Zum Bilde Prousts
I.
Die dreizehn Bände von Marcel Prousts »A la Recherche du Temps perdu« sind das Ergebnis einer unkonstruierbaren Synthesis, in der die Versenkung des Mystikers, die Kunst des Prosaisten, die Verve des Satirikers, das Wissen des Gelehrten und die Befangenheit des Monomanen zu einem autobiographischen Werke zusammentreten. Mit Recht hat man gesagt, daß alle großen Werke der Literatur eine Gattung gründen oder sie auflösen, mit einem Worte, Sonderfälle sind. Unter ihnen ist aber dieser einer von den unfaßlichsten. Vom Aufbau angefangen, welcher Dichtung, Memoirenwerk, Kommentar in einem darstellt, bis zu der Syntax uferloser Sätze (dem Nil der Sprache, welcher hier befruchtend in die Breiten der Wahrheit hinübertritt) ist alles außerhalb der Norm. Daß dieser große Einzelfall der Dichtung gleichzeitig ihre größte Leistung in den letzten Jahrzehnten darstellt, das ist die erste, aufschlußreiche Erkenntnis, die an den Betrachter herantritt. Und ungesund im höchsten Grade der Bedingungen, die ihm zugrunde lagen. Ein ausgefallenes Leiden, ungemeiner Reichtum und eine anormale Veranlagung. Nicht alles an diesem Leben ist musterhaft, exemplarisch aber ist alles. Es weist der überragenden schriftstellerischen Leistung dieser Tage ihren Ort im Herzen der Unmöglichkeit, im Zentrum und freilich zugleich im Indifferenzpunkt aller Gefahren an und kennzeichnet diese große Realisierung des »Lebenswerks« als eine letzte auf lange. Prousts Bild ist der höchste physiognomische Ausdruck, den die unaufhaltsam wachsende Diskrepanz von Poesie und Leben gewinnen konnte. Das ist die Moral, die den Versuch rechtfertigt, es heraufzurufen.
Man weiß, daß Proust nicht ein Leben wie es gewesen ist in seinem Werke beschrieben hat, sondern ein Leben, so wie der, der's erlebt hat, dieses Leben erinnert. Und doch ist auch das noch unscharf und bei weitem zu grob gesagt. Denn hier spielt für den erinnernden Autor die Hauptrolle gar nicht, was er erlebt hat, sondern das Weben seiner Erinnerung, die Penelopearbeit des Eingedenkens. Oder sollte man nicht besser von einem Penelopewerk des Vergessens reden? Steht nicht das ungewollte Eingedenken, Prousts mémoire involontaire dem Vergessen viel näher als dem, was meist Erinnerung genannt wird? Und ist dies Werk spontanen Eingedenkens, in dem Erinnerung der Einschlag und Vergessen der Zettel ist, nicht vielmehr ein Gegenstück zum Werk der Penelope als sein Ebenbild? Denn hier löst der Tag auf, was die Nacht wirkte. An jedem Morgen halten wir, erwacht, meist schwach und lose, nur an ein paar Fransen den Teppich des gelebten Daseins, wie Vergessen ihn in uns gewoben hat, in Händen. Aber jeder Tag löst mit dem zweckgebundenen Handeln und, noch mehr, mit zweckverhaftetem Erinnern das Geflecht, die Ornamente des Vergessens auf. Darum hat Proust am Ende seine Tage zur Nacht gemacht, um im verdunkelten Zimmer bei künstlichem Lichte all seine Stunden ungestört dem Werk zu widmen, von den verschlungenen Arabesken sich keine entgehen zu lassen.
Wenn die Römer einen Text das Gewebte nennen, so ist es kaum einer mehr und dichter als Marcel Prousts. Nichts war ihm dicht und dauerhaft genug. Sein Verleger Gallimard hat erzählt, wie Prousts Gepflogenheiten beim Korrekturlesen die Verzweiflung der Setzer machten. Die Fahnen kamen immer randvoll beschrieben zurück. Aber kein einziger Druckfehler war ausgemerzt worden; aller verfügbare Raum war mit neuem Texte erfüllt. So wirkte die Gesetzlichkeit des Erinnerns noch im Umfang des Werks sich aus. Denn ein erlebtes Ereignis ist endlich, zumindest in der einen Sphäre des Erlebens beschlossen, ein erinnertes schrankenlos, weil nur Schlüssel zu allem was vor ihm und zu allem was nach ihm kam. Und noch in anderem Sinne ist es die Erinnerung, die hier die strenge Webevorschrift gibt. Einheit des Textes nämlich ist allein der actus purus des Erinnerns selber. Nicht die Person des Autors, geschweige die Handlung. Ja man kann sagen, deren Intermittenzen sind nur die Kehrseite vom Kontinuum des Erinnerns, das rückwärtige Muster des Teppichs. So wollte es Proust, so hat man ihn zu verstehen, wenn er sagte, er sähe am liebsten sein ganzes Werk zweispaltig in einem Bande und ohne jeden Absatz gedruckt.
