Julien Green
»Nous qui sommes bornees en tout, comment le sommes-nous si peu lorsqu'il s'agit de souffrir?« Diese Frage von Marivaux war eine jener glänzenden Formulierungen, mit denen das Detachement von der Sache, der Abstand manchmal den Geist beschenkt. Denn keiner Epoche lag die Kontemplation des Leidens ferner als der französischen Aufklärung. Aus diesem Abstand heraus formulierte Marivaux so überzeugend. Julien Green aber, der diese Worte als Motto vor seine »Adrienne Mesurat« stellte, weiß, worum es hier geht. Nämlich um den Passionsgedanken. Und damit nicht nur um diesen Roman, sondern um sein gesamtes œuvre, in dem das Leiden durchaus der herrschende, ja der einzige Vorwurf ist. Wer aber nachzuforschen beginnt, auf welche Weise überhaupt das Leiden in dieser Ausschließlichkeit zum Gegenstand des dichterischen Schaffens werden kann, stößt bald darauf, wie fremd Julien Green nicht nur der analytischen Psychologie eines Marivaux, sondern jeder psychologischen Ansicht vom Menschen sein muß. Wer vom humanen, humanistischen Standpunkt – fast möchte man sagen: vom Standpunkt des Laien – den Menschen studieren will, der hätte ihn gewiß in seiner sogenannten Fülle, gewiß auch als genießenden, gesunden und herrschenden darzustellen. Dem theologischen Ingenium aber erschließt allerdings und seit jeher das Menschenwesen sich an der passio am tiefsten. Nicht freilich ohne den gewaltigen Doppelsinn des Lateinischen in Anspruch zu nehmen: jene Verschränkung von Leiden und Leidenschaft, mit welcher die passio zum welthistorischen Massiv, zur Wasserscheide der Religionen sich auftürmt. In dieser unwirtlichen Höhe hat das bestürzende, spröde Werk von Green seinen Ursprung. Hier entsprang der tragische wie der katholische Mythos, die fromme heidnische passio des König Ödipus, der Elektra, des Aias, wie die fromme, christliche Jesu. Hier geht, im Indifferenzpunkt, auf der Paßhöhe der Mythen, der Dichter daran, den Stand des gegenwärtigen Menschen in den Spuren seiner passio zu zeichnen.
Das kreatürliche Leiden als solches ist zeitlos. Nicht aber sind es die Leidenschaften, an denen die passio sich nährt. Geiz, Herrschsucht, Trägheit des Herzens, Stolz – jedes von diesen Lastern steht in Figuren von allegorischer Schärfe in diesem Werk auf, und doch ist, was seine Menschen im Innersten peitscht, im alten christlichen Kanon der Todsünden nicht zu finden. Wohl aber stieße, wer Genie und Fluch der Lebenden in theologischen Begriffen umreißen wollte, auf dieses neueste und im höllischen Sinne moderne Laster: die Ungeduld. Emily Fletcher, Adrienne Mesurat, Paul Gueret – Stichflammen der Ungeduld, die im Windzug des Schicksals züngeln. Will Green – so könnte man seine Werke apologetisch ausdeuten – zeigen, was aus diesem Geschlechte geworden wäre, wenn es nicht an ungeheuren Geschwindigkeiten der Bewegung, der Mitteilung, des Genusses seine zehrende Ungeduld hätte ersättigen können? Oder will er vielmehr die gefährlichen Energien beschwören, die im Innern dieses Geschlechts seinen stolzesten Errungenschaften entsprechen und nur auf die Gelegenheit warten, in Zerstörungsprozessen von nie geahnter Geschwindigkeit dieses Tempo noch zu vertausendfachen? Denn die Leidenschaft – das ist ein Grundmotiv der passio – vergeht sich nicht nur wider die Gebote Gottes, sie frevelt wider die natürliche Ordnung. Darum weckt sie die zerstörenden Kräfte des ganzen Kosmos. Was dem Leidenschaftlichen zustößt, ist nicht so sehr Strafgericht Gottes, als Aufruhr der Natur gegen den, der ihren Frieden stört und ihr Antlitz entstellt. Dies profane Verhängnis vollzieht sich an der Leidenschaft durch sie selbst. Und zwar ist es das Werk des Zufalls. In seinem letzten und reifsten Buche, dem »Leviathan«, hat Green die Vernichtung des Leidenden weniger innerlich, schärfer in der Verstrickung vollzogen. Er hat damit diesem Äußersten, Äußerlichsten mit demselben Rechte die Ehre gegeben wie Calderon, der Meister der dramatischen Passion, in seinen Dramen die barockste Verwicklung, die maschinellste Schicksals fügung dem Aufbau zugrunde legt. Zufall ist die gottverlassene Figur der Notwendigkeit. Darum steht bei Green das verworfene Innen der Leidenschaft in Wahrheit so völlig unter der Herrschaft des Außen, daß Leidenschaft im Grunde gar nichts anderes als der Agent des Zufalls in der Kreatur ist. Von ihm ist die Geschwindigkeit ein Teil, die die Verzweiflung den Geschicken mitteilt. Die Hoffnung ist das Ritardando des Schicksals. Seine Menschen sind außerstande zu hoffen; sie nehmen sich nicht die Zeit. Sie sind exaspiriert.
