c. Die künstlerische Exekution
In der Skulptur und Malerei haben wir das Kunstwerk als das objektiv für sich dastehende Resultat künstlerischer Tätigkeit vor uns, nicht aber diese Tätigkeit selbst als wirkliche lebendige Produktion. Zur Gegenwärtigkeit des musikalischen Kunstwerks hingegen gehört, wie wir sahen, der ausübende Künstler als handelnd, wie in der dramatischen Poesie der ganze Mensch in voller Lebendigkeit darstellend auftritt und sich selbst zum beseelten Kunstwerke macht.
Wie wir nun die Musik sich nach zweien Seiten hinwenden sahen, insofern sie entweder einem bestimmten Inhalte adäquat zu werden unternahm oder sich in freier Selbständigkeit ihre eigene Bahn vorzeichnete, so können wir jetzt auch zwei verschiedene Hauptarten der ausübenden musikalischen Kunst unterscheiden. Die eine versenkt sich ganz in das gegebene Kunstwerk und will nichts weiteres wiedergeben, als was das bereits vorhandene Werk enthält; die andere dagegen ist nicht nur reproduktiv, sondern schöpft Ausdruck, Vortrag, genug, die eigentliche Beseelung nicht nur aus der vorliegenden Komposition, sondern vornehmlich aus eigenen Mitteln.
α) Das Epos, in welchem der Dichter eine objektive Welt von Ereignissen und Handlungsweisen vor uns entfalten will, läßt dem vortragenden Rhapsoden nichts übrig, als mit seiner individuellen Subjektivität ganz gegen die Taten und Begebenheiten, von denen er Bericht erstattet, zurückzutreten. Je weniger er sich vordrängt, desto besser; ja, er kann ohne Schaden selbst eintönig und seelenlos sein. Die Sache soll wirken, die dichterische Ausführung, die Erzählung, nicht das wirkliche Tönen, Sprechen und Erzählen. Hieraus können wir uns auch für die erste Art des musikalischen Vortrags eine Regel abstrahieren. Ist nämlich die Komposition von gleichsam objektiver Gediegenheit, so daß der Komponist selbst nur die Sache oder die von ihr ganz ausgefüllte Empfindung in Töne gesetzt hat, so wird auch die Reproduktion von so sachlicher Art sein müssen. Der ausübende Künstler braucht nicht nur nichts von dem Seinigen hinzuzutun, sondern er darf es sogar nicht, wenn nicht der Wirkung soll Abbruch geschehen. Er muß sich ganz dem Charakter des Werks unterwerfen und nur ein gehorchendes Organ sein wollen. In diesem Gehorsam jedoch muß er auf der anderen Seite, wie dies häufig genug geschieht, nicht zum bloßen Handwerker heruntersinken, was nur den Drehorgelspielern erlaubt ist. Soll im Gegenteil noch von Kunst die Rede sein, so hat der Künstler die Pflicht, statt den Eindruck eines musikalischen Automaten zu geben, der eine bloße Lektion hersagt und Vorgeschriebenes mechanisch wiederholt, das Werk im Sinne und Geist des Komponisten seelenvoll zu beleben. Die Virtuosität solcher Beseelung beschränkt sich jedoch darauf, die schweren Aufgaben der Komposition nach der technischen Seite hin richtig zu lösen und dabei nicht nur jeden Anschein des Ringens mit einer mühsam überwundenen Schwierigkeit zu vermeiden, sondern sich in diesem Elemente mit vollständiger Freiheit zu bewegen, so wie in geistiger Rücksicht die Genialität nur darin bestehen kann, die geistige Höhe des Komponisten wirklich in der Reproduktion zu erreichen und ins Leben treten zu lassen.