Was suchte er so frenetisch? Was lag diesen unendlichen Mühen zugrunde? Dürfen wir sagen, daß alle Leben, Werke, Taten, welche zählen, nie andres waren, als die unbeirrte Entfaltung der banalsten und flüchtigsten, sentimentalsten und schwächsten Stunde im Dasein dessen, dem sie zugehören? Und als Proust an einer berühmten Stelle diese seine eigenste Stunde geschildert hat, tat er's so, daß jeder sie im eigenen Dasein wiederfindet. Nur wenig fehlt, und wir dürften sie eine alltägliche nennen. Sie kommt mit der Nacht, einem verlorenen Gezwitscher oder dem Atemzug an der Brüstung des offenen Fensters. Und es ist nicht abzusehen, was für Begegnungen uns bestimmt wären, wenn wir weniger willfährig wären, zu schlafen. Proust willfahrte dem Schlafe nicht. Und dennoch, eben darum vielmehr, konnte Jean Cocteau in einem schönen Essay von dem Tonfall seiner Stimme sagen, daß sie den Gesetzen von Nacht und Honig gehorsam war. Indem er unter ihre Herrschaft trat, besiegte er die hoffnungslose Trauer in seinem Innern (das was er einmal »l'imperfection incurable dans l'essence même du présent« genannt hat), und baute aus den Waben der Erinnerung dem Bienenschwarm der Gedanken sein Haus. Cocteau hat gesehen, was jeden Leser Prousts im höchsten Grade beschäftigen sollte: er sah das blinde, unsinnige und besessene Glücksverlangen in diesem Menschen. Es leuchtete aus seinen Blicken. Die waren nicht glücklich. Aber in ihnen saß das Glück wie im Spiel oder in der Liebe. Es ist auch nicht schwer zu sagen, warum dieser herzstockende, sprengende Glückswille, der Prousts Dichten durchdringt, seinen Lesern so selten eingeht. Proust selbst hat es ihnen an vielen Stellen erleichtert, auch dieses œuvre unter der altbewährten, bequemen Perspektive der Entsagung, des Heroismus, der Askese zu betrachten. Nichts leuchtet ja den Musterschülern des Lebens so ein, als eine große Leistung sei die Frucht von nichts als Mühen, Jammer und Enttäuschung. Denn daß am Schönen auch das Glück noch Anteil haben könnte, das wäre zuviel des Guten, darüber würde ihr Ressentiment sich niemals trösten.
Es gibt nun aber einen zwiefachen Glückswillen, eine Dialektik des Glücks. Eine hymnische und eine elegische Glücksgestalt. Die eine: das Unerhörte, das Niedagewesene, der Gipfel der Seligkeit. Die andere: das ewige Nocheinmal, die ewige Restauration des ursprünglichen, ersten Glücks. Diese elegische Glücksidee, die man auch die eleatische nennen könnte, ist es, die für Proust das Dasein in einen Bannwald der Erinnerung verwandelt. Ihr hat er nicht allein im Leben Freunde und Gesellschaft, sondern im Werke Handlung, Einheit der Person, Fluß der Erzählung, Spiel der Phantasie geopfert. Es war nicht der Schlechteste seiner Leser – Max Unold – der an die dergestalt bedingte »Langeweile« seiner Schriften anschloß, um sie mit »Schaffner-Geschichten« zu vergleichen, und der die Formel fand: »Er hat es fertiggebracht, die Schaffner-Geschichte interessant zu machen. Er sagt: Denken Sie sich, Herr Leser, gestern tunk ich einen Biskuit in meinen Tee, da fällt mir ein, daß ich als Kind auf dem Land war – dafür verwendet er 80 Seiten, und das ist so hinreißend, daß man nicht mehr der Zuhörende, sondern der Wachträumende selbst zu sein glaubt.