Geduld, das ist das Wort, das alle Tugenden dieses Autors und zugleich alles in sich schließt, was seinen Menschen fehlt. Der Mann, der so viel von diesen Rasenden weiß, blickt unverwandt und aus großen Augen. Sein Gesicht hat das Ebenmaß und den blassen Olivton des Spaniers. Im unbescholtenen Adel der Stimme ist etwas, das vielen Worten zu wehren scheint, und genauso wie sie, auf leisen Sohlen, kommt die Handschrift mit ihren transparenten, schmucklosen Zeichen. Man möchte von Buchstaben sprechen, die gelernt haben zu verzichten. Am schwersten aber läßt sich ein Begriff von der kindlichen Fassung geben, wie sie sich in solchem Geständnis bekundet: Es sei ihm nicht gegeben, hat er einmal gesagt, auch nur den allereinfachsten Vorfall zu schildern, den er selber erlebt habe. Nichts unverständlicher für jeden, der hier noch irgendeine Brücke zum landläufigen Begriff des Romans sucht, diesem zusammengestoppelten Unding aus Erlebtem und Ausgedachtem. Green steht jenseits von dieser tauben, unfruchtbaren Zweiheit. Er schreibt nichts Erlebtes. Sein Erlebnis heißt Schreiben. Er denkt aber auch nichts aus. Denn was er schreibt, das duldet keinen Spielraum. Nichts sei ihm, fährt er fort, im Verlaufe seiner Arbeit fragwürdiger als die einfache Handlung, der Gang der Fabel. Sie läßt sich nicht ausdenken. Er geht ans Manuskript, um das Leben seiner Personen weiter, so weit zu führen, wie es die nächsten Seiten erfordern. Und ohne in der Zwischenzeit es bedenken oder ergründen zu können, kehrt er am nächsten Tag dahin, wo er abbrach, zurück. Das ist, man darf es ohne Fahrlässigkeit so nennen, ein visionäres Verfahren und der Ursprung der übermäßig strengen, halluzinatorischen Deutlichkeit, mit der sich seine Menschen bewegen. Greens Abstand vom üblichen Typus des Romanciers ist in der Kluft zwischen Vergegenwärtigung und Schilderung einbegriffen.
