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Der Fall Kerr

Der kleine Pan ist tot

März 1911

In Berlin wurde kürzlich das interessante Experiment gemacht, einer uninteressanten Zeitschrift dadurch auf die Beine zu helfen, daß man versicherte, der Polizeipräsident habe sich der Frau des Verlegers nähern wollen. Das Experiment mißlang, und der ›Pan‹ ist toter als nach seiner Geburt. Herr Maximilian Harden hatte schon Abonnenten verloren, weil er sie durch den Nachweis vermehren wollte, daß Fürst Eulenburg homosexuell veranlagt sei. Herr Alfred Kerr, der dieses Wagnis, einen erotischen Hinterhalt für die Politik und den politischen Vorwand für das Geschäft zu benützen, tadelte, hat einen schüchternen Versuch gemacht, es zu kopieren, indem er, gestützt auf die erweisliche Wahrheit, daß Frau Durieux die Gattin des Herrn Cassirer sei, sich bemüßigt fand, in Bezug auf die Erotik des Herrn v. Jagow »auszusprechen was ist«. Herr Kerr ist dabei zu Schaden gekommen. Denn eine üble Sache wird dadurch nicht schmackhafter, daß man sie statt in Perioden in Interjektionen serviert, und der Moral ist nicht besser gedient, wenn sie von einem Asthmatiker protegiert wird, als von einem Bauchredner. Das demokratische Temperament mag es ja als eine geistige Tat ohnegleichen ansehen, daß einer dem Polizeipräsidenten »hähä« zugerufen hat, und die Verehrer des Herrn Kerr, dessen Stil die letzten Zuckungen des sterbenden Feuilletonismus mit ungewöhnlicher Plastik darstellt, mögen diesen Polemiker sogar für den geeigneten Mann halten, mich für »Heine und die Folgen« zur Rede zu stellen. Ich möchte das Talent des Herrn Kerr so gering nicht einschätzen wie jene, die ihm zu politischen Aktionen Mut machen. Im sicheren Foyer theaterkritischer Subtilitäten hat er es immerhin verstanden, aus dem kurzen Atem eine Tugend zu machen, und man könnte ihm das Verdienst einer neuen Ein- und Ausdrucksfähigkeit zubilligen, wenn es nicht eben eine wäre, die wie alle Heine-Verwandtschaft Nachahmung ihrer selbst ist und das Talent, der Nachahmung Platz zu machen. Das bedingt einen geistigen Habitus, der auch den leiblichen geflissentlich dazu anhält, sich noch immer als Jourbesucher der Rahel Varnhagen zu fühlen, und dem das politische Interesse bloß eine Ableitung dessen ist, wovon man leider stets im Überfluß hat: der Sentimentalität. Sie allein macht es verständlich, daß Ästheten, die aus Lebensüberdruß Gift nehmen könnten, weil es grün ist, und die einen Pavian um den roten Hintern beneiden, manchmal drauf und dran sind, die Farbe, die bisher nur ihr Auge befriedigt hat, auch zu bekennen. Diesen politischen Zwischenstufen zuliebe ist der ›Pan‹ gegründet worden, und wenn man schon glaubte, alle Sozialästheten würden sich wie ein Heinrich Mann erheben und fortan nach seinen Gedanken handeln, die an der Oberfläche sind und doch tief unter seiner Form, — so erschien ein offener Brief an Herrn v. Jagow. Er war die Antwort auf einen geschlossenen. Herr v. Jagow hatte sich der Frau Durieux »außergesellschaftlich« nähern wollen. Man denke nur, welchen Eindruck das auf Herrn Kerr machen mußte, dessen Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung sich in dem Worte »Ecco« erschöpft, wozu aber, wenn er gereizt wird, in der Parenthese noch die treffende Bemerkung »Es ist auffallend« hinzutreten kann. Herr Harden hätte in solchem Falle vom Leder gezogen, das heißt er hätte den Feind dieses riechen lassen statt des Gewehrs. Herr Kerr begann fließend zu stottern, teilte den Polizeipräsidenten