« In solchen Schaffner-Geschichten – »alle gewöhnlichen Träume werden, sobald man sie erzählt, Schaffner-Geschichten« – hat Unold die Brücke zum Traum gefunden. An ihn muß jede synthetische Interpretation von Proust anschließen. Unscheinbare Pforten genug führen hinein. Da ist Prousts frenetisches Studium, sein passionierter Kultus der Ähnlichkeit. Nicht da, wo er sie in den Werken, Physiognomien oder Redeweisen, immer bestürzend, unvermutet aufdeckt, läßt sie die wahren Zeichen ihrer Herrschaft erkennen. Die Ähnlichkeit des Einen mit dem Andern, mit der wir rechnen, die im Wachen uns beschäftigt, umspielt nur die tiefere Traumwelt, in der, was vorgeht, nie identisch, sondern ähnlich: sich selber undurchschaubar ähnlich, auftaucht. Kinder kennen ein Wahrzeichen dieser Welt, den Strumpf, der die Struktur der Traumwelt hat, wenn er im Wäschekasten eingerollt, »Tasche« und »Mitgebrachtes« zugleich ist. Und wie sie selbst sich nicht ersättigen können, dies beides: Tasche und was drin liegt, mit einem Griff in etwas Drittes zu verwandeln, in den Strumpf, so war Proust unersättlich, die Attrappe, das Ich, mit einem Griffe zu entleeren, um immer wieder jenes Dritte: das Bild, das seine Neugier, nein, sein Heimweh stillte, einzubringen. Zerfetzt von Heimweh lag er auf dem Bett, Heimweh nach der im Stand der Ähnlichkeit entstellten Welt, in der das wahre surrealistische Gesicht des Daseins zum Durchbruch kommt. Ihr gehört an, was bei Proust geschieht, und wie behutsam und vornehm es auftaucht. Nämlich nie isoliert pathetisch und visionär, sondern angekündigt und vielfach gestützt eine gebrechliche kostbare Wirklichkeit tragend: das Bild. Es löst sich aus dem Gefüge der Proustschen Sätze wie unter Françoisens Händen in Balbec der Sommertag, alt, unvordenklich, mumienhaft aus den Tüllgardinen.
II.
Das Wichtigste, was einer zu sagen hat, proklamiert er nicht immer laut. Und auch im stillen vertraut er es nicht immer dem Vertrautesten, Nächsten, nicht immer dem, der am ergebensten sich in Bereitschaft hielt, sein Geständnis entgegenzunehmen. Wenn nun nicht Personen allein, sondern auch Zeitalter solche keusche, nämlich solch durchtriebene und frivole Art haben, ihr Eigenstes einem Beliebigen mitzuteilen, so ist es für das neunzehnte Jahrhundert nicht Zola oder Anatole France, sondern der junge Proust, der unbeträchtliche Snob, der verspielte Salonlöwe, der von dem gealterten Zeitlauf (wie von einem anderen, gleich sterbensmatten Swann) die erstaunlichsten Konfidenzen im Fluge auffing. Erst Proust hat das neunzehnte Jahrhundert memoirenfähig gemacht. Was vor ihm ein spannungsloser Zeitraum war, ist zum Kraftfeld geworden, in dem die mannigfachsten Ströme von späteren Autoren erweckt wurden. Es ist auch gar kein Zufall, daß das interessanteste Werk dieser Art von einer Verfasserin stammt, die Proust persönlich als Bewunderin und Freundin nahegestanden hat. Bereits der Titel, unter dem die Fürstin Clermont-Tonnerre den ersten Band ihres Memoirenwerks vorstellt – »Au Temps des Equipages« – wäre vor Proust kaum denkbar gewesen. Im übrigen ist es das Echo, das dem vieldeutigen, liebevollen und herausfordernden Zuruf des Dichters aus dem Faubourg Saint-Germain leise zurücktönt. Dazu ist diese (melodische) Darstellung voll von direkten oder indirekten Beziehungen auf Proust in ihrer Haltung wie in ihren Figuren, unter denen er selber und manche seiner liebsten Studienobjekte aus dem Ritz sind. Damit sind wir freilich, das läßt sich nicht abstreiten, in einem sehr feudalen Milieu und mit Erscheinungen wie Robert de Montesquiou, den die Fürstin Clermont-Tonnerre meisterhaft darstellt, in einem sehr speziellen dazu. Aber das sind wir bei Proust auch; und es fehlt auch bei ihm bekanntlich das Gegenstück zu einem Montesquiou nicht. Das alles verlohnte die Diskussion nicht – zumal die Frage der Modelle zweiten Ranges und für Deutschland belanglos ist – liebte nicht die deutsche Kritik so sehr, sich's bequem zu machen. Und vor allem: sie konnte die Gelegenheit nicht vorbeigehen lassen, sich mit dem Mob der Leihbüchereien zu enkanaillieren. Ihren Routiniers lag also nichts näher, als vom snobistischen Milieu des Werkes auf den Verfasser zu schließen und Prousts Werk als interne französische Angelegenheit, als Unterhaltungsbeilage zum Gotha zu kennzeichnen. Nun liegt es auf der Hand: die Probleme der proustischen Menschen entstammen einer saturierten Gesellschaft. Aber da ist nicht eins, das mit denen des Verfassers sich deckt. Diese sind subversiv. Müßte man sie auf eine Formel bringen, so wäre sein Anliegen, den ganzen Aufbau der höheren Gesellschaft in Gestalt einer Physiologie des Geschwätzes zu konstruieren. Es gibt im Schatze ihrer Vorurteile und Maximen keine, die seine gefährliche Komik nicht annihiliert. Auf diese als erster hingewiesen zu haben ist nicht das geringste der bedeutenden Verdienste, die Léon Pierre-Quint als der erste Interpret Prousts sich erworben hat. »Wenn von humoristischen Werken die Rede ist«, schreibt Quint, »denkt man gewöhnlich an kurze, lustige Bücher in illustrierten Umschlägen. Man vergißt Don Quichote, Pantagruel und Gil Blas, enggedruckte, unförmige Wälzer.« Die subversive Seite des Proustschen Werks erscheint in diesem Zusammenhange am bündigsten. Und hier ist weniger Humor als Komik das eigentliche Zentrum seiner Kraft; er hebt die Welt nicht im Gelächter auf, sondern schleudert sie im Gelächter nieder. Auf die Gefahr, daß sie in Scherben geht, vor denen er nur selber in Tränen ausbricht. Und sie gehen in Scherben: die Einheit der Familie und der Persönlichkeit, der Sexualmoral und der Standesehre. Die Prätentionen der Bourgeoisie zerschellen im Gelächter. Ihre Rückflucht, ihre Reassimilation durch den Adel ist das soziologische Thema des Werkes.
Proust wurde des Trainings nicht müde, den der Umgang in den feudalen Kreisen erforderte. Ausdauernd und ohne sich viel Zwang tun zu müsssen, schmeidigte er seine Natur, um sie so undurchdringlich und findig, devot und schwierig zu machen, wie er um seiner Aufgabe willen es werden mußte. Später wurde die Mystifikation, die Umständlichkeit ihm dermaßen zur Natur, daß seine Briefe manchmal ganze Systeme von Parenthesen – und nicht nur grammatischen – sind. Briefe, die trotz ihrer unendlich geistvollen, wendigen Abfassung bisweilen jenes legendäre Schema in Erinnerung rufen: »Verehrte gnädige Frau, ich merke eben, daß ich gestern meinen Stock bei Ihnen vergaß, und bitte Sie, dem Überbringer dieses Schreibens ihn auszuhändigen. P. S. Verzeihen Sie bitte die Störung, ich habe ihn soeben gefunden.« Wie erfinderisch ist er in Schwierigkeiten. Spät in der Nacht erscheint er bei der Fürstin Clermont-Tonnerre, um sein Bleiben an die Bedingung zu knüpfen, daß ihm die Medizin von Hause geholt werde. Und nun schickt er den Kammerdiener, gibt ihm eine lange Beschreibung der Gegend, des Hauses. Zuletzt: »Sie können es nicht verfehlen. Das einzige Fenster auf dem Boulevard Haussmann, in dem noch Licht brennt.« Nur nicht die Nummer. Man versuche, in einer fremden Stadt die Adresse eines Bordells zu erfahren, und hat man dann die langatmigste Auskunft bekommen – nur alles andere als die Straße und Hausnummer –, so wird man verstehen, was hier gemeint ist (und wie es mit Prousts Liebe zum Zeremonial, seiner Verehrung für Saint-Simon und nicht zuletzt seinem intransigenten Franzosentume zusammenhängt). Ist nicht die Quintessenz der Erfahrung: erfahren, wie höchst schwierig Vieles zu erfahren ist, das doch anscheinend sich in wenig Worten sagen ließe. Nur daß solche Worte einem kästen- und standesmäßig festgelegten Rotwelsch angehören und für Außenseiter nicht zu verstehen sind. Kein Wunder, daß die Geheimsprache der Salons Proust passionierte. Als er später an die gnadenlose Schilderung des petit clan, der Courvoisier, des »esprit d'Oriane« herantrat, hatte er selber im Umgang mit den Bibesco die Improvisationen einer Schlüsselsprache kennengelernt, in die auch wir inzwischen eingeführt worden sind.
