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Aus dem Papierkorb

Oktober 1909

Und wenn der geistige Unflat des neuen Deutschland eimerweise auf den Markt geschüttet wird, man befaßt sich doch immer wieder gern mit jenen seltenen Büchern, die nicht erscheinen. Wie steht’s, so fragt man, mit den gesammelten Schriften Ludwig Speidels? Es ist, als ob der Journalismus die wertvollste Beute, die er je errafft hat, nie mehr herausgeben wollte. Grauenhaft, zu denken, daß es für einen Künstler, den der Tag als Geisel der Unsterblichkeit gefangen hielt, auch nach dem Tod keine Befreiung geben soll. Er starb, aber aus dem Sarg der Zeitlichkeit, in dem er gelebt hatte, durfte er nicht auferstehen. Und kein deutscher Verleger findet sich, der den Journalisten den Schatz entrisse, den sie so sorglich hüten, weil er ihre angestammte Armut verraten könnte. Nie zuvor und nie seither hat die Sprachkunst eine ähnliche Gastrolle auf den Schmieren des Geistes gespielt. Das Leben Speidels mag die Presse als einen Zwischenfall empfindender störend in das von Heine begonnene Spiel trat. Er schien es mit dem leibhaftigen Sprachgeist zu halten; er lud ihn an Feiertagen auf die Stätte der schmutzigsten Unterhaltung, damit er sehe, wie sie’s treiben. Nie war ein Kollege bedenklicher als dieser. Wohl konnte man mit ihm Parade machen; aber sein Lebenswerk, führte man es heute vor, es brächte jene Demütigung, die man damals eßlöffelweise als Stolz einnahm. Man hat ihm die Unsterblichkeit des Tages, wie er sein Feuilleton nannte, gegönnt; aber eine Sammlung seiner Feuilletons könnte den Tag der Unsterblichkeit einläuten. Und die Journalisten handeln pietätvoll, berufen sich auf seine Bescheidenheit, die ihm eine Buchausgabe versagte, und gehen hin und schenken uns ihre eigenen Bücher.

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Denn es ist das böse Zeichen dieser Krise: der Journalismus, der die Geister in seinen Stall getrieben hat, erobert ihre Weide. Markierte Personen, die jahrelang unter dem Strich gelebt haben, drängen sich in die gute Gesellschaft. Tagschreiber möchten Autoren sein. Es erscheinen Feuilletonsammlungen, an denen man nichts so sehr bestaunt, als daß dem Buchbinder die Arbeit nicht in der Hand zerfallen ist. Brot wird aus Brosamen gebacken. Was ist es, das ihnen Hoffnung auf die Fortdauer macht? Das fortdauernde Interesse an dem Stoff, den sie sich »wählen«. Wenn einer über die Ewigkeit schwätzt, sollte er da nicht gehört werden, solange die Ewigkeit dauert? Von diesem Trugschluß lebt der Journalismus. Er hat immer die größten Themen und unter seinen Händen kann die Ewigkeit aktuell werden; aber sie wird ihm auch ebenso leicht wieder inaktuell. Der Künstler aber gestaltet den Tag, die Stunde, die Minute. Sein Anlaß kann zeitlich und lokal noch so begrenzt und bedingt sein, sein Werk wächst um so grenzenloser und freier, je weiter es dem Anlaß entrückt ist. Es veralte im Augenblick: es verjüngt sich in Jahrzehnten. Was vom Stoff lebt, stirbt vor dem Stoff. Was in der Sprache lebt, lebt mit der Sprache. Wie leicht lasen wir jenes Geplauder am Sonntag, und nun, da wirs aus der Leihbibliothek beziehen können, vermögen wir uns kaum durchzuwinden. Wie schwer lasen wir die Sätze der ›Fackel‹, selbst wenn uns das Ereignis half, an das sie anknüpften. Nein, weil es uns half! Je weiter wir davon entfernt sind, desto verständlicher wird uns, was darüber gesagt war. Wie geschah dies? Der Fall war nah und die Perspektive war weit. Es war alles vorausgeschrieben. Es war verschleiert, damit ihm der neugierige Tag nichts anhabe. Nun heben sich die Schleier.