in sechs Abteilungen und fühlte sich aristophanisch wohl. Herr Cassirer, der am Skandal und am Geschäft beteiligte Verleger, duldete still. Und der Fall wurde zum Problem, wie viel Aufsehen man in Deutschland mit schlechten Manieren machen kann. Gewiß, man muß von modernen Literaten nicht verlangen, daß sie die Qualität einer Schauspielerin eher in der Fähigkeit erkennen, sich eine außergesellschaftliche Annäherung gefallen zu lassen, als in dem Ansehen, das sie als Hausfrau eines Kunsthändlers genießt. Gewiß, man mag es hingehen lassen, daß ein moderner Impressionist über die Psychologie der Schauspielerin so korrekt denkt wie ein Schauspieler, der ja der Erotik zumeist als Mitglied der deutschen Bühnengenossenschaft gegenübersteht. Aber man muß über die Promptheit staunen, mit der hier — jenseits des Problems der Theaterdame — die allerordinärsten Abfälle des Moraldogmas aufgegriffen wurden, die die Hand des Bürgers davon übriggelassen hat. Und daß hier die laute Entrüstung einem Geschäft helfen sollte, da die stille nur der Ehre Vorteil gebracht hätte, macht den solid bürgerlichen Eindruck der Angelegenheit vollkommen. Fast könnte man fragen, ob Herr v. Jagow dem ›Pan‹ durch die Unterlassung der Annäherung an Frau Durieux nicht mehr geschadet hätte, als durch die Konfiskation der Flaubert-Nummer, und der Ausruf auf der Friedrichstraße: »Der Polizeipräsident hat meine Gattin beleidigt. Sensationelle Nummer des ›Pan‹!« legt die Erwägung nahe, ob man in solchen Ehrenhändeln dem Störer des ehelichen Friedens nicht prinzipiell zwei Kolporteure ins Haus zu schicken hat. Herr Cassirer hatte zwar schon durch einen Rittmeister Aufklärungen empfangen und »seinerseits« die Sache für erledigt erklärt; er hatte aber »keinen Einfluß« auf die Entschlüsse der Redaktion. Deutsche Verleger sind gegenüber den Geboten ihrer Redakteure vollkommen machtlos und gegen einen ausbeuterischen Angestellten helfen ihnen bekanntlich weder die Gerichte noch können sie selbst mit dem Komment in der Hand einen Privatwunsch durchsetzen. Die Redakteure des ›Pan‹ waren nicht davon abzuhalten, einen Eingriff in das Familienleben ihres Verlegers zu begehen. Zwar hat Herr Cassirer zugegeben, eine Bemerkung des Herrn v. Jagow — »der ›Pan‹ kann über mich schreiben, was er will« — habe ihn schließlich bestimmt, seine Redaktion gewähren zu lassen. Aber wenn er nach einer solchen ausdrücklichen Erlaubnis des Polizeipräsidenten sich schon nicht bewogen fühlte, Herrn v. Jagow zu schonen, so bleibt es immerhin verwunderlich, daß es dem ›Pan‹ unbenommen blieb, über seinen eigenen Chef zu schreiben, was er wollte. Indes, es war nicht nur Naivität notwendig, um die Publikation zu rechtfertigen, sondern wahrlich auch, um sie zu veranlassen. Der Glaube an die Plumpheit des Herrn v. Jagow war plumper. Denn der Amtsmensch ist zwar ungeschickt genug, um seinen Besuch bei der Schauspielerin mit der Berufung auf sein Zensoramt harmlos zu machen, aber so ungeschickt, um sein Zensoramt als Besucher der Schauspielerin gefährlich zu machen, ist er nicht. So ungeschickt, es zu glauben, sind nur die Polemiker und die Verleger. Herr v. Jagow hat es schriftlich gegeben, um sich zu decken. Hätte er drohen wollen, so hätte er es mündlich gegeben. Ganz so dumm, wie die Journalisten es brauchen, sind die Machthaber nicht in allen Fällen; sie sind nur manchmal dumm genug, dem Verdacht, dem sie ausweichen wollen, entgegenzukommen. Wenn sie das Interesse für Theaterfragen zum Vorwand für erotische Absichten nehmen, so