Proust hat in den Jahren seines Salonlebens nicht nur das Laster der Schmeichelei in einem eminenten – man möchte sagen: theologischen – Grade ausgebildet, auch das der Neugier. Auf seinen Lippen war ein Abglanz des Lächelns, das in der Leibung mancher von den Kathedralen, die er so liebte, wie ein Lauffeuer über die Lippen der törichten Jungfraun huscht. Es ist das Lächeln der Neugier. Hat Neugier ihn im Grunde zu solch großem Parodisten gemacht? Wir wüßten dann zugleich, was wir vom Worte »Parodist« an dieser Stelle zu halten hätten. Nicht viel. Denn wenn es auch seiner abgründigen Malice gerecht wird, so geht es doch am Bittren, Wilden und Verbissenen der großartigen Reportagen vorbei, die er im Stile Balzacs, Flauberts, Sainte-Beuves, Henri de Régniers, der Goncourts, Michelets, Renans und schließlich seines Lieblings Saint-Simon verfaßt und in dem Bande »Pastiches et Mélanges« gesammelt hat. Es ist die Mimikry des Neugierigen, die der geniale Trick dieser Folge, zugleich aber ein Moment für das Vegetabilische nicht ernst genug genommen werden kann. Ortega y Gasset hat als erster die Aufmerksamkeit auf das vegetative Dasein der proustschen Figuren gelenkt, die in einer so nachhaltigen Weise an ihren sozialen Fundort gebunden, vom Stande der feudalen Gnadensonne bestimmt, vom Winde, der von Guermantes oder Méséglise weht, bewegt und undurchdringlich in dem Dickicht ihres Schicksals miteinander verschlungen werden. Diesem Lebenskreise entstammt, als Verfahren des Dichters, die Mimikry. Seine genauesten, evidentesten Erkenntnisse sitzen auf ihren Gegenständen wie auf Blättern, Blüten und Ästen Insekten, die nichts von ihrem Dasein verraten, bis ein Sprung, ein Flügelschlag, ein Satz dem erschreckten Betrachter zeigen, daß hier ein unberechenbares eigenes Leben unscheinbar sich in eine fremde Welt geschlichen hatte. »Die Metapher, so unerwartet sie ist«, sagt Pierre-Quint, »bildet sich eng an den Gedanken an.«
Den wahren Leser Prousts durchschüttern immerwährend kleine Schrecken. Im übrigen findet er in der Metaphysik den Niederschlag der gleichen Mimikry, die ihn als Kampf ums Dasein dieses Geistes im Laubdach der Gesellschaft frappieren mußte. Es ist ein Wort davon zu sagen, wie innig und befruchtend diese beiden Laster, die Neugier und die Schmeichelei, einander durchdrungen haben. Eine aufschlußreiche Stelle bei der Fürstin Clermont-Tonnerre heißt: »Und zum Schluß können wir nicht verschweigen: Proust berauschte sich am Studium des Dienstpersonals. War es, weil hier ein Element, dem er sonst nirgend begegnete, seinen Spürsinn reizte, oder neidete er es ihnen, daß sie die intimen Details von den Dingen, die sein Interesse erregten, besser beobachten konnten? Wie dem nun sei – das Dienstpersonal in seinen verschiedenen Figuren und Typen war seine Leidenschaft.« In den fremdartigen Abschattungen eines Jupien, eines Monsieur Aimé, einer Céleste Albaret zieht deren Reihe von der Gestalt einer Françoise, die mit den derben, spitzigen Zügen der heiligen Martha leibhaftig einem Stundenbuch entstiegen scheint, sich bis zu jenen grooms und chasseurs, denen nicht Arbeit sondern Müßiggang bezahlt wird. Und vielleicht nimmt die Repräsentation das Interesse dieses Kenners der Zeremonien nirgends gespannter als in diesen niedersten Graden in Anspruch. Wer will ermessen, wieviel Bedientenneugier in Prousts Schmeichelei, wieviel Bedientenschmeichelei in seine Neugier einging, und wo diese durchtriebene Kopie der Bedientenrolle auf den Höhen des sozialen Lebens ihre Grenzen hatte? Er gab sie, und er konnte nicht anders. Denn wie er selber einmal verrät: »voir« und »désirer imiter« waren ihm ein und dasselbe. Diese Haltung hat, souverän und subaltern wie sie war, Maurice Barrès in einem der profiliertesten Worte, die je auf Proust geprägt worden sind, festgehalten: »Un poète persan dans une loge concierge.«
