Girardi und Kainz
Mai 1908
Herr Kainz hat den schlechten Geschmack, in der Stadt, in der Girardi den Valentin gespielt hat, in den Tagen, da Girardi in Wien wieder auftritt, den Valentin zu spielen. Daß Herr Kainz es jetzt wieder wagen konnte, mit seinen Kopftönen in dies friedlichste Heiligtum gemütvoller Darstellung einzudringen, daß er dazu eine Bühne, eine Galerie und eine Presse fand, zeigt, auf welchem Punkt die Echtheit im Kunstempfinden dieser Stadt angelangt ist. Ein Kritiker benützt die Gelegenheit, zu versichern, der Mann sei zwar »immer schlicht und gemütstief«, aber speziell »bei der Entfaltung von Valentins Dienertreue« finde er »Töne, die tief ins Herz dringen«. Was muß das für ein Herz sein! Ein anderer will gar eine »bezwingende und berückende Fülle« von Gemüt und Seele entdeckt haben. Das hat Herrn Kainz bis heute noch niemand nachgesagt. Aber Kunstverstand besitzt er hinreichend, um sich für den Rezensenten zu schämen, der von ihm gesagt hat, er habe in manchen Szenen Girardi »überragt«. Solche Bereitwilligkeit, mit dem Mangel zu völlern und vor der Fülle zu hungern, ist auf dem weiten Erdenrund nur in dieser Stadt anzutreffen. Ich wünsche es ihr von Herzen, daß sie den reichsten theatralischen Schöpf er ihrer verwahrlosten Gemütszone an ein kälteres Klima verliert. Er hat es nicht notwendig, sich von Reportern den Mangel literarischen Ehrgeizes vorwerfen zu lassen. Er darf sich auch vor Ungezogenheiten schützen, die im Dienste der journalistischen Kulissenpolitik begangen werden. In Berlin, der Zentrale des literarischen Snobismus, hat man vielleicht Verständnis für die Eigenberechtigung eines schöpferischen Schauspielers. Mit dem Trottelgerede von dem niedrigen literarischen Niveau, auf dem Girardi siegt, verschont man ihn dort, weil man weiß, wie spärlich die geeigneten dramatischen Gelegenheiten sind, die auf der Höhe der Kunst dieses Darstellers stünden. Wenn er sich von einem Buchbinder den Pappendeckel liefern läßt, so bleibt er ungebunden; nie vermöchte ein großer Künstler sich selbst auszuschöpfen, wenn er zugleich der anderen künstlerischen Persönlichkeit diente. Soll die Literatur auf die Bühne gehören, dann dient ihr im besten Fall der Regisseur, der ein mittelmäßiges Ensemble in der Hand hält, aber nie die darstellerische Individualität. Neunzehntel Shakespeare wird an dem größten Schauspieler zuschanden. Das hat Goethe erkannt, aber ein Wiener Reporter würde es nicht zugeben. Herr Reinhardt, heißt es, habe eigens für Girardi einen Nestroy-Zyklus arrangieren wollen, und Girardi zog einen Buchbinder-Zyklus vor. Wer die Anklage liest, muß davon überzeugt sein, daß Girardis literarisches Urteil die Wahl getroffen hat. Daß er Herrn Buchbinder für eine bedeutendere Erscheinung hält als Nestroy, wird über allen Zweifel gestellt. Ich halte nun jenen für einen szenischen Handlungsgehilfen und diesen für den tiefsten satirischen Denker, den die Deutschen nach Lichtenberg gehabt haben und in dessen Nähe den Namen Heine zu nennen, ich als Blasphemie empfinde. Wie hat dieser außerordentliche Geist auf der Bühne geschaltet? Er stellte sich an die Rampe einer gleichgültigen französischen Possenszene und ließ an ihr seine Lichter aufflammen. Trotzdem blieb es noch dunkel. Denn seine Blitze zwingen den Leser zur Bewunderung, im Theater wird — durch die Nestroy ähnlichste Darstellung — kaum mehr als das Ergötzen an der lustigen Situation lebendig. Philosophischer Witz, aphoristisch erhöhter Humor — ich kann mir nicht denken, daß selbst das aufnahmsfähigere Publikum des Schauspielers Nestroy auf der Höhe gestanden hat, die für ein Erfassen solcher Geistigkeit vorausgesetzt wird. Wie gestaltet Girardi? Er ist Schauspieler. Er nimmt eine gleichgültige Possenhandlung und zeigt an ihr seine Wunder. Sie sind anderer Art als die Nestroys, unvergleichlich bühnenhafter. Er spielt an einem Schund sich selbst. Es ist die törichteste Meinung, daß er mehr böte, wenn er Nestroy spielte, weil er dann weder Nestroy spielte noch sich selbst. Girardi ist ein wienerischer Typus für sich, der vielleicht von der Raimundseite kommt und sich kaum an einem Punkt mit der Welt Nestroys berührt. Daß er die Aphorismenkette des komischen Raisonneurs, der aus dem ureigenen Nestroy’schen Geist redet, nicht abhaspeln könnte, versteht sich; aber er wurzelt auch außerhalb der breiten Komik der zweiten Figur der Nestroy-Welt, des Scholzischen Typus. Er ist eben Girardi selbst, der am Anfang einer Reihe von Komikern steht. Da er nicht Possen schreibt, muß er sie sich liefern lassen. Notwendig hätte er es nicht; er schafft ja doch aus dem Stegreif. Aber es gehört der ganze literarische Snobismus der Reinhardt-Gesellschaft und ihr ganzes Nichtverständnis für theatralische Individualitäten dazu, Girardi einen Nestroy-Zyklus zuzumuten. Ein vollkommener Routinier wie Herr Thaller, der die überkommene Form des dünnen Sprechkomikers beherrscht, ist als Weinberl oder Kampl durchaus glaubhaft. Was sollte einer, der ein Eigener ist und ein Anderer als Nestroy, mit diesen Gestalten anfangen? Die Theaterfremdheit hätte Recht, wenn Sie Herrn Thaller in solchen Rollen über Girardi stellte, ganz so wie sie einst Schweighof er gegen ihn ausgespielt hat, der auch nicht mehr war als der gewandte Faiseur einer gegebenen Tradition. Girardis Popularität ist auf den ersten Blick unbegreiflich. Die Eigenen sind sonst immer im Nachteil; besonders in der Literatur, wo sie sich selbst statt der »Sache« dienen. Daß Girardi trotz seiner unerreichten Feinheit und Selbstherrlichkeit beliebt werden konnte, beweist, daß zu den Dingen der Theaterkunst das Publikum immerhin noch jene Beziehung hat, die ihm zu den anderen Künsten fehlt. Die Journalisten haben zu nichts Künstlerischem eine Beziehung. Darum ist es möglich, daß sie Girardi zu einem Nestroy-Zyklus zureden, und Herrn Kainz in einer Raimund-Rolle protegieren. Einen Valentin Girardis, in dem ausnahmsweise die schauspielerische und die dichterische Persönlichkeit zusammenfließen, können wir leider nicht an jedem Tag sehen. Hat er ihn aber einmal gespielt, so bleiben uns die Tränen für ein Jahr in den Augen, und unvergeßlich hallt die Aufforderung des Todes in uns weiter. Springt Herr Kainz ein, dann leg’ ich meinen Hobel hin und sag’ der Welt ade!
Vgl.: Die Fackel, Nr. 254-55, X. Jahr
Wien, 22. Mai 1908.