machen sie es anders, und wenn sie sich auf ihr Amt berufen, so wollen sie sich schützen, nicht preisgeben. So flink macht einer einem tüchtigen Verleger nicht den Tartuffe; er müßte denn von einem tüchtigen Verleger dafür bezahlt sein. Daß die Freundlichkeit der Dame, die Herrn v. Jagow auf der Probe kennen gelernt hatte, inszeniert war, muß man trotz der Pünktlichkeit des Aufschreis des gekränkten tüchtigen Verlegers nicht annehmen. Das ist nur in jenen Teilen der Friedrichstraße üblich, wo keine Zeitschriften feilgeboten werden. Aber daß das Maß dieser Freundlichkeit die Annäherung des Dritten nicht absurd erscheinen ließ, ist ebenso wahrscheinlich, wie es für eine Schauspielerin nicht unehrenhaft ist, daß sie zur Ansprache eines Polizeipräsidenten ein freundliches Gesicht macht. Es geht nicht an, die erotische Dignität und den erotischen Geschmack des Paares unter Beweis zu stellen, und darum kann Herrn v. Jagow nichts Schlimmeres vorgeworfen werden als Neugierde, wiewohl ihm auch die erwiesene Absicht auf eine Schauspielerin selbst die Todfeinde seines Regimes nicht ankreiden würden. Nur der Liberale trägt kein Bedenken, gegen den Tyrannen die Argumente des Muckers anzuführen, und was er Satire nennt, ist das mediokre Behagen über einen Zeremonienmeister, der durch eine Orangenschale zu Fall kommt. Und antwortet man ihm, daß man Schutzmannsbrutalitäten verabscheuen und gleichwohl das Gewieher über den ausgerutschten Präsidenten verächtlich finden kann, so wird das Maul, das bisher nur »etsch« sagen konnte, frech über alle Maßen. Herr Kerr nennt jetzt jeden, der »noch behauptet, er habe einen Privatbrief öffentlich behandelt«, und jeden, der »noch behauptet, er habe unbefugt eine völlig beigelegte Sache der Öffentlichkeit übergeben«, »einen Halunken«, und der ›Pan‹ setzt seine Bemühungen, sich interessant zu machen, fort. Herr Cassirer, der nur noch am Geschäft Beteiligte, duldet still. Ich will dem aufgeregten Feuilletonisten, der schon vergebens bemüht war, den Schleier vom Vorleben des Herrn v. Jagow wegzuzupfen, die Freude an keiner seiner neuen »Feststellungen« verderben. Er verspricht zu kontrollieren, welche Blätter sie ihm unterschlagen werden, und es ist zu hoffen, daß alle so klug sein werden, sie ihm nachzudrucken. Denn kein Angriff vermöchte die Miserabilität der Angelegenheit besser zu entblößen, als diese Verteidigung. Ich möchte Herrn Kerr den Rat geben, sein Geschrei zu verstärken und auch noch denjenigen einen Halunken zu nennen, der ihn beschuldigt, Herrn v. Jagow die goldene Uhr gestohlen, oder seine Tante Friederike Kempner geschlachtet zu haben. Je mehr Leute, die grundlose Behauptungen aufstellen, er Halunken nennt, desto besser lenkt er die Aufmerksamkeit von den gegründeten ab und dem ›Pan‹ zu. Denn ob Herr Kerr »befugt« oder nicht befugt war, im ›Pan‹ etwas zu veröffentlichen, hat er mit seinem Verleger auszumachen, und ob er diesem die Erlaubnis abgeschmeichelt oder abgetrotzt hat, ist eine Sache, die die Öffentlichkeit nicht sonderlich interessiert. Ob Herr Kerr eine Affäre, die der Ehegatte beigelegt hatte, ausweiden durfte, hat er mit dem Ehegatten auszumachen. Wesentlich allein ist, daß dieser nichts dagegen einzuwenden hat. Nicht wesentlich zur Beurteilung der Ethik des Herrn Kerr, aber zur Beurteilung des Falles. Nicht ob Herr Kerr tut, was ihm vom Verleger-Gemahl erlaubt oder verboten ist, sondern ob dieser erlaubt oder verbietet, ist relevant. Dieser hat sich, so versichert Herr Kerr, bei der Erledigung der