Es war in Prousts Neugier ein detektivischer Einschlag. Die oberen Zehntausend waren ihm ein Verbrecherclan, eine Verschwörerbande, mit der sich keine andere vergleichen kann: die Kamorra der Konsumenten. Sie schließt aus ihrer Welt alles aus, was Anteil an der Produktion hat, verlangt zumindest, daß sich dieser Anteil graziös und schamhaft hinter einem Gestus birgt, wie die vollendeten Professionals der Konsumtion ihn zur Schau tragen. Prousts Analyse des Snobismus, die weit wichtiger ist als seine Apotheose der Kunst, stellt in seiner Gesellschaftskritik den Höhepunkt dar. Denn nichts anderes ist die Haltung des Snob als die konsequente, organisierte, gestählte Betrachtung des Daseins vom chemisch-reinen Konsumentenstandpunkt. Und weil aus dieser satanischen Feerie die entfernteste so gut wie die primitivste Erinnerung an die Produktivkräfte der Natur verbannt werden sollte, darum war ihm selbst in der Liebe die invertierte Bindung brauchbarer als die normale. Der reine Konsument aber ist der reine Ausbeuter. Er ist es logisch und theoretisch, er ist es bei Proust in der ganzen Konkretheit seines aktuellen historischen Daseins. Konkret weil undurchschaubar und nicht zu stellen. Proust schildert eine Klasse, die in allen Teilen auf Tarnung ihrer materiellen Basis verpflichtet und eben darum einem Feudalismus angebildet ist, der, ohne wirtschaftliche Bedeutung in sich, als Maske der Großbourgeoisie um so verwendbarer ist. Dieser illusionslose, gnadenlose Entzauberer des Ich, der Liebe, der Moral, als welchen Proust sich zu sehen liebte, macht seine ganze grenzenlose Kunst zum Schleier dieses einen und lebenswichtigsten Mysteriums seiner Klasse: des wirtschaftlichen. Nicht als ob er ihr damit zu Diensten wäre. Er ist ihr nur voraus. Was sie lebt, beginnt bei ihm schon verständlich zu werden. Doch vieles von der Größe dieses Werkes wird unerschlossen oder unentdeckt verbleiben, bis diese Klasse ihre schärfsten Züge im Endkampf zu erkennen gegeben hat.
III.
Im vorigen Jahrhundert gab es in Grenoble – ich weiß nicht, ob heute noch – ein Wirtshaus »Au Temps perdu«. Auch bei Proust sind wir Gäste, die unterm schwankenden Schild eine Schwelle betreten, hinter der uns die Ewigkeit und der Rausch erwarten. Mit Recht hat Fernandez ein thème de l'éternité bei Proust vom theme du temps unterschieden. Aber durchaus ist diese Ewigkeit keine platonische, keine utopische: sie ist rauschhaft. Wenn also »die Zeit für Jeden, der sich in ihren Verlauf vertieft, eine neue und bisher unbekannte Art der Ewigkeit enthüllt«, so nähert sich doch der Einzelne damit durchaus nicht »den höheren Gefilden, die ein Plato oder Spinoza mit einem Flügelschlage erreichten«. Nein – denn es gibt zwar bei Proust Rudimente eines überdauernden Idealismus. Aber nicht sie sind es, die die Bedeutung dieses Werks bedingen. Die Ewigkeit, in welche Proust Aspekte eröffnet, ist die verschränkte, nicht die grenzenlose Zeit. Sein wahrer Anteil gilt dem Zeitverlauf in seiner realsten, das ist aber verschränkten Gestalt, der nirgends unverstellter herrscht als im Erinnern, innen, und im Altern, außen. Das Widerspiel von Altern und Erinnern verfolgen, heißt in das Herz der proustschen Welt, ins Universum der Verschränkung dringen. Es ist die Welt im Stand der Ähnlichkeit und in ihr herrschen die »Korrespondenzen«, die zuerst die Romantik und die am innigsten Baudelaire erfaßte, die aber Proust (als Einziger) vermochte, in unserem gelebten Leben zum Vorschein zu bringen. Das ist das Werk der memoire involontaire, der verjüngenden Kraft, die dem unerbittlichen Altern gewachsen ist. Wo das Gewesene im taufrischen »Nu« sich spiegelt, rafft ein schmerzlicher Chock der Verjüngung es noch einmal so unaufhaltsam zusammen, wie die Richtung von Guermantes mit der Richtung von Swann für Proust sich verschränkte, da er (im dreizehnten Bande) ein letztes Mal die Gegend von Combray durchstreift und die Verschlingung der Wege entdeckt. Im Nu springt die Landschaft um wie ein Wind. »Ah! que le monde est grand à la clarté des lampes! | Aux yeux du souvenir que le monde est petit!« Proust hat das Ungeheure fertiggebracht, im Nu die ganze Welt um ein ganzes Menschenleben altern zu lassen. Aber eben diese Konzentration, in der, was sonst nur welkt und dämmert, blitzhaft sich verzehrt, heißt Verjüngung. »A la Recherche du Temps perdu« ist der unausgesetzte Versuch, ein ganzes Leben mit der höchsten Geistesgegenwart zu laden. Nicht Reflexion – Vergegenwärtigung ist Prousts Verfahren. Er ist ja von der Wahrheit durchdrungen, daß wir alle keine Zeit haben, die wahren Dramen des Daseins zu leben, das uns bestimmt ist. Das macht uns altern. Nichts andres. Die Runzeln und Falten im Gesicht, sie sind die Eintragungen der großen Leidenschaften, der Laster, der Erkenntnisse, die bei uns vorsprachen – doch wir, die Herrschaft, waren nicht zu Hause.
