Die starken Zeiten, die vornehmen Culturen sehen im Mitleiden, in der „Nächstenliebe,” im Mangel an Selbst und Selbstgefühl etwas Verächtliches. — Die Zeiten sind zu messen nach ihren positiven Kräften — und dabei ergiebt sich jene so verschwenderische und verhängnissreiche Zeit der Renaissance als die letzte grosse Zeit, und wir, wir Modernen mit unsrer ängstlichen Selbst-Fürsorge und Nächstenliebe, mit unsren Tugenden der Arbeit, der Anspruchslosigkeit, der Rechtlichkeit, der Wissenschaftlichkeit — sammelnd, ökonomisch, machinal — als eine schwache Zeit ... Unsre Tugenden sind bedingt, sind herausgefordert durch unsre Schwäche ... Die „Gleichheit,” eine gewisse thatsächliche Anähnlichung, die sich in der Theorie von „gleichen Rechten” nur zum Ausdruck bringt, gehört wesentlich zum Niedergang: die Kluft zwischen Mensch und Mensch, Stand und Stand, die Vielheit der Typen, der Wille, selbst zu sein, sich abzuheben, Das, was ich Pathos der Distanz nenne, ist jeder starken Zeit zu eigen. Die Spannkraft, die Spannweite zwischen den Extremen wird heute immer kleiner, — die Extreme selbst verwischen sich endlich bis zur Ähnlichkeit ... Alle unsre politischen Theorien und Staats-Verfassungen, das „deutsche Reich” durchaus nicht ausgenommen, sind Folgerungen, Folge-Nothwendigkeiten des Niedergangs; die unbewusste Wirkung der décadence ist bis in die Ideale einzelner Wissenschaften hinein Herr geworden. Mein Einwand gegen die ganze Sociologie in England und Frankreich bleibt, dass sie nur die Verfalls-Gebilde der Societät aus Erfahrung kennt und vollkommen unschuldig die eigenen Verfalls-Instinkte als Norm des sociologischen Werthurteils nimmt. Das niedergehende Leben, die Abnahme aller organisirenden, das heisst trennenden, Klüfte aufreissenden, unter- und überordnenden Kraft formulirt sich in der Sociologie von heute zum Ideal ... Unsre Socialisten sind décadents, aber auch Herr Herbert Spencer ist ein décadent, — er sieht im Sieg des Altruismus etwas Wünschenswerthes! ...