persönlichen Affäre zwischen ihm und dem ehestörenden Herrn v. Jagow »nachdrücklich« die Verwertung des »politischen Charakters der Angelegenheit« durch Herrn Kerr vorbehalten. Das heißt, er »hat sich zwar gegen die Veröffentlichung des Angriffs im ›Pan‹, weil er dessen Verleger ist, gesträubt — keineswegs aber gegen seine Veröffentlichung überhaupt«. Man muß zugeben, daß eine bessere Verteidigung eines Mannes, der beschuldigt wird, die Beleidigung seiner Frau zur Hebung seiner Halbmonatsschrift verwendet zu haben, gar nicht gedacht werden kann. Herr Kerr sagt, daß ihm etwas erlaubt war. Herr Cassirer hat bei den ritterlichen Verhandlungen mit Herrn v. Jagow ausdrücklich das staatsgrundgesetzliche Recht des Herrn Kerr, zu denken und zu schreiben, was er will, gewahrt. Dagegen, daß es im ›Pan‹ geschehe, hat sich Herr Cassirer gesträubt. Aber dann hat er’s doch zugelassen. Es ist nun wohl denkbar, daß bei der ritterlichen Austragung Herr v. Jagow die Gedankenfreiheit des Herrn Kerr, gegen die Herr Cassirer nichts ausrichten zu können beteuerte, anerkannt hat. Aber es ist immerhin zu bezweifeln, ob er die Austragung noch als ritterlich akzeptiert hätte, wenn der Gegner sich die Verwertung im eigenen Blatt vorbehalten oder ihm auch nur gesagt hätte: Herr v. Jagow, auf Ehre, Sie sind ein Ehrenmann, ich bin jetzt davon durchdrungen, daß Sie meine Frau nicht beleidigt haben. Aber, auf Ehre, ich hab da eine etwas wilde Redaktion und beim besten Willen kann ich es nicht verhindern, daß zum Quartalswechsel so etwas hineinkommt wie, daß Sie doch meine Frau beleidigt haben ... Hätte sich Herr Cassirer mit Herrn v. Jagow geschlagen, so böte immerhin die Möglichkeit, daß die Gegner unversöhnt schieden, eine Entschuldigung. Aber er hat sich ausgeglichen, versichert selbst im ›Pan‹, sein persönlicher Zwist zwischen ihm und Herrn v. Jagow sei »völlig beigelegt«, verspricht, auf »den zwischen uns erledigten Fall« nie mehr zurückzukommen — dazu würden ihn auch »keinerlei Angriffe bewegen« —: und läßt Herrn Kerr seine nachträgliche Forderung präsentieren. Denn Herr Kerr »sei befugt, die Angelegenheit öffentlich zu behandeln.« Es ist so albern und klingt so gentlemanlike, daß man sich fragt, ob es nicht doch vielleicht einen Komment gibt, der dem Beleidigten ausdrücklich gestattet, nachdem er volle Genugtuung erhalten hat, den Gegner zwar nicht selbst anzuspucken, aber es durch einen Dritten besorgen zu lassen. Ecco. Herr Kerr nennt das Ganze einen »ethischen Spaß«. Ich nenne es eine völlig humorlose Unsauberkeit. Und für den Fall, daß Herr Kerr mich deshalb einen Halunken nennen sollte, behalte ich mir nachdrücklich das Recht vor, den politisch-persönlichen Charakter seiner Affäre so eingehend zu besprechen, daß ihm einige Parenthesen wackelig werden könnten. Bis dahin hat er die käsigste demokratische Gesinnung auf seiner Seite. Auch die Politiker in Schönheit, die sich der Geste freuen, welche einem Machthaber auf den Hosenlatz weist, mögen die Schlacht für gewonnen halten. Zu bald aber dürfte die Ansicht populär werden, daß es den Ästheten nichts hilft, wenn sie sich durch schlechte Manieren einer guten Sache würdig erweisen wollen. Die Kultur, die auf Old Stratford-Papier arbeitet, versagt bei Gelegenheiten, wo manch ein deutscher Kommis seinen Mann stellt. Nur im Geschäft ist sie ihm über. Pan war der Sohn des Hermes. Dieser aber ist ein Handelsgott und heißt jetzt Cassirer.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 319/320, XIII. Jahr
Wien, 31. März 1911.