Die neue Art des Schimpfens
Dezember 1911
In einem Aufsatz »Über eine neue Art des Schimpfens« sagt der Professor der Literaturgeschichte Dr. Richard M. Meyer in Berlin, der die Literatur in Dekaden eingeteilt hat:
.... Maximilian Harden, wenn ich nicht irre, hat auch hier bahnbrechend gewirkt ... Bei einem Konflikt mit einer Zeitung, die ihn unzweifelhaft verleumdet hatte, genügte es ihm nicht, sie »Dirne« zu nennen — er mußte diese Bezeichnung noch durch die ekelhaftesten Einzelheiten verdeutlichen. Das hat nicht nur bei seinem in aller erbittertsten Feindschaft treuesten Schüler Karl Kraus in Wien Schule gemacht. Die beliebtesten Scheltwörter »Eunuch« und ›Metze‹ werden stimmungsvoll ausgemalt und so zwei Götzen unserer Zeit zugleich gedient — jenen beiden, die Götzen sowohl primitiver als raffinierter Roheit sind: dem Sinnenkitzel und dem Zerstörungsdrang. Ich muß mich in diesem Punkt als durchaus altmodisch bekennen. Ich glaube durchs Leben zu kommen, ohne gewisse Worte auszusprechen oder auszuschreiben; und ich halte es für das berechtigte Privileg des gebildeten, ja des anständigen Menschen, auf schmutzige Ausdrücke ebenso zu verzichten wie auf schmutzige Handlungen — soweit wenigstens, wie ihnen eine freie Wahl bleibt; der Prüderie in wissenschaftlichen Fragen soll damit selbstverständlich nicht das Wort geredet werden ....
Gewiß nicht. Was aber die neue Art des Schimpfens anlangt, so glaube ich nicht, daß man mir in den dreizehn Jahrgängen der Fackel einen Fall wird nachweisen können, wo ich das Wort »Dirne« als Schimpfwort gebraucht hätte und nicht als die Bezeichnung eines erstrebenswerten Zustandes. Wo ich das Wort selbst gebraucht hätte und nicht vielmehr zitiert, um die engstirnige Terminologie einer Gesellschaft zu brandmarken, die zu mesquin ist, um den mesquinen Ton eines Wortes zu fühlen, weil sie zu feig ist, um dafür das Wort Hure zu setzen. Was die neue Art des Schimpfens anlangt, so glaube ich nicht, daß man mir in den dreizehn Jahrgängen der Fackel einen Fall nachweisen wird, wo ich die Dirne nicht der Verachtung entrissen und nicht sofort dem Haß als Hure präsentiert habe. Wo ich je anders als mit Wucherzinsen der Verachtung dem Gesellen heimgezahlt habe, der das Wort als einen schmutzigen Ausdruck nicht deshalb auffaßte, weil es den Schmutz seiner Gesinnung trug, sondern weil er das davon bezeichnete Leben für ein schmutziges hielt, für eines, an dem er sich seine Finger, seine Notdurft, seine ganze ekelhafte Leiblichkeit und Moralität abwischen durfte, um als Bürger oder Professor der Literaturgeschichte rein dazustehen. Was die neue Art des Schimpfens anlangt, so glaube ich nicht, daß man mir in den dreizehn Jahrgängen der Fackel einen Fall nachweisen wird, wo ich einer Zeitung die Ehre erwiesen hätte, sie eine Dirne zu nennen, es sei denn, daß ich an meine Geringschätzung einer Zeitung absichtlich und ausdrücklich das Maß der Geringschätzung angelegt habe, das ein Literaturprofessor für eine Dirne hat und nicht für eine Zeitung. Denn da ein solcher nichts so sehr verachtet wie eine Dirne und vor nichts so viel Respekt hat wie vor einer Zeitung, so konnte ich, um mich ihm verständlich zu machen, keinen anderen Vergleich wählen und ich hätte weiß Gott wie viel darum gegeben, daß es auch mir gegönnt gewesen wäre, eine Dirne zu verachten, um sie einmal aus tiefstem Herzen eine Zeitung nennen zu können! Was aber die neue Art des Schimpfens anlangt, so möchte ich mich fast