»Die Rückschritte der Poesie«
Von Carl Gustav Jochmann
Einleitung
In das Verständnis des folgenden Textes einzudringen, kann durch eine Betrachtung der Ursachen erleichtert werden, die seine bisherige Verborgenheit herbeigeführt haben.
Der Platz geistiger Produktionen in der geschichtlichen Überlieferung wird nicht immer allein oder auch nur vorwiegend durch deren unmittelbare Rezeption bestimmt. Sie werden vielmehr oft mittelbar rezipiert, nämlich im Medium von Produktionen, die Wahlverwandte - Vorgänger, Zeitgenossen, Nachfolgende - hinterlassen haben. Das Gedächtnis der Völker ist darauf angewiesen, an den Materien, die ihm die Überlieferung zuführt, Gruppenbildungen vorzunehmen. Solche Gruppierungen sind beweglich; auch wechseln sie in ihren Elementen. Was aber auf die Dauer in sie nicht eingeht, ist der Vergessenheit überantwortet.
Nach Wahlverwandten von Jochmann, sei es unter den Vorgängern, sei es unter den Zeitgenossen, Ausschau haltend, werden wir freilich inne: auch diese sind, wenn nicht dem Namen so ihrem Umriß nach, von Vergessenheit wie umschattet. Da ist, ein Menschenalter vor Jochmann, Georg Forster. Sein Werk ist im Andenken der Deutschen zerniert wie einst er selbst in Koblenz von deutschen Truppen. Kaum seine unschätzbaren Briefe aus dem Paris der großen Revolution haben den Kordon durchbrechen können. Eine Darstellung, der es gelänge, die Kontinuität des revolutionären Gedankens unter der deutschen Emigration in Frankreich von Forster bis Jochmann aufzuzeigen, würde den Vorkämpfern des deutschen Bürgertums die Schuld abstatten, die seine heutigen Nachfahren insolvent findet. Sie würde auf Männer wie den Grafen Schi ab ren dorf stoßen, dessen Anfänge in die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts zurückreichen und der in Paris Jochmanns Freund wurde. Den revolutionsgeschichtlichen Memorabilien, die Jochmann nach dessen Erzählungen abgefaßt hat, ließen sich zweifellos Denkwürdigkeiten über die deutsche Emigration um die Wende des Jahrhunderts zur Seite stellen. Vermutlich hätte, wer ihnen nachgehen will, besonderen Aufschluß aus Varnhagens noch unveröffentlichten Papieren zu erwarten, die auf der Berliner Staatsbibliothek verwahrt werden.
Varnhagen war es, der von Schlabrendorf das taciteisch gefaßte Porträt gegeben hat: »Amtlos Staatsmann, heimathfremd Bürger, begütert arm.« »Ich habe«, schreibt Jochmann seinerseits am 4. Oktober 1820 an einen Freund, »bisher nur einen einzigen Unabhängigen kennen gelernt: einen Greis von 70 Jahren, der noch bis jetzt nicht einmal einen Bedienten braucht; der 40 000 Thaler Einkünfte besitzt und kaum 1 000 verzehrt, um mit dem übrigen für die Armen Haus zu halten, einen Grafen, der von jeher nur in Ländern und unter Verhältnissen hat leben wollen, in welchen sein Rang nichts gilt.« Befreundet mit Jochmann war ferner der Pariser Geschäftsträger der Stadt Frankfurt am Main, Oelsner, der seinerseits in nahen Beziehungen zu Sieyes stand. Daß Überlieferungen aus der Revolutions- und zumal der Konventszeit Jochmann in diesem Kreise anvertraut wurden - Überlieferungen, deren bedeutsamsten Niederschlag ein großer Essay über Robespierre bildet -, fällt als Zeugnis für seine politische Haltung um so mehr ins Gewicht, je weniger der Beginn der Restaurationsperiode danach angetan war, solche Überlieferung zu fördern. Man ging unter Ludwig XVIII. darauf aus, die Ereignisse der Jahre 1789 bis 1815 als eine Kette von Missetaten und von Erniedrigungen bei den Nachgeborenen und Überlebenden in Verruf zu bringen.
Es ist nicht anzunehmen, daß das Bewußtsein, im Paris der großen Revolution vertreten gewesen zu sein und dem Befreiungskampf. der Bürgerklasse glaubwürdige Zeugen gestellt zu haben, der deutschen Bourgeoisie unvermittelt abhanden gekommen ist. Um von Gutzkow und Heine zu schweigen - auch für Alexander von Humboldt und Liebig hat Paris die Kapitale des Weltbürgertums dargestellt, und die Hauptstadt der guten Europäer war es wohl noch in Nietzsches Augen. Erst die Reichsgründung bringt das deutsche Bürgertum um sein angestammtes Bild von Paris; das feudale Preußen macht aus der Stadt der großen Revolution und der Kommune ein Babyion, dem es seinen Schaftstiefel in den Nacken setzt. »Berlin soll die heilige Stadt der Zukunft werden; seine Strahlenkrone soll über der Welt leuchten. Paris ist das freche, verderbte Babyion, die große Hure, die der von Gott gesandte Engel der Vernichtung ... von der Erde austilgen wird. Wißt ihr nicht, daß der Herr die germanische Rasse zu seiner auserwählten gestempelt hat?« So Blanqui in dem vehementen Aufruf zur Verteidigung von Paris, den er im September 1871 geschrieben hat.