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Dawider vermag die wertverschiebende Tendenz des Journalismus nichts auszurichten. Er kann den Uhren, die er aufzieht, Garantiescheine für ein Säkulum mitgeben: sie stehen schon, wenn der Käufer den Laden verlassen hat. Der Uhrmacher sagt, die Zeit sei schuld, nicht die Uhr, und möchte jene zum Stehen bringen, um den Ruf der Uhr zu retten. Er macht die Stunde schlecht oder schweigt sie tot. Aber ihr Genius zieht weiter und macht hell und dunkel, obschon das Zifferblatt es anders will. Wenn es zehn schlägt und elf zeigt, können wir im Mittag halten, und die Sonne lacht über die gekränkten Uhrmacher.

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Daß doch alle Überhebung der Mechanik, die sich mit dem Ruhm sozialer Nützlichkeit nicht bescheiden will, die Naturnotwendigkeiten nicht zu »richten« vermag! Die Journalisten versichern einander, ihre Werke seien unsterblich, aber nicht einmal die Versicherung bleibt erhalten, wiewohl sie wahrlich Anspruch darauf hätte. Daneben hat ein Geheimnis die Kraft, sich selbst in aller Mund zu bringen. Österreich ist das Land, wo am lautesten gesprochen wird und wo die Geheimnisse am strengsten gewahrt werden. Es ist das Land, in dem Festzüge veranstaltet und Tropfsteinhöhlen entdeckt werden. »Dabei stellte es sich heraus, daß man es nicht mit einer der vielen unbedeutenden Höhlen, wie sie im Kalkgebirge häufig vorkommen, sondern mit gewaltigen unterirdischen Räumen, die sich stundenweit ins Innere des Berges erstrecken, zu tun habe. Die Höhle führt zunächst so regelmäßig wie ein Eisenbahntunnel durch festes Gestein horizontal in den Berg und kann bis zur Tiefe von dreihundert Meter ohne jede Gefahr von jedermann begangen werden. Auch weiterhin sind die Schwierigkeiten des Eindringens nicht erheblich und stehen gar nicht im Verhältnis zu dem wunderbaren Anblick, der sich dem Beschauer bietet. Ein Spitzbogengewölbe von unabsehbarer Höhe umschließt herrliche Tropfsteinbildungen. Auf dem Boden liegen ganz absonderlich geformte Gebilde aus Kalzit und noch nicht erstarrter Bergmilch. An den Seitenwänden finden sich zarte Figuren von weißer und blauer Struktur, Bergkristall und Eisenblüte. Die Forscher drangen stundenweit gegen die Mitte des Berges vor und konnten in den Gängen und Stollen kein Ende finden ...« Ist dies die Sprache der Höhlenkunde oder der Literaturforschung? Wir sind andere Sehenswürdigkeiten gewohnt: Festzüge, die das Auge der Zeitgenossen blenden wie ein Gebilde aus Wunder und Krida.

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Kein Zweifel, Herr Felix Salten besitzt das riesigste Sortiment der Monarchie. Er ist wohl schon Kommerzialrat. Bedeutet das nicht die Unsterblichkeit in diesen Kreisen? Oder bedeutet die Unsterblichkeit in diesen Kreisen etwas anderes? In einer Berliner Revue, der ›Schaubühne‹, war davon zu lesen. Ich habe mir’s gemerkt, denn es ist mein Fluch, mich mit den Kleinigkeiten abzugeben, die diese Zeit zu Größen macht. Herr Salten hat eine Feuilletonsammlung erscheinen lassen und der Kritiker erweist Ludwig Speidel die Ehre, seiner bei diesem Anlaß zu gedenken. Man kann sagen, daß Speidel gut bei dem Vergleich wegkommt, denn es wird ihm eine Ähnlichkeit mit einem Teil Saltenscher Wesensfülle zugeschrieben, die auch noch den ganzen Sarcey nebst den Herren Bahr und Muther in sich schließe und durch welche die Formel der Madame de Staël: c’est un esprit neuf et hardi ..., für »einen andern Dichter-Kritiker«, nämlich Lessing, erdacht, erst »lebendige Wahrheit geworden« sei. Ich sehe die ›Schaubühne‹ gern. Nicht nur, weil mir — die Ausschließlichkeit des Theaterinteresses und die Verwissenschaftlichung des Tinterltums vorausgesetzt — mancher Beitrag Freude gemacht hat, sondern auch weil ihr Notizenteil eine gute Handhabe bietet, sich jeweils über den Stand des psychologischen Schmocktums in Deutschland zu informieren. Dabei lassen sich namentlich die Fortschritte überblicken, welche die subtilen Persönlichkeiten, die in den Wiener Redaktionen nicht recht reüssieren konnten, auf Berliner Boden machen. Der Journalismus in Wien bringt’s über den Geschichtenträger und Gebärdenspäher nicht hinaus. Er ist Amüseur oder Beobachter. In Berlin darf er’s mit der Psychologie halten. Nun ist es das Verhängnis allen Geistes aus zweiter Hand, daß sein Unwert dort leichter in die Augen springt, wo er sich der schwereren Leistung vermessen möchte. Der Plauderer ist gewiß eine der schalsten Kreaturen, die in unserem geistigen Klima fortkommen. Aber er hängt immer noch eher mit dem schöpferischen Wesen zusammen als der Beobachter und vollends der Psychologe, die bloß den Hausrat der Chuzpe benützen müssen, den die technische Entwicklung des Geisteslebens ihnen in die Hand gespielt hat. Der Amüseur sticht durch eine wertlose Begabung von der Geschicklichkeit des Beobachters ab, so wie sich dieser wieder von der wertlosen Bildung des Psychologen vorteilhaft abhebt. Das sind so die Grundtypen des geistigen Elends, zwischen denen natürlich ebensoviele Varietäten Platz haben, als die organische Welt des Geistes Gelegenheiten zum Abklatsch bietet. Nah dem Beobachter steht der Ästhet, der durch Liebe zur Farbe und Sinn für die Nuance ausgezeichnet ist und an den Dingen der Erscheinungswelt so viel noch wahrnimmt, als Schwarz unter den Fingernagel geht. Er kann aber auch mit dem Psychologen zu einer besonderen Art von feierlichem Reportertum verschmelzen, zu jenem zwischen Wien und Berlin, also etwa in Prag beliebten Typus, der aus Zusammenhängen und Möglichkeiten zu neuen Sehnsuchten gelangt und der in schwelgerischen Adjektiven einbringt, was ihm die Natur an Hauptworten versagt hat. Bei dem jähen Übergang, den gerade dieser Typus von der kaufmännischen Karriere in die Literatur durchmacht, wäre ein Dialog wie der folgende nicht bloß kein Zufall, sondern geradezu die Formel für die Komplikationen eines fein differenzierten Seelenlebens: »Hat Pollak aus Gaya bezahlt?« »Das nicht, aber er hat hieratische Gesten.«

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Oder zum Beispiel: »Es gibt Tagesschriftsteller, deren expansiver Wille die aktuelle Einfallslinie in die Sphäre des Unendlichen und Ewigen schwingt«. Und diesen scheint, wenn ich den Text richtig verstehe, Herr Salten zuzugehören. Soweit es in solchen Dingen auf den expansiven Willen ankommt, dürfte der Mann in der ›Schaubühne‹ recht haben. Der expansive Wille, der die Persönlichkeit von Westungarn nach Wien oder direkt nach Berlin schleudert, vermag manches. In Wien sichert er einem ungemein anstelligen Beobachter, der vor ein paar Jahren noch von der »Erfindung des Dampfes und der Elektrizität« gesprochen hat und heute bereits für die Luftschiffahrt schwärmt, sein »unsterblich Teil«, macht ihn zum Rekommandeur der modernen Kultur, läßt seine Seele, ja wahrhaftig seine Seele, »scharf gespannt unter den leisesten Vibrationen der Strömungen unsrer Gegenwart erbeben« und macht sie zur »willigen Resonanz für alles Große und Schöne der neuzeitlichen Promethiden«. In Berlin selbst macht er — der expansive Wille — einen schlauen Theaterkassier zu »einem unserer feinsten Kulturmenschen«. Es ist gar kein übler Zufall, daß die zweispaltige ›Schaubühne‹ just neben der Entdeckung des Herrn Salten auch für die Offenbarung der Wesensechtheit des Herrn Reinhardt Platz hat. Nein, es genügt eben nicht, den Dampf und die Elektrizität zu erfinden, man muß sie auch entdecken, wenn anders die Menschheit den Glauben an sie nicht verlieren soll. Herr Reinhardt ist kein Literat, sondern ein Theaterdirektor. Aber der expansive Wille hätte ihn ebenso zum Literaten machen können, und er hätte auch als solcher seinen Mann gestellt und sich auch in dieser Karriere einen Koch für sechstausend »Em« halten können. Dies lediglich als Beispiel für eine gelungene Willensexpansion; aber durch solches Gastmahl des Trimalchio hat sich jetzt die Berliner Dramaturgie durchzufressen. Ganz Deutschland macht lange Zähne, und ich muß warten, bis die ›Fackel‹ in ganz Deutschland gelesen wird, um zu sagen, was nur jene angeht, die es heute nicht hören würden.