Vergegenwärtigung – nicht das magische Element dieses Worts, sondern sein zeitliches sei zuerst angesprochen. Zweierlei Naturalismus zwingt es zu unterscheiden: Zolas, der die Menschen und Verhältnisse schildert, wie nur der Zeitgenosse sie sehen konnte; und Greens, welcher sie vergegenwärtigt, wie sie sich nie einem Zeitgenossen hätten darstellen können. Wo er es tut? – In unserer Phantasie? – Das sagt wenig. In unserm Zeitraum tut er's, der ihnen fremd ist und sie wie ein Gewölbe hohler Jahre einschließt, in dem das Echo ihre Flüsterworte und ihre Schreie ihnen wiedergibt. Erst diese zweite Gegenwart verewigt was war; und darum ist Vergegenwärtigung ein Akt der Magie. Green schildert die Menschen nicht, er vergegenwärtigt sie in schicksalhaften Momenten. Das heißt: sie gebärden sich ganz so, wie wenn sie Erscheinungen wären. Adrienne Mesurat, die am Fenster haftet, um einen Blick auf Maurecourts Villa zu tun; der alte Mesurat, der sich den Bart streicht; Madame Legras, die mit Adriennes Kette das Weite sucht – so und nicht anders wären jede ihrer Gebärden, müßten sie als arme Seelen jenseits des Grabes diese Augenblicke von neuem durchleben. In der trostlosen Stereotypie aller wahrhaft schicksalhaften Momente stehen sie vor dem Leser wie die Figuren der danteschen Hölle in der Unwiderruflichkeit eines Daseins nach dem Jüngsten Gericht. Diese Stereotypie ist das Signum des Höllenstadiums. Geht man ihr auf den Grund, enthüllt sich was Schicksal heißt als die vollkommene, gnadenlose Form, in der der Zufall sein Regiment führt. Und zwar als die trostloseste. Denn die vollkommene Trostlosigkeit ist die Trostlosigkeit in der Vollkommenheit. Wie Pascal aus dem gestirnten Himmel, dem Urbild mathematischer Vollkommenheit, nichts als die Ode ewigen Schweigens entgegenschlug, so tritt dem großen Schicksalskundigen, diesem Dichter, in der vollkommenen Verkettung der Geschicke, die er ergründet, nur die desolate Verlassenheit aller Kreaturen entgegen.
Nun aber ist die visionäre Aura, in der sie stehen, nichts weniger als »plastische, lebenswahre Gestaltung«. Solch schablonenhafte Vorstellung von Vision liebt die Berufung auf den Traum, auf die Evidenz und Bildkraft der Gesichte. Gesetzt aber, einer liege im Alptraum und erleide eines der Schreckensbilder, an denen die Bücher dieses Autors so reich sind. Was wird er tun, wenn er aufwacht? Licht machen und aufatmen. Ganz anders, wem eine Vision wird. Sie mag so furchtbar sein, wie sie wolle, der Höhepunkt, der Schrecken der Schrecken, für ihn wird er stets im Augenblick des Erwachens aus seinem Schauen liegen. Denn das Diesseits ist das Echtheitssiegel, das an jeder Vision hängt, das Diesseits, das wir nun auf einmal, auf immer, von ihren Gesichten besiedelt, bevölkert, erobert finden. Ein phasisches Versinken und Aufwachen, so hat man die Arbeit dieses Autors sich vorzustellen; ein Durchschüttertwerden von tausend Schrecken, und ihrer jeder ist ein Geburtsschrecken. In einem unwillkommenen Lichte liegt mit zerrißnen, tiefen Schatten die Umwelt da. Ein »Tal der Tränen« öffnet sich dem Erwachenden. Und vielleicht heißt das: wenn längst der Mensch schon keine Träne hat, dann netzt die Welt ringsum sich im Schweiße oder im Tau des Jammers. Da liegen auf dem Stapelplatze einer Kohlenhandlung, auf den Gut!ret sich über eine Mauer flüchtet, drei gewaltige Haufen Kohle. Von diesen schwarzen, im Mondschein schimmernden Bergen gibt Green eine sehr genaue Beschreibung. Ich kannte sie, als ich eines Tages den Dichter fragte, ob er vom Ursprung seiner Werke etwas wisse. Ein Charakter? Eine Erfahrung? Eine Idee? Er erwiderte aber nur: »Von meinem letzten Buche kann ich Ihnen den Ursprung ganz genau sagen. Es war ein Haufen Kohle, auf den ich eines Tages gestoßen bin.« Alles ist ihm um solche Bilder gruppiert, wie sie für immer vor dem erschreckten Blick des Erwachenden stehen. Nirgends sichtbarer als im Anfang der Werke. Die erste Figur, mit welcher der Leser Bekanntschaft macht, ist in allen seinen Romanen die Hauptperson. Sie ist vertieft, Gut!ret im Blick auf seine Uhr, Adrienne in die Betrachtung der Daguerreotypien ihrer Voreltern, Emily in die Landschaft vor ihrem Fenster. Es ist der Augenblick einer seltsamen Geistesabwesenheit, einer banalen Versunkenheit, da an seinen Figuren das Schicksal auftritt wie eine Krankheit. So sieht er sie, wie wir uns selber nach vielen Jahren in der Erinnerung – die auch ein Erwachen ist – in Beschäftigungen, an denen nichts Rechtes scheint bemerkbar zu sein. Das sind die Augenblicke für immer. An sie, und nur an sie, schließt Green an. »Toujours, semblait-il, murmura la riviere, toute la vie de même, toute la vie.« Das ist das Lebenslied dieser Menschen, denen ihre schicksalhaften Momente bis an ihr Ende gelten. Entwicklung kennen sie nicht. Wenn man nicht dies Entwicklung nennen will, daß sie von Mißgeschick zu Mißgeschick stürzen, wie ein Körper im Fallen von den Steinstufen einer Treppe nicht eine ausläßt.