zu der Behauptung versteigen, daß man mir in den dreizehn Jahrgängen der Fackel auch keinen Fall nachweisen wird, wo ich den Herren der Gesellschaft im Verhältnis zu den Dirnen einen andern Schwächezustand als den geistigen und moralischen zum Vorwurf gemacht, kurzum wo ich das Wort »Eunuch« als Schimpfwort gebraucht hätte und nicht als die Bezeichnung eines erstrebenswerten Zustandes. Eines erstrebenswerten Zustandes für Männer, welche die Dirnen nur deshalb verachten, weil sie im Gegensatz zu den Dirnen, welche wenigstens Weiber sind, alles Mögliche sind, nur keine Männer. Für Kerle, die zu Unrecht einen Bart tragen und mit den Attrappen der Männlichkeit über ihre wahre Beschaffenheit den Betrachter zu täuschen wissen. Mit diesen Verkehrshindernissen sich dem Geist in den Weg stellen und durch solchen Schabernack einer mehr ornamentalen oder koloristischen als in den Vorzügen des Kerls begründeten Wirkung die wahre Männlichkeit um den Kredit betrügen. Auch wird man mich in dreizehn Jahrgängen nicht dabei betreten haben, daß ich einen Götzen unserer Zeit anders bediente als dadurch, daß ich eine primitive oder raffinierte Roheit gegen ihn selbst betätigt habe. Den Sinnenkitzel der Literaturprofessoren zu erregen, darauf hatte ich’s nie abgesehen. Aber dem Zerstörungsdrang habe ich nicht gedient, sondern ihn aus eigener Machtvollkommenheit gegen jene Individuen, Typen, Berufe, Klassen kommandiert, die mich ein Grund dafür dünkten, daß sich die Sonne manchmal schwerer entschließt zu erscheinen als ein Tagblatt! Ich leugne nicht, daß ich, um die kosmischen Dinge wieder flott zu machen, namentlich in der letzten Zeit der Kastrierung gewisser Erwerbskreise das Wort gesprochen habe. Die ewigen Gewalten, die ich mir vollständig erhalten will, verstehen mich. Es mag ein sonderbarer Zusammenhang sein, daß von mir, der nie das Wort Eunuch als Tadel über die Lippen gebracht hat, gerade jetzt es behauptet wird, wo ich der Sache erst Geschmack abgewinne und einen Zustand, der mir als das ehrlichste Eingeständnis eines unnützen Lebens Respekt einflößt, auf den Hochschulen als obligat einführen möchte. Wäre mein Vorschlag durchgeführt und ich verhöhnte hinterdrein den Eunuchen, ich wäre kein Mann, und nichts würde ich für ignobler halten, als die Verspottung des Opfers einer Prozedur, zu der ich selbst zugeredet habe. Ich schimpfe nicht, ich verstümmle! Nicht um ein Schimpfwort kann es sich handeln, wo eine ernste Sache auf dem Spiele steht. Ein Literaturprofessor kommt zweifelsohne ganz gut durchs Leben, ohne gewisse Worte auszusprechen oder auszuschreiben. Aber er würde gewiß noch besser durchs Leben kommen, wenn er auch von andern Verpflichtungen befreit wäre, deren Ausübung andere Leute in seinen Augen ehrlos macht. Lassen wir doch den Streit um Worte. Worte sind oft wichtiger als Dinge, und was weiß ein Mann, den schon die Lebensfremdheit von den Dingen trennt und der sich berufsmäßig mit Literatur zu befassen hat, von der Bedeutung der Worte! Gewisse Worte auszusprechen oder auszuschreiben, hat mich noch keine irdische Rücksicht verhindern können, denn gewisse Worte sind mir immer sogar wichtiger gewesen als gewisse Leute; und wären sie so banal wie diese, so abgegriffen wie sie, die sie nur abgreifen können: der Künstler belebt sie und er vermag darin mehr als der Schöpfer, der ja einen Professor der Literaturgeschichte ein für allemal erschaffen hat und beim besten Willen nicht imstande wäre, ihn so