Schwerlich gab es seit den geistlichen Übungen des Loyola im abendländischen Schrifttum einen radikaleren Versuch zur Selbstversenkung. Auch diese hat in ihrer Mitte eine Einsamkeit, die mit der Kraft des Maelstroms die Welt in ihren Strudel hinabreißt. Und das überlaute und über alle Begriffe hohle Geschwätz, das uns aus Prousts Romanen entgegenbraust, ist das Dröhnen, mit welchem die Gesellschaft in den Abgrund dieser Einsamkeit hinabstürzt. Prousts Invektiven gegen die Freundschaft haben hier ihren Ort. Die Stille auf dem Grunde dieses Trichters – seine Augen sind die stillsten und saugendsten – wollte gewahrt sein. Was in so vielen Anekdoten irritierend und kapriziös in Erscheinung tritt, ist die Verbindung einer beispiellosen Intensität des Gesprächs mit einer nicht zu überbietenden Ferne vom Partner. Nie gab es einen, der so wie er die Dinge uns zeigen konnte. Sein weisender Finger ist ohnegleichen. Aber es gibt eine andere Geste im freundschaftlichen Miteinander, im Gespräch: die Berührung. Diese Geste ist keinem fremder als Proust. Er kann auch seinen Leser nicht anrühren, könnte es um nichts in der Welt. Wollte man die Dichtung um diese Pole – die weisende und die berührende – anordnen, so wäre die Mitte der einen das Werk von Proust, der anderen Péguys. Es ist im Grunde dies, was Fernandez ausgezeichnet begriffen hat: »Die Tiefe oder besser die Eindringlichkeit ist immer auf seiner Seite, nie auf Seiten des Partners.« Mit einem Einschlag von Zynismus und virtuos kommt das in seiner Literarkritik zum Vorschein. Ihr bedeutendstes Dokument ein Essay, auf der großen Höhe des Ruhms und der niedern des Totenbettes entstanden: »A Propos de Baudelaire«. Jesuitisch im Einverständnis mit seinen eignen Leiden, maßlos in der Schwatzhaftigkeit des Ruhenden, erschreckend in der Indifferenz des Todgeweihten, der hier noch einmal sprechen will und gleichviel wovon. Was ihn hier dem Tode gegenüber inspirierte, bestimmt ihn auch im Umgang mit den Zeitgenossen: ein so stoßhafter, harter Wechsel von Sarkasmus und Zärtlichkeit, Zärtlichkeit und Sarkasmus, daß sein Gegenstand darunter erschöpft zusammenzubrechen droht.
Das Aufreizende, Unstete des Mannes betrifft ja noch den Leser der Werke. Genug an die unabsehbare Kette der »soit que« zu denken, die eine Handlung auf erschöpfende, deprimierende Art im Lichte der unzähligen Motive zeigen, die ihr zugrunde gelegen haben können. Und doch, in dieser parataktischen Abflucht kommt zum Vorschein, wo Schwäche und Genie bei Proust nur noch eins sind: die intellektuelle Entsagung, die erprobte Skepsis, die er den Dingen entgegenbrachte. Nach den süffisanten romantischen Innerlichkeiten kam er und war, wie Jacques Rivière es ausdrückt, entschlossen, den »Sirènes intérieures« nicht den mindesten Glauben zu schenken. »Proust tritt an das Erleben ohne das leiseste metaphysische Interesse, ohne den leisesten konstruktivistischen Hang, ohne die leiseste Neigung zum Trösten heran.« Nichts ist wahrer. Und so ist denn auch die Grundfigur dieses Werkes, von der Proust nicht müde wurde, das Planvolle zu behaupten, nichts weniger als konstruiert. Planvoll aber, das ist sie wie der Verlauf unserer Handlinien oder die Anordnung der Staubgefäße im Kelch. Proust, dieses greise Kind, hat, tief ermüdet, sich an den Busen der Natur zurückfallen lassen, nicht, um an ihm zu saugen, sondern um bei ihrem Herzschlag zu träumen. So schwach muß man ihn sehen und begreift, mit welchem Glück Jacques Rivière ihn aus der Schwäche verstehen und sagen konnte: »Marcel Proust ist an derselben Unerfahrenheit gestorben, die ihm erlaubt hat, sein Werk zu schreiben. Er ist gestorben aus Weltfremdheit und weil er seine Lebensbedingungen, die für ihn vernichtend geworden waren, nicht zu ändern verstand. Er ist gestorben, weil er nicht wußte, wie man Feuer macht, wie man ein Fenster öffnet.« Und, freilich, an seinem nervösen Asthma.
Die Ärzte haben diesem Leiden machtlos gegenübergestanden. Nicht so der Dichter, der es sehr planvoll in seinen Dienst gestellt hat. Er war – um mit dem Äußerlichsten zu beginnen – ein vollendeter Regisseur seiner Krankheit. Monatelang verbindet er mit vernichtender Ironie das Bild eines Verehrers, der ihm Blumen gesandt hatte, mit deren ihm unerträglichen Duft. Und mit den Tempi und Gezeiten seines Leidens alarmiert er Freunde, die den Augenblick fürchteten und ersehnten, da der Dichter plötzlich, lange nach Mitternacht, im Salon erschien – brisé de fatigue und nur auf fünf Minuten, wie er verkündete, – um dann bis in den grauenden Morgen zu bleiben, zu müde, um sich zu erheben, zu müde, um auch nur seine Rede zu unterbrechen. Selbst der Briefschreiber findet kein Ende, diesem Leiden die entlegensten Effekte abzugewinnen. »Das Rasseln meiner Atemzüge übertönt das meiner Feder und eines Bades, das man im Stockwerk unter mir einläßt.« Aber es ist nicht das allein. Auch nicht, daß ihn die Krankheit dem mondänen Dasein entriß. Dieses Asthma ist in seine Kunst eingegangen, wenn nicht seine Kunst es geschaffen hat. Seine Syntax bildet rhythmisch auf Schritt und Tritt diese seine Erstickungsangst nach. Und seine ironische, philosophische, didaktische Reflexion ist allemal das Aufatmen, mit welchem der Alpdruck der Erinnerungen ihm vom Herzen fällt. In größerem Maßstab ist aber der Tod, den er unablässig, und am meisten wenn er schrieb, gegenwärtig hatte, die drohende, erstickende Krise. So stand er Proust gegenüber und lange, bevor sein Leiden kritische Formen annahm. Dennoch nicht als hypochondrische Grille, sondern als »réalité nouvelle«, jene neue Wirklichkeit, von der der Reflex auf Dingen und auf Menschen die Züge des Alterns sind. Physiologische Stilkunde würde ins Innerste dieses Schaffens führen. So wird niemand, der die besondere Zähigkeit kennt, mit der Erinnerungen im Geruchssinn (keineswegs Gerüche in der Erinnerung!) bewahrt werden, Prousts Empfindlichkeit gegenüber Gerüchen für Zufall erklären können. Gewiß treten die meisten Erinnerungen, nach denen wir forschen, als Gesichtsbilder vor uns hin. Und auch die freisteigenden Gebilde der mémoire involontaire sind noch zum guten Teil isolierte, nur rätselhaft präsente Gesichtsbilder. Eben darum aber hat man, um dem innersten Schwingen in dieser Dichtung sich wissend anheimzugeben, in eine besondere und tiefste Schicht dieses unwillkürlichen Eingedenkens sich zu versetzen, in welcher die Momente der Erinnerung nicht mehr einzeln, als Bilder, sondern bildlos und ungeformt, unbestimmt und gewichtig von einem Ganzen so uns Kunde geben wie dem Fischer die Schwere des Netzes von seinem Fang. Der Geruch, das ist der Gewichtssinn dessen, der im Meere der temps perdu seine Netze auswirft. Und seine Sätze sind das ganze Muskelspiel des intelligiblen Leibes, enthalten die ganze, die unsägliche Anstrengung, diesen Fang zu heben.
Im übrigen: wie innig die Symbiose dieses bestimmten Schaffens und dieses bestimmten Leidens gewesen ist, erweist am deutlichsten, daß nie bei Proust jenes heroische Dennoch zum Durchbruch kommt, mit dem sonst schöpferische Menschen sich gegen ihr Leiden erheben. Und daher darf man, von der andern Seite, sagen: eine so tiefe Komplizität mit Weltlauf und Dasein, wie die von Proust es gewesen ist, hätte unfehlbar in ein gemeines und träges Genügen auf jeder anderen Basis als so tiefen, unausgesetzten Leidens führen müssen. So aber war dies Leiden bestimmt, von einem wunsch- und reuelosen furor seine Stelle in dem großen Werkprozesse sich weisen zu lassen. Zum zweitenmal erhob sich ein Gerüst wie Michelangelos, auf dem der Künstler, das Haupt im Nacken, an die Decke der Sixtina die Schöpfung malte: das Krankenbett, auf welchem Marcel Proust die ungezählten Blätter, die er in der Luft mit seiner Handschrift bedeckte, der Schöpfung seines Mikrokosmos gewidmet hat.