So fallen sie sich zu Tode. Und es vollzieht sich an ihnen das irdische Verhängnis der passio: die Zerstörung von Leib und Leben. Ohnmacht, Schlaf und endlich der Tod – immer wieder ist es die Antwort des Leibes, die hier am äußersten Ende des Leidens steht. Das Bett ist diesem Romancier der angestammte Platz, der Thron der Kreatur. »Une passion par personne, cela suffit« – das genügt, weil die Leidenschaft auch der Leidensweg und die geregelte Abfolge seiner Stationen schon in ihr vorbestimmt ist. Ist aber diese Regel auszusprechen? Betrifft sie den gegenwärtigen Menschen wirklich? Greens Figuren sind gar nicht modern. Starr wie die maskenhafte persona der Tragiker tönen sie sich im Interieur der französischen Kleinstadt aus. Tracht und Alltag an ihnen sind verkümmert und altmodisch; in ihren Gebärden aber leben uralte Herrscher, Frevler, Besessene. Zwischen Schnitzwerk und Plüsch sind in ihren Stuben Ahnen seßhaft wie im Baumstrunk oder im Schilf. Die Verschmelzung des Altmodischen mit der Urgeschichte, das Trauma des Elternanblicks in seiner doppelten Figur als urgeschichtliches und geschichtliches Phänomen ist das bleibende Motiv dieses Dichters. Der Zwienacht, in die die Welt hier gebettet ist, enttauchen die Häuser und Zimmer, in denen die Generation unserer Väter hinging. Ja die drei Hauptwerke spielen, recht betrachtet, alle im gleichen Hause, inag es Frau Fletcher, dem alten Mesurat oder Frau Grosgeorges gehören; so spielen die Dramen der Tragiker vor dem gleichen Palastprospekt, der einmal Agamemnons, ein andermal Kreons oder des Theseus ist. Wohnen – das ist hier noch immer ein Hausen, ein Geschehen voller Angst und Magie, das vielleicht niemals verzehrender war als unter der Decke des zivilisierten Daseins und der bürgerlich-christlichen Kleinwelt. Das Haus der Väter, das in der zwiefachen Finsternis des kaum Vergangenen und des Unvordenklichen dasteht, ist hier, von Schicksals blitzen auf Sekunden ganz erhellt, durchsichtig wie ein Gewitterhimmel und eine Abflucht von Höhlen, Kammern und Galerien geworden, die sich in die Urzeit der Menschheit verlieren. Gewiß ist, daß ein Stück Urgeschichte für jedes Geschlecht mit dem Dasein, den Lebensformen des ihm unmittelbar vorhergehenden verschmolzen ist, für die Lebenden also mit der Mitte und dem Ausgang des vorigen Jahrhunderts. Green ist nicht der einzige, der es fühlt. Cocteaus »Enfants terribles« sind eine mit allen technischen Mitteln ausgerüstete Expedition in die unterseeischen Tiefen der Kinderstube, ganz zu schweigen vom Werke Prousts, das der verlorenen Zeit und ihren Zellen, in denen wir Kinder waren, gewidmet ist. Proust ruft die Zauberstunde der Kindheit herauf, Green bringt Ordnung in unsere frühesten Schrecken. Im ausgeräumten Domizil der Kindheit kehrt er die Spuren, die das Dasein unserer Eltern ließ, zusammen. Und aus dem Berg von Leid und Grauen, den er häuft, trifft uns ihr unbegrabener Leichnam plötzlich so durchbohrend wie vor Jahrhunderten der Leib den Frommen, den er stigmatisierte.