anzublasen, daß er neues Leben gewänne, was doch mir an den hoffnungslosesten Fällen noch immer gelungen ist. Glaubt einer wirklich, daß ich dies mit Schimpfwörtern zuwegebrächte? Könnte ich einen Professor der Literaturgeschichte dadurch in die Literaturgeschichte bringen, daß ich ihn kurzweg einen Eunuchen nenne? Freilich wäre ich selbst dazu fähig, indem ich das Wort so belebe, daß auch der Betroffene seine Freude dran hat. Denn das kann ich. Ich mache aus Schimpfwörtern Schimpfworte. Was aber die neue Art des Schimpfens anlangt, so wäre sie die älteste, wenn sie sich ohne Atem einfach der Wörter bediente, die ihr jener zum Vorwurf macht, und wenn der Angriff auf dem Niveau erfolgte, auf dem der Beleidigte lebt oder der mittelmäßige Zeuge der Beleidigung. Sie ist aber so durchaus original, daß sie sogar darauf verzichtet, ihn Richard Moses Meyer zu nennen, weil diese Lesart schon zu Pharaos Zeiten in Berlin beliebt war und weil es wirklich nichts gegen Moses beweist, daß ein Berliner Literaturprofessor nicht so heißen will und deshalb die Kastrierung seines Vornamens befürwortet, während er für die Erhaltung seines Zunamens in dessen vollständiger Banalität mit Recht besorgt ist. Aber der Verfolgungswahn, der einen guten Vornamen preisgibt, um angesichts seines Zunamens vor den Abkürzern zu zittern, könnte mich wohl verleiten, mit dem Richard Moses M. nach Gebühr zu verfahren, mit ihm, der selbst kein Mitleid gehabt hat, als ihn die Literaturgeschichte anflehte, sie lieber ganz als in Dekaden verschnitten zu mißbrauchen. Wir sind seit damals bedenklich im Rückstand. Dieser R. Moses M. hat, da dreizehn Jahrgänge mehr als eine Dekade sind, die Fackel gänzlich ignoriert, und weiß von ihr nicht mehr, als was ihm einige beleidigte Schmierer zugetragen haben, oder was von einer dunklen Feindesmacht übrig bleibt, wenn ein Gerücht von ihr zu der aller Potenz instinktiv ausweichenden Professur dringt. Dieser R.M.M. weiß, daß dort »geschimpft« wird, und denkt sich, es werde wohl auch das Schimpfwort »Eunuch« gebraucht werden. Dieser M.M. weiß, daß es bei Herrn Harden, dem selbst er in zwanzig Jahrgängen der ›Zukunft‹ keinen neuen Gedanken, kein geborenes Wort nachweisen wird, vorgekommen ist, und er hat wohl gehört, daß in Wien »so ein ähnliches Blatt« wie die ›Zukunft‹ erscheine. Denn von dieser vergleichenden Wissenschaft, die ohne Vergleich urteilt, wird mich nichts mehr befreien. Ich kann in jedem Monat dreitausend Sätze schreiben, deren letzter das Lebenswerk eines Leitartiklers sprengt und verschwinden macht — zur Berliner Universität dringe ich nicht vor. Ich kann im Urteil derer, die Literatur lesen können, über die Höhe emporwachsen, auf der ein Toter dissertationsreif ist: ich werde es doch immer wieder erleben, daß ein Mensch, der für die Ignorierung lebender Literaturwerte vom Staat bezahlt wird, und noch lange ehe ich ihn dafür beschimpfe, behaupten wird, ich sei ein Schimpfer und ein Wasserfall sei der treueste Schüler eines Water-Closets. In der Literatur ist es dem Fach nicht gegeben, die Fachleute zu interessieren; aber wenn es schon darauf verzichten muß, ihnen bessere Ansichten beizubringen, so sieht es sich auch vor der Aufgabe unvermögend, ihnen zu besseren Manieren zuzureden. Es möchte ignoriert werden; das leiden sie nicht. Sie müssen, unverantwortlicher als die Reporter, berichten, was sie mit halbem Ohr aufgeschnappt haben. Ich werde ihm noch die Hälfte nehmen, diesem M.! In