β) Anders nun verhält es sich bei Kunstwerken, in welchen die subjektive Freiheit und Willkür schon von selten des Komponisten her überwiegt und überhaupt eine durchgängige Gediegenheit in Ausdruck und sonstiger Behandlung des Melodischen, Harmonischen, Charakteristischen usf. weniger zu suchen ist. Hier wird teils die virtuoseste Bravour an ihrer rechten Stelle sein, teils begrenzt sich die Genialität nicht auf eine bloße Exekution des Gegebenen, sondern erweitert sich dazu, daß der Künstler selbst im Vortrage komponiert, Fehlendes ergänzt, Flacheres vertieft, das Seelenlosere beseelt und in dieser Weise schlechthin selbständig und produzierend erscheint. So ist z. B. in der italienischen Oper dem Sänger immer vieles überlassen worden; besonders in Ausschmückungen hat er einen freieren Spielraum; und insofern die Deklamation sich hier mehr von dem strengen Anschließen an den besonderen Inhalt der Worte entfernt, wird auch dieses unabhängigere Exekutieren ein freier melodischer Strom der Seele, die sich für sich selber zu erklingen und auf ihren eigenen Schwingen zu erheben freut. Wenn man daher sagt, Rossini z. B. habe es den Sängern leicht gemacht, so ist dies nur zum Teil richtig. Er macht es ihnen ebenso schwer, da er sie vielfach an die Tätigkeit ihres selbständigen musikalischen Genius verweist. Ist dieser nun aber wirklich genialischer Art, so erhält das daraus entstehende Kunstwerk einen ganz eigentümlichen Reiz. Man hat nämlich nicht nur ein Kunstwerk, sondern das wirkliche künstlerische Produzieren selber gegenwärtig vor sich. In dieser vollständig lebendigen Gegenwart vergißt sich alles äußerlich Bedingende, Ort, Gelegenheit, die bestimmte Stelle in der gottesdienstlichen Handlung, der Inhalt und Sinn der dramatischen Situation, man braucht, man will keinen Text mehr, es bleibt nichts als der allgemeine Ton der Empfindung überhaupt übrig, in deren Elemente nun die auf sich beruhende Seele des Künstlers sich ihrem Ergüsse hingibt, ihre Genialität der Erfindung, ihre Innigkeit des Gemüts, ihre Meisterschaft der Ausübung beweist und sogar, wenn es nur mit Geist, Geschick und Liebenswürdigkeit geschieht, die Melodie selbst durch Scherz, Kaprize und Künstlichkeit unterbrechen und sich den Launen und Einflüsterungen des Augenblicks überlassen darf.
γ) Wunderbarer noch wird drittens solche Lebendigkeit, wenn das Organ nicht die menschliche Stimme, sondern irgendeines der anderen Instrumente ist. Diese nämlich liegen mit ihrem Klang dem Ausdruck der Seele ferner und bleiben überhaupt eine äußerliche Sache, ein totes Ding, während die Musik innerliche Bewegung und Tätigkeit ist. Verschwindet nun die Äußerlichkeit des Instrumentes durchaus, dringt die innere Musik ganz durch die äußere Realität hindurch, so erscheint in dieser Virtuosität das fremde Instrument als ein vollendet durchgebildetes eigenstes Organ der künstlerischen Seele. Noch aus meiner Jugend her entsinne ich mich z. B. eines Virtuosen auf der Gitarre, der sich für dieses geringe Instrument geschmackloserweise große Schlachtmusiken komponiert hatte. Er war, glaub ich, seines Handwerks ein Leineweber und, wenn man mit ihm sprach, ein stiller, bewußtloser Mensch. Geriet er aber ins Spielen, so vergaß man das Geschmacklose der Komposition, wie er sich selbst vergaß und wundersame Wirkungen hervorbrachte, weil er in sein Instrument seine ganze Seele hineinlegte, die gleichsam keine höhere Exekution kannte als die, in diesen Tönen sich erklingen zu lassen.
Solche Virtuosität beweist, wo sie zu ihrem Gipfelpunkt gelangt, nicht nur die erstaunenswürdige Herrschaft über das Äußere, sondern kehrt nun auch die innere ungebundene Freiheit heraus, indem sie sich in scheinbar unausführbaren Schwierigkeiten spielend überbietet, zu Künstlichkeiten ausschweift, mit Unterbrechungen, Einfallen in witziger Laune überraschend scherzt und in originellen Erfindungen selbst das Barocke genießbar macht. Denn ein dürftiger Kopf kann keine originellen Kunststücke hervorbringen, bei genialen Künstlern aber beweisen dieselben die unglaubliche Meisterschaft in ihrem und über ihr Instrument, dessen Beschränktheit die Virtuosität zu überwinden weiß und hin und wieder zu dem verwegenen Beleg dieses Siegs ganz andere Klangarten fremder Instrumente durchlaufen kann. In dieser Art der Ausübung genießen wir die höchste Spitze musikalischer Lebendigkeit, das wundervolle Geheimnis, daß ein äußeres Werkzeug zum vollkommen beseelten Organ wird, und haben zugleich das innerliche Konzipieren wie die Ausführung der genialen Phantasie in augenblicklichster Durchdringung und verschwindendstem Leben blitzähnlich vor uns.
Dies sind die wesentlichsten Seiten, die ich aus der Musik herausgehört und empfunden, und die allgemeinen Gesichtspunkte, die ich mir abstrahiert und zu unserer gegenwärtigen Betrachtung zusammengestellt habe.