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In diesen Tagen, da Herr Bahr nicht nur Dalmatien erobert, sondern auch die Erneuerung Österreichs durchgesetzt hat, da gegenüber den Forderungen des Verlags S. Fischer (Willensexpansion Budapest-Berlin) Nachgiebigkeit ein Gebot der Klugheit war und am Wiener Hofe die Friedenspartei siegte, in diesen Tagen ist es von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit, der vermittelnden Mission des Herrn Salten zu gedenken. Ist er doch wie kein zweiter Feuilletonist in Österreich mit der habsburgischen Tradition verwachsen. Die Intimität, die ihn an allen Geschicken des Erzhauses teilnehmen läßt, so daß die ›Zeit‹ als das erste Blatt in der Lage war, Leopold Wölflings Vorgeschichten zu publizieren und seine Photographie im Depeschensaal auszustellen, diese hohe Kennerschaft hat ihn auch dazu befähigt, über die Rangserhöhung der Fürstin Hohenberg ein kompetentes Wort zu sagen. Erstaunlich war da vor allem die Vorurteilslosigkeit, die einen in der höfischen Sphäre heimischen Feuilletonisten sein bedingungsloses Ja zu der Eheschließung des Thronfolgers sprechen ließ: »Wir unterscheiden nicht so genau, rechnen nicht nach, daß die Choteks kaum zweihundert Jahre lang die Grafenkrone tragen, wägen die Vorrechte der Ebenbürtigkeit nicht allzu sorgfältig ab«. Bereit, das Familieninteresse den staatlichen Rücksichten unterzuordnen, erkennt er, daß »diese Ehe andauernd ein Ereignis bleibt« und daß sie »wichtig bleibt für uns in Österreich, für unsere Gegenwart wie für unsere Zukunft«. Freilich mußte er erkennen, daß eine Komtesse Chotek nicht Erzherzogin von Österreich werden kann und warum sie es nicht werden kann. Aber mit ehrlicher Teilnahme hat er »den Weg gemessen, den sie seit ihrem Hochzeitstag zurückgelegt hat: Fürstliche Gnaden ... Durchlaucht ... Herzogin ... Hoheit ...«, und kann heute, zurückblickend, von den Schwierigkeiten sprechen, von dem »unendlichen Aufwand an Takt und Taktik, an Energie und Widerstandskraft«, den es gekostet haben mag. »Wir haben’s nicht gewußt; aber jetzt erkennen wir’s«, sagt er schlicht, mit verhaltener Empfindung, um sich dann erst in erschöpfender Aufzählung das Herz einer Herzogin zu erleichtern. Wir haben’s nicht gewußt. »Merken jetzt erst, daß es keineswegs etwas Selbstverständliches war, wenn usw.« »Erinnern uns jetzt erst, was es zu bedeuten hatte, daß der Erzherzog mit seiner Frau jahrelang im Burgtheater nur eine gewöhnliche Loge einnahm, und was es bedeutet, daß er jetzt mit ihr in der Hof löge Platz nimmt.« Rose Bernd durfte bekanntlich überhaupt nicht mehr ins Burgtheater, aber der Seufzer »Was muß die gelitten haben!« liegt uns auch im vorliegenden Fall nahe. »Es hat neun Jahre gedauert«, sagt Salten nicht ohne Bitterkeit; »es mag schon nicht leicht gewesen sein.« Nu juju, — nu neenee ... Und dabei weiß man nicht einmal, »wie das Wesen dieser Frau ist«, kann »nur vermuten, daß sie ungewöhnliche Eigenschaften besitzt, eine starke und eigenartige Persönlichkeit ist.« Und in den Grenzen der Vermutung kann man wieder nur raten. »Hinter all dem mag eine große Kraft des Wollens sein, eine eiserne Festigkeit des Charakters, oder eine unwiderstehliche Güte, oder eine tausendfältige Weisheit des Lebens, oder eine geniale Feinheit der Instinkte, oder auch Urwüchsigkeit, oder selbst völlige Passivität, Zielbewußtsein oder gelassenes Vertrauen auf das Glück. Wir wissen es nicht.