Gleichzeitig ging dem deutschen Bürgertum, eben durch die Reichsgründung, ein zweiter, nicht minder inhaltsreicher Traditionszusammenhang verloren, in dem Jochmanns Erscheinung zu bewahren gewesen wäre. Es ist der Zusammenhang mit der Freiheitsbewegung in den baltischen Provinzen. Jochmann war Balte. Er ist 1789 in Pernau geboren. Seine Kindheit verlief in der Abgeschiedenheit dieser Landstadt. Mit dreizehn Jahren kam er nach Riga. Nach den Lehrjahren auf der dortigen Domschule besuchte er die Universitäten Leipzig, Göttingen, Heidelberg. Die Studierenden aus den russischen Ostseeprovinzen hielten auf den deutschen Hochschulen eng zusammen. In Heidelberg befreundete Jochmann sich mit Löwis of Menar. Die Biographie Löwis of Menars von Blum enthält den eingehendsten Bericht über Jochmann, der aus diesen frühen Jahren besteht. Er schließt eine Episode ein, die als einziges Dokument einer politischen Aktivität Jochmanns die angemessene Folie für seine im folgenden Essay niedergelegten Gedanken bildet. »Er gehörte«, heißt es von Jochmann dort, »zu den anziehendsten Erscheinungen, die jene bewegte Zeit aufzuweisen hat. Von Natur höchst begabt, bildete er frühzeitig seinen eigenthümlichen Charakter aus. Er war ein wunderbares Gemisch von scharfem Verstand und phantastischem Wesen, von kühner Thatkraft und ängstlichem Lauern, von praktischem Talent und stiller Beobachtung. Schon in früher Jugend, da er noch in die Schule ging, hatte das bewegte Gemüth des merkwürdigen Menschen über Entwürfe gebrütet, deren Ausführung er zum Theil noch erlebte, doch ohne dabei mitgewirkt zu haben. So nahm er einst einen Freund geheimnißvoll aus der Stadt, um ihm in der Stille des Waldes seine Pläne zur Befreiung Griechenlands auseinanderzusetzen ... Nun er in Deutsd1land die Siegeszüge der Franzosen erlebte ..., erwachte in ihm ein alter Lieblingswunsch. Er wollte für Polens Befreiung wirken. Dazu meinte er am ersten Gelegenheit zu finden, wenn er Napoleons Adlern folgte. Sein Entschluß fand bei dem älteren Freunde [Menar], dem er ihn allein vertraute, keine Billigung, doch blieb er fest! So speisten Beide eines Abends denn noch mit den Freunden und schlichen dann davon. Löwis gab ihm in dunkler Nicht das Geleite. Bald erhielt er einen Brief, der ihm Jochmanns glücklichen Eintritt in ein französisches Regiment meldete. Später schrieb derselbe noch mehrere Male ... Nähere Bekanntschaft mit den Freiheitshelden der großen Armee, von deren Führer er für Polen nichts weiter hoffte, bewogen ihn bald, die Franzosen zu verlassen. Später hielt er die Sache so geheim, daß er selbst dem trefflichen Zschokke, den er doch ungemein schätzte, nichts davon mitgetheilt zu haben scheint.«
Der Gedanke der Bauernbefreiung, der, mit dem der nationalen verbunden, durch die französische Revolution mächtigen Antrieb erhalten hatte, ergriff schließlich, getragen von einigen baltischen Intellektuellen, auch die Letten. Unter ihnen finden sich die Rigaer Freunde Jochmanns; und hier stoßen wir auf den Namen von Garlieb Merkel. Merkel steht den Jahren nach zwischen Forster und Jochmann. Er hat einen schlechten Ruf in der Literaturgeschichte. Die Romantiker, zumal A. W. Schlegel, haben ihm übel mitgespielt; seinerseits hat er sich durch unzulängliche Urteile über große Dichtungen exponiert. Diese Unzulänglichkeit hat die deutsche Literaturgeschichte vermerkt. Was sie mit Stillschweigen überging, ist die Tatsache, daß MerkeIs Schrift »Die Letten, vorzüglich in Liefland, am Ende des philosophischen Jahrhunderts«, erschienen 1797 in Leipzig, den Kampf um die Beseitigung der Leibeigenschaft in Lettland eröffnet hat. Das Buch zeichnet sich nicht nur durch die unerschrockene Darstellung des Elends unter den lettischen Bauern aus, sondern auch durch wertvolle Angaben zur Folklore der Letten. Aus dem Gedächtnis der Gebildeten ist es noch radikaler getilgt worden als das Werk von Forster, und man kann sich fragen, ob der Verruf, den der Kritiker Merkel auf sich zu ziehen schien, nicht vor allem dem Politiker Merkel gegolten hat.