ihren Literaturgeschichten haben solche Individuen, die sogar den Beruf des Journalisten verfehlt haben, den Drang der Informiertheit und nennen mich unter den Wiener »Kritikern«, in der Reihe der lächerlichsten Beispiele. Ein gewisser Eduard Engel, der im Jahr einen ungebührlichen Papierverbrauch für literarhistorische Zwecke hat, erdreistet sich der Gnade, eine Korrespondenzkarte, ursprünglich an Herrn Friedrich S. Krauß adressiert, mit darübergeschriebenem »Carl«, an mich zu richten, er habe »gehört«, daß ich einmal Herrn Hardens Stil »besprochen« habe, er arbeite gerade über Harden, ich möge ihm leihweise »den Artikel« überlassen. Ein sogenannter Arnold in Wien, unbekannten Aufenthalts als Levysohn, ersucht mich, ich möge ihm irgendeinen Behelf für eine Arbeit über Herrn Hofmannsthal liefern. Ich frage mich, ob ich darum Nächte durchwacht, Felsen hinweggeräumt habe, darum gegen alle Instinkte der Menschheit rebellisch geworden bin, daß ich zuletzt der Dienstmann sei für das niedrige Bedürfnis der Literarhistoriker. Diese Spediteure der Unsterblichkeit werden sich verflucht wundern, wenn der, den sie nicht aufladen wollten, sie auf seinem Rücken hinübernimmt, um sie zum unbeschreiblichen Gaudium der herumstehenden Generationen hinplumpsen zu lassen! Denn ich teile die Literatur nicht nach Dekaden, sondern nach Dummköpfen ein, und ich lasse keinen entwischen, dem es gepaßt hätte, hienieden ein auskömmliches Leben zu führen, um dann vergessen zu werden. Ich lese, was einer, der beim Schwätzen so besonnen ist, daß er »gewisse Worte nicht ausspricht«, in den deutschen Revuen ablagert, um dann daraus Geschichte zu machen. Ich lasse mir die ekelhaftesten Einzelheiten einer salonfähigen Sprache nicht entgehen. Ich bin nicht um den Genuß der Definitionen gekommen, die einer vom Witz gab, der weniger Witz hat, als alle, die keinen haben, zusammen. Nicht um den Genuß des Nachweises, daß Speidel ein geringerer Schriftsteller war als Kürnberger, weil dieser leicht produziert und jener um jedes Satzes willen gelitten habe. Und jetzt habe ich es mich nicht verdrießen lassen, zu lesen, wie einer, der mich lesend nie begriffen hätte, sich registrierend an mir vergreift und mich in eine falsche Dekade schiebt, wo er unter den »Erscheinungsformen der literarischen Pathologia sexualis« den Trieb feststellt, sexuelle Bezeichnungen als Schimpfwörter zu verwenden. Was soll man da machen? Eine neue Art des Schimpfens wäre es zwar nicht. Aber es gibt noch ältere und bessere Arten. Und wenn sich das Gerücht, welches an der Berliner Universität Vorlesungen hält, bewahrheiten sollte und wenn ich wirklich ein Schimpfer bin, so bin ich einer, der das Geschlecht als eine so wenig schimpfliche Einrichtung der Natur erkannt hat, daß er seinen Bedarf an Schimpfwörtern geflissentlich außerhalb dieses Gebietes deckt, dagegen — an dreizehn Jahrgängen wird man es nachweisen können — nie gezögert hat, sich aus dem unermeßlichen Vorrat, den die Sprache bietet, zu bedienen, und einen Trottel so laut und überzeugend einen Trottel zu nennen, daß das Echo ihn weitergibt, das Gerücht ihn vergrößert, sämtliche Trottel, die in einer Dekade Platz haben, sich in ihm getroffen fühlen, so daß alle für einen und einer für alle steht und die Literaturgeschichte sich schließlich genötigt sieht, der gigantischen Erscheinung eines Riesentrottels ein besonderes Säkulum einzuräumen!
Vgl.: Die Fackel, Nr. 339/340, XIII. Jahr
Wien, 30. Dezember 1911.