« Der suchende Geist resigniert vor den letzten Dingen. Wer löst das Problem der Herzogin von Hohenberg? »Das berechtigte Interesse ist dieser Frau stürmisch zugewendet«: wird sie hervortreten, wird sie nicht hervortreten? Wir wissen es nicht. »Vielleicht ist jetzt der Kampf vorüber. Wir vermögen ja auch das nicht zu beurteilen; wissen nicht, was noch geschehen muß, damit die Frau des Thronfolgers auch äußerlich all die Rechte üben darf, die sie, menschlich genommen usw.« Mit einem Wort, wir sehen, daß wir nichts wissen können. Also hoffen wir! »Sie wird und sie muß den größten Einfluß und die erste Stimme haben, dereinst beim Kaiser.« Und wenn sie auch nicht seinen Titel teilen wird, »die Kinder, die zu unserem künftigen Monarchen Vater sagen, nennen sie: Mutter«. So entläßt uns der pessimistische Denker doch mit einem tröstlichen Hinweis auf die Entwicklung. Freilich nicht ohne mit einer aus seiner Weltanschauung geholten Maxime zu schließen: »Der Herzogin von Hohenberg gehört die Zukunft Österreichs an. Aber kein Mensch weiß, was die Zukunft bringt.« ... Dieses ist Herr Felix Salten. Man sagt, seine Seele sei eine willige Resonanz für alles Große und Schöne der neuzeitlichen Promethiden.

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Aber tun wir einem tüchtigen Menschen nicht Unrecht. Ziehen wir ihn aus der Unsterblichkeit zurück und lassen wir ihn hienieden sich nützlich machen. Scheiden wir endlich die soziale Funktion des Journalismus von den Müßigkeiten der Literatur. Kein besseres Beispiel kann uns solche Einsicht empfehlen. Der beste Journalist Wiens weiß über die Karriere einer Gräfin wie über den Aufstieg eines Luftballons, über eine Parlamentssitzung wie über einen Hofball zu jeder Stunde das Wissenswerte auszusagen. In Westungarn kann man nachts Wetten abschließen, daß der Zigeunerprimas binnen einer halben Stunde mit seinem ganzen Orchester zur Stelle sein wird; man läßt ihn wecken, er tastet nach der Fiedel, weckt den Cymbalschläger, alles springt aus den Betten, in den Wagen, und in einer halben Stunde geht’s hoch her, fidel, melancholisch, ausgelassen, dämonisch und was es sonst noch gibt. Das sind unerhörte praktische Vorteile, die nur der zu unterschätzen vermag, der die Bedürfnisse der Welt nicht kennt oder nicht teilt. In Bereitschaft sein ist alles. Wenn nur die Welt selbst nicht ungerecht wäre! Sie sagt, einer sei der beste Journalist am Platz, und er ist es zweifellos. Sie sagt aber nie, einer sei der bedeutendste Bankdisponent. Und doch dient er ihr so gut wie jener, und steht den Müßigkeiten der Literatur genau so fern.

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Mit den perfekten Feuilletonisten ließe sich leben, wenn sie es nicht auf die Unsterblichkeit abgesehen hätten. Sie wissen fremde Werte zu plazieren, haben alles bei der Hand, was sie nicht im Kopf haben, und sind häufig geschmackvoll. Wenn man ein Schaufenster dekoriert haben will, ruft man nicht den Lyriker. Er könnte es vielleicht auch, aber er tut’s nicht. Der Auslagenarrangeur tut’s. Das schafft ihm seine soziale Position, um die ihn der Lyriker mit Recht beneidet. Auch ein Auslagenarrangeur kann auf die Nachwelt kommen. Freilich nur, wenn der Lyriker ein Gedicht auf ihn macht.

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Die Grenzen der Persönlichkeit scheint indes auch der Berliner Psychologe zu spüren. Salten führe »nie über das Sicht- und Hörbare hinaus in das Reich der Mütter«. Ein Mangel, den man zum Beispiel Willi Handl nicht nachsagen könne. Ein andermal weiß man aber in Berlin auch wieder die Spannweite der Persönlichkeit zu erfassen. Jede künstlerische Äußerung trage von selbst — wie wahr! — das Zeichen der innern Eigenart, »durch das der Kunstsinnige trotz mancher Gemeinschaft einen vollgültigen Teniers von einem anerkannten Breughel und einen guten Salten von einem echten Polgar unterscheidet«. Ins Reich der Mütter aber führen Handl und etwa noch Willi Shakespeare. Jenem bin ich bereits in einer Würdigung begegnet, die unser Psycholog dem Lebenswerk des Feuilletonisten Hevesi angedeihen ließ. Damals hob Ferdinand Kürnberger viel Ehre auf, denn es hieß, zwischen Kürnberger und Handl könne man noch »Stammbäume legen«. Um ihn aber, Hevesi, »ist die große Stille; er trägt seinen Anfang und Ausgang in sich«. Dies nun möchte ich nicht so ganz unterschreiben. Herr Hevesi ist ein älterer Herr, der vom jüngeren Nachwuchs abstammt und sich immer weiter entwickelt. Er hat mehr Einfälle, als seinen Jahren ziemt, was entschieden ein Vorzug wäre, wenn er nicht auch mehr Eindrücke hätte, als er verarbeiten kann. So muß er manchmal einen Kalauer unterdrücken, sehr zum Schaden der augenblicklichen Wirkung des Feuilletons und ohne durch solche Abgeklärtheit seinen Büchern zu nützen. Denn sein Stil ist zwar prickelnd, aber obschon Sodawasser bekanntlich den Vorteil bietet, daß man es auch stehen lassen kann, so schmeckt es darum doch nicht, wenn man es nach Jahren wieder trinkt. Ein Flaneur älteren Stils, den die Muse über und über mit Konfetti beworfen hat und der sich nun schüttelt und mit kurzem Atem die Freude hervorpustet, daß er bei solchen Unterhaltungen noch mittun darf, wobei er der Losen eine ganze Menge von Fremdwörtern, griechischen Zitaten und Fachausdrücken nachwirft. Denn er ist kein Spielverderber, wohl aber ein Polyhistor. Sein Humor ist von einer Frische der Senilität, die wieder auf den Nachwuchs ansteckend wirkt, und seine Weisheit ist eine fröhliche Wissenschaft, die schon hüpft. Wenn wir aber dem Berliner Psychologen glauben wollen, so liegt der Kernpunkt seines Wesens in dem »Vagieren zwischen den Zwielichtgierden des Bluts und den Zwitterstimmungen der Seele«. »Sein Assozion« — ein Fremdwort, das selbst Herrn Hevesi unbekannt sein dürfte — werfe seltsame Schnörkel. »Sonnensystem und Bazillus« seien in seinem Hirn »bloß zwei Gedanken verschiedener Stärke, aber nicht verschiedener Art. Auf überirdischer Höhe schwinden die Unterschiede zwischen Welt und Spinne, Stern und Sternchen auf einem Stern, und beide werden nur Spielball einer göttlichen Phantasie. Er hat das große Gelächter über Leben und Tod, Jehovah und Menschlein ...« So sah ich unsern Hevesi nie. Nicht einmal damals, als er einer verstorbenen Ballberichterstatterin die Charakteristik nachrief: »Dämonische Automatik des modernen Reportertums, in einer das Aparte streifenden, oft im Exklusiven sich bewegenden Sondersphäre« ...