Wer solchen Fragen Raum gibt, dem stellt sich das deutsche Bürgertum des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts von einer wenig beachteten Seite dar. Er stößt auf jene in ihren produktiven Gaben begrenzten aber im Haushalt der Weltgeschichte so wichtigen Männer, deren Freimut und Überzeugungstreue die unerläßliche und verkannte Grundlage für die weiter ausgreifenden, freilich um so behutsameren revolutionären Formulierungen eines Kant und Schiller gewesen sind. Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts waren diese Zusammenhänge noch nicht vergessen. Treffend bemerkte damals der baltische Schriftsteller Julius Eckardt zu Merkels politischer Wirksamkeit: »Wie wohlan gebracht war hier jener Enthusiasmus für die Sache des gesunden Menschenverstandes und der aufgeklärten Moral, der als kritischer Maßstab für den Werth eines ›Faust‹ oder auch nur einer ›Genovefa‹ so unerträglich langweilig ist! ... Die Unerschrockenheit und Rücksichtslosigkeit, mit welcher der Jüngling Merkel seine kaum verdaute Weisheit auf die Zustände anwandte, die ihn umgaben, schafft uns ... einen hohen Begriff von der zündenden sittlichen Kraft, welche ihrer Zeit jenem viel verrufenen politischen und religiösen Rationalismus innegewohnt hat, der heutzutage den Ultras ... zur Zielscheibe ... schlechter Witze ... gut genug zu sein scheint.«
Als Merkel in gereifterem Alter mit den Romantikern, gar mit Goethe den Kampf aufnahm, waren die Würfel über die revolutionäre Zukunft des deutschen Bürgertums schon gefallen. Anders fünfzehn Jahre zuvor. Hinter dem Balten Merkel stand nur der kleine Zirkel um Nicolai; der Balte Jakob Michael Reinhold Lenz war einer der beherrschenden Geister des Sturmes und Dranges gewesen und ein Wortführer seines revolutionären Empfindens. So hat Büchner seine Gestalt heraufgerufen, und so scheint eine der eindrucksvollsten Stellen des folgenden Essays einen Nachklang von Lenz festzuhalten. Nachklang oder vielleicht nur Anklang - die Rede Jochmanns von den gepriesenen Blüten unserer Poesie, deren »kaum zwei oder drei« aus anderem Samen als dem der Knechtseligkeit entwachsen seien, erinnert an die erschütternden Lenzschen Verse:
Deutschland, armes Deutschland,
Die Kunst trieb kranke Stengel aus deinem Boden,
Höchstens matte Blüten,
Die an den Ähren hingen vom Winde zerstreut,
Und in der Hülse, wenn's hoch kam,
Zwei Körner Genie.
Jochmann ist den Zeitgenossen aus dem Wege gegangen. Wer die sprachliche Gestalt des folgenden Essays in sich aufnimmt, den wird es wenig erstaunen, daß sein Autor nichts, was er veröffentlichte, gezeichnet hat. Auch wählte er kein Pseudonym; namenlos in das Schrifttum eingehend, bettelte er ihm keine Unsterblichkeit ab. Mit ungebrochenerem Rechte als Lichtenberg hätte er seine Schriften »Ihrer Majestät der Vergessenheit« widmen können. Der Zukunft, von welcher er in prophetischen Worten spricht, wendet er gleichsam den Rücken, und sein Seherblick entzündet sich an den immer tiefer ins Vergangene hinschwindenden Gipfeln der früheren heroischen Menschengeschlechter und ihrer Poesie. Desto wichtiger ist es, auf die tiefe Verwandtschaft hinzuweisen, die dieser seherische und in sich verschlossene Geist mit den deutschen Verfechtern der bürgerlichen Revolution gehabt hat. Der soldatischste unter ihnen, Johann Gottfried Seume, führt in den baltischen Kreis zurück. Die Verrottung des Feudalismus ließ sich im Baltikum gut studieren; Seume hat mit kritischem Blick für die Zustände der Gesellschaft Europa durchwandert. Er betrat, so erzählt man von ihm, die Stube lettischer Bauern, und sein Blick fiel sogleich auf die große Peitsche, die an der Wand hing. Er fragte nach ihrer Bedeutung, und hat die Antwort, die er bekam, festgehalten. »Das sind, so lautete der Bescheid, unsere Landesgesetze.« Zu Merkeis Schrift für die lettischen Leibeigenen hat Seume aus dem Manuskript ein Gedicht beigesteuert, das den Abschluß des Bandes bildet. Jochmann hat unter den lettischen Verhältnissen schwer gelitten. Auch hat er Riga, nachdem er die Stadt 1819 im Besitz eines ausreichenden, in seiner Anwaltschaft erworbenen Vermögens verlassen hatte, nicht mehr wiedergesehen. »Jