Paul Valéry
Zu seinem 60. Geburtstag
O langage chargé de sel, et paroles véritablement marines!
Seeoffizier hat Valéry einmal werden wollen. In dem, der er geworden ist, sind die Züge dieses Jugendtraumes noch immer kenntlich. Da ist zum ersten seine Dichtung, von der gehaltenen Formenfülle, die die Sprache dem Denken abgewinnt wie das Meer der Windstille; und zweitens ist da dieses Denken, ein durch und durch mathematisch gerichtetes, das sich über die Sachverhalte wie über Seekarten beugt und ohne im Anblick von »Tiefen« sich zu gefallen schon glücklich ist, einen ungefährdeten Kurs zu halten. Das Meer und die Mathematik: sie treten an einer der schönsten Stellen, die er geschrieben hat, im erzählenden Sokrates, der der Phaedra von dem Funde berichtet, den er am Ufer machte, in bestrickende Ideenverbindung. Es ist ein zweifelhaftes Gebilde – Elfenbein oder Marmor oder ein Tierknochen –, das da, fast wie ein Haupt mit Zügen des Apollon, die Brandung ans Ufer spülte. Und Sokrates fragt sich, ob das das Werk der Wellen sei oder des Künstlers; er wägt es ab: wie lange der Ozean wohl braucht, bis unter Milliarden Formen ein Zufall diese eine bilden mag, wie lange der Künstler, und er kann wohl sagen, »daß ein Künstler tausend Jahrhunderte wert ist oder hunderttausend oder noch sehr viel mehr ... Da liegt ein sonderbarer Maßstab für Werke.« Hätte man am sechzigsten Geburtstag den Verfasser dieses großartigen Werks, des »Eupalinos oder der Architekt«, mit einem Exlibris zu überraschen: es könnte einen gewaltigen Zirkel darstellen, den einen Schenkel fest in den Meeresboden gerammt, den andern weit zum Horizont ausgespannt. Es wäre ein Gleichnis auch für die Spannweite dieses Mannes. Spannung ist der beherrschende Eindruck seiner körperlichen Erscheinung, Spannung der Ausdruck seines Hauptes, dessen tiefgelegene Augen eine Entrücktheit von irdischen Bildern andeuten, die es dem Mann erlaubt, den Kurs seines Innenlebens nach diesen wie nach den von Sternen zu bestimmen. Einsamkeit ist die Nacht, aus der solche Bilder strahlen, und von ihr hat Valéry eine lange Erfahrung. Als er mit fünfundzwanzig Jahren seine ersten Gedichte und die beiden ersten Essays herausgegeben hatte, begann die zwanzigjährige Pause seiner öffentlichen Wirksamkeit, aus der er 1917 mit dem Gedicht »Die junge Parze« so glänzend hervortrat. Acht Jahre später hatte eine Reihe hervorragender Werke und sinnreicher Manöver in der Gesellschaft ihm die Aufnahme in die Academie Française erwirkt. Nicht ohne feine Bosheit bestimmte man ihn dort für den Fauteuil von Anatole France. Valéry parierte den Hieb mit einer ungemein eleganten Ansprache – dem obligaten Lob seines Vorgängers –, in welcher der Name France kein einziges Mal genannt wurde. Im übrigen enthält diese Rede einen Ausblick auf die Schriftstellerei, der ungewöhnlich genug ist, um den Verfasser zu kennzeichnen. Es ist die Rede von einem »Tale Josaphat«, in dem die Menge der Schreibenden, einstiger und jetziger, sich drängt: »Alles Neue verliert sich in anderm Neuen. Jede Illusion, orginal zu sein, schwindet. Die Seele wird betrübt und wendet in Gedanken, zwar mit Schmerz, jedoch mit sonderbarem, der mit tiefem Mitleid und Ironie versetzt ist, jenen Millionen federbewehrter Geschöpfe sich zu, jenen zahllosen Agenten des Geistes, deren jeder zu seiner Stunde sich als freier Schöpfer, als erste bewegende Ursache, als Besitzer einer unumstößlichen Gewißheit, als einziger unverwechselbarer Quell vorkam, und er, der seine Tage so mit Mühsal zugebracht und die besten Stunden darauf verwandt hatte, in Ewigkeit ein Unterschiedener zu bleiben, ist nun durch die Vielzahl zunichte geworden und von der immerwachsenden Schar ihm Gleicher verschlungen.« Bei Valéry ist an die Stelle dieses ganz und gar vergeblichen Willens, sich zu unterscheiden, ein anderer getreten – der Wille zur Dauer, zu der Dauer des Geschriebenen. Dauer des Geschriebenen jedoch ist etwas durchaus anderes als Unsterblichkeit des Schreibers, hat in vielen Fällen ohne sie bestanden. Dauer, nicht Originalität ist es, die das Klassische im Schrifttum kennzeichnet, und Valéry ist nicht müde geworden, ihren Bedingungen nachzugehen. »Ein klassischer Schriftsteller«, sagt er, »ist ein Schriftsteller, der seine Ideenassoziationen verbirgt oder absorbiert.« An jenen Stellen, wo der Schwung den Autor aufs Ganze gehen ließ, wo er sich der Fügung überhoben glaubte, keine Fugen sah, und weil er sie nicht sah, sie auch nicht füllte – an jenen Stellen setzt der Schimmel des Veraltens an. Um Fugen, Grenzen des Gedankens zu erkennen, braucht es Selbstkritik. Valéry geht der Intelligenz des Schreibenden, zum al des Dichters, inquisitorisch nach, verlangt den Bruch mit der weitverbreiteten Auffassung, daß sie beim Schreibenden sich von selbst verstehe, geschweige mit der noch viel weiter verbreiteten, daß sie beim Dichter nichts zu sagen habe. Er selbst hat eine und von einer Art, die sich durchaus nicht von selbst versteht. Nichts kann befremdender sein als ihre Verkörperung, Herr Teste. Immer wieder, vom frühesten Schaffen bis zum späten, greift er auf die sonderbare Gestalt zurück, um welche so sich ein ganzer Kreis kleiner Schriften – ein Abend mit Monsieur Teste, ein Brief seiner Frau, eine Vorrede und, wie es sich versteht, auch ein Logbuch – gruppiert hat. Monsieur Teste – zu deutsch: Herr Kopf – ist eine Personifikation des Intellekts, die sehr an den Gott erinnert, von dem die negative Theologie des Nicolaus Cusanus handelt. Auf Negation läuft alles, was man von Teste erfahren kann, hinaus. Das überaus Reizvolle seiner Darstellung liegt denn auch nicht in Theoremen, sondern in den Tricks einer Verhaltungs weise, die dem Nichtsein sowenig Abbruch wie möglich und der Maxime Genüge tut: »Jede Erregung, jedes Gefühl ist Anzeichen eines Fehlers in der Konstruktion und der Anpassung.« Mag Herr Teste sich von Hause aus Mensch fühlen – er hat sich Valérys Weisheit zu Herzen genommen, die wichtigsten Gedanken seien die, die unserm Gefühl widersprechen. Er ist denn auch die Negation des »Menschlichen«: "Sieh, die Dämmerung des Ungefähr bricht herein, und vor der Tür steht die Herrschaft des Entmenschten, welche hervorgehen wird aus der Genauigkeit, der Strenge und der Reinheit in den Angelegenheiten der Menschen.« Nichts Ausladendes, Pathetisches, nichts »Menschliches« geht in den Umkreis dieses Valéryschen Sonderlings ein, dem der Gedanke die einzige Substanz darstellt, aus welcher das Vollkommene sich bilden läßt. Von dessen Attributen eines ist die Kontinuität. So sind auch Wissenschaft und Kunst im reinen Geiste ein Kontinuum, durch welches die Methode Leonardos – der im Erstlingswerk des Dichters, der »Einleitung in die Methode Leonardo da Vincis«, als ein Vorläufer des Herrn Teste auftritt -Wege bahnt, welche in keinem Fall als Grenzen mißverstanden werden dürfen. Die Methode ist es, die in ihrer Anwendung auf die Dichtung Valéry zum berühmten Begriff der poesie pure geführt hat, welcher gewiß nicht dazu geschaffen war, von einem schöngeistigen Abbé monatelang durch die literarischen Zeitschriften Frankreichs geschleift zu werden, um ihm das Eingeständnis seiner Identität mit dem Begriff des Gebets abzunötigen. Immer wieder, und mit erstaunlichem Gelingen, hat Valéry selbst die einzelnen Stationen in der Geschichte der poetischen Theorien – die Thesen Poes und Baudelaires und Mallarmés – bezeichnet, in denen das Konstruktive und das Musikalische der Lyrik ihre Kompetenzen gegeneinander abzugrenzen suchten, bis sie bei ihm selber in Reflexionen, deren Mitte seine lyrischen Meisterwerke – »Le cimetière marin«, »La jeune parque«, »Le serpent« – bilden, sich selbst als das vollendete Ineinanderspiel von Intelligenz und Stimme begreift. Die Ideen seiner Gedichte heben sich wie Inseln aus dem Meer der Stimme. Das ist es, was diese Gedankenlyrik von allem trennt, was wir im Deutschen so nennen: nirgends stößt die Idee in ihr mit dem »Leben« zusammen oder der »Wirklichkeit«. Der Gedanke hat es mit nichts zu tun als der Stimme: das ist die Quintessenz der poesie pure. »Die Lyrik ist diejenige Dichtungsart, welche die Stimme in Aktion zu ihrer Voraussetzung hat, – die Stimme, wie sie unmittelbar ausgeht oder erweckt wird von den Dingen, die man sieht oder die man in ihrer Gegenwart fühlt.