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Der ihn hauptsächlich auf dem Gewissen hat, ist der Hermann Bahr, der hierzulande noch die Jugend jeden Alters verdorben hat. Die »dampfenden Jünglinge« aber, die er seinerzeit entdeckte, sind längst Journalisten geworden, die überall Kritiken über Bahrs Bücher unterbringen können, und das neue Österreich ist fertig. »So viele Stimmen im Staate sein mögen, aus allen dringt nur ein Ruf: der Jugend werde Kraft, Mut, Freiheit! Nur ein Gefühl pulst in unserem Österreich: eine freie, starke, ehrliche Jugend erstehe unserer Zukunft!« Der Starke, der es zur Einführung des Bahrschen »Buchs der Jugend« sagt, ist jener Zeuge, der bei meiner Verurteilung im Prozeß Bahr-Bukovics ohnmächtig wurde. Zuerst verließ ihn die Erinnerung, später auch die Besinnung. Ich hatte mich, ohne ihn zu kennen, seiner angenommen und sein Autorenerlebnis als typischen Fall besprochen. Ich hatte behauptet, ihm sei vom Theaterdirektor ein Ehrenwort nicht gehalten worden. Drei Zeugen, die es aus seinem Mund gehört haben wollten, stützten die Behauptung. Er sagte, er könne sich nicht erinnern. (Noch im Gerichtssaal wurde vom beeideten Kläger die Aufführung des Stückes versprochen. Es ist bis heute nicht aufgeführt worden. Fast zehn Jahre sind es her. Er wird sich nicht erinnern können.) Aber er will ein neues Österreich und eine Jugend, die Kraft und Mut hat. Das sind berechtigte Ansprüche. Wie sich Herr Bahr ihre Erfüllung denkt, zeigt er in dem Buch, das eben jenen typischen Vertreter des neuen Österreich begeistert hat. Es enthält eine Vorrede, die an ein zweiundeinhalbjähriges Kind gerichtet ist und ihm bestätigt, daß es sich von den österreichischen Mächten noch nicht habe kirre machen lassen. Der kleine Karli hätte nämlich vor Herrn Bahr, als er auf Besuch kam, einen »schönen Diener« machen sollen. Er aber wollte nicht (aha!) und seine »Nänä« war bös darüber. Bahr war begeistert. »Mach keinen Diener! Nie sollst du und niemandem den Diener machen!« Natürlich, meint Bahr, sind darüber die Nänäs alle sehr bös, denn die Nänäs glauben ja noch, die Macht in Österreich zu haben. »Aber die Nänäs werden vertrieben werden, und keiner wird einen schönen Diener machen, dann werden aus euch Menschen werden. Auf diese warte ich. Und mein ganzes Sein und Tun ist immer nur ein solches Warten auf die menschlichen Menschen in Österreich. Beeilt euch doch ein bißchen, beeilt euch heranzuwachsen! Ich möchte so gern erleben, daß eine Jugend kommt, die mich erkennt und spricht: Seht, das ist der, der auf Österreich gewartet hat! Denn, wenn dir die Nänäs sagen, daß ich ein schlechter Österreicher sei, ist das eine Lüge«. Nachdem er nun noch dem kleinen Karli — dem Sohn des Gründers der »Wiener Werkstätte« — erzählt hat, daß Österreich in den Künsten stark genug sei, es mit allen Völkern aufzunehmen, schließt er: »Habt den Mut zu Österreich! Seit Jahren rufe ich hinaus: Habt den Mut zu Österreich!« So steigt diese Anrede von einer herzigen Symbolik zu den erschütternden Tönen eines ganz alten Attinghausen empor. Was werden aber die Nänäs dazu sagen, daß man die zweieinhalb jährigen Kinder auffordert, sich ans Vaterland, ans teure anzuschließen? Man mag begierig sein, wie sie sich daraufhin entwickeln. Oh, ich sehe es kommen. Mit drei Jahren fangen sie an, Feuilletons zu schmieren. Mit vier bringen sie ihre ersten Stücke an. Zehn Jahre warten sie auf die Aufführung. Mit zwanzig fallen sie im Gerichtssaal um. Dann aber gehen sie hin und haben den Mut — zu Österreich. Karli! Karli! Ich kenne dich nicht mehr.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 289, XI. Jahr
Wien, 25. Oktober 1909.