« Und: »Die Forderungen einer strengen Prosodie sind der Kunstgriff, kraft dessen die natürliche Redeweise die Eigenschaften eines Widerstand leistenden Materials bekommt, das unserer Seele fremd und unseren Wünschen wie taub gegenübersteht.« Und eben dies ist das Eigentümliche der reinen Intelligenz. Diese intelligence pure aber, die bei Valéry auf den unwirtlichen Gipfeln einer esoterischen Dichtung Winterquartiere bezogen hat, ist doch dieselbe, unter deren Führung das europäische Bürgertum im Zeitalter der Entdeckungen auf seine Eroberungen ausging. Der cartesianische Zweifel am Wissen hat sich bei Valéry fast abenteuerlich und dennoch methodisch vertieft zu einem Zweifel an den Fragen selbst: »Nichts anderes als unsere geistigen Ausfallserscheinungen sind der Bereich der Mächte des Zufalls, der Götter und des Schicksals. Besäßen wir auf alles eine Antwort – will sagen eine exakte Antwort – so würden diese Mächte nicht existieren ... Wir fühlen das auch genau, und dies ist der Grund, warum wir uns am Ende gegen unsere eigenen Fragen wenden. Das müßte aber den Anfang darstellen. Man muß im Innern bei sich selber eine Frage formen, die allen andern vorhergeht und ihrer jeder abfragt, was sie taugt.« Die strikte Rückbeziehung solcher Gedanken auf die heroische Periode des europäischen Bürgertums gestattet es, der überraschung Herr zu werden, mit der wir hier auf einem vorgeschobensten Punkte des alten europäischen Humanismus noch einmal der Idee des Fortschritts begegnen. Und zwar ist es die stichhaltige und echte: die des übertragbaren in den Methoden, welche dem Begriff der Konstruktion bei Valéry so handgreiflich korrespondiert, wie sie der Zwangsvorstellung der Inspiration zuwiderläuft. »Das Kunstwerk«, hat einer seiner Interpreten gesagt, »ist keine Schöpfung: es ist eine Konstruktion, in der die Analyse, die Berechnung, die Planung die Hauptrolle spielen.« Die letzte Tugend des methodischen Prozesses, den Forschenden über sich selbst hinauszuführen, hat sich dabei an Valéry bewährt. Denn wer ist Monsieur Teste, wenn nicht das Individuum, welches, schon bereit die Schwelle des geschichtlichen Verschwindens zu überschreiten, noch einmal, schattenhaft, auf den Appell sich einstellt, um sogleich unterzutauchen, wo es, von keinem mehr betroffen, in eine Ordnung eingeht, deren Nahen Valéry folgendermaßen umschreibt: »Im Zeitalter Napoleons hatte die Elektrizität ungefähr die Bedeutung, die man zur Zeit des Tiberius dem Christentum beimessen konnte. Allmählich wurde es offenkundig, daß diese allgemeine Innervation der Welt folgenschwerer und besser imstande war, das künftige Leben zu ändern als alle ›politischen‹ Ereignisse von Ampère bis auf den heutigen Tag.« Der Blick, den er auf diese kommende Welt wirft, ist nicht mehr der des Offiziers, sondern nur noch der des wetterkundigen Seemanns, der den großen Sturm nahen fühlt und die veränderten Bedingungen des Weltgeschehens -»zunehmende Präzision und Genauigkeit, zunehmende Wirkungsstärke« – zu gut erkannt hat, um nicht zu wissen, daß ihnen gegenüber selbst »die tiefsten Gedanken eines Machiavell oder Richelieu heute nur die Zuverlässigkeit und den Wert von Börsentips« haben. So steht er »aufrecht da, der Mann auf dem Kap des Denkens, Ausschau haltend, so scharf er kann, nach den Grenzen der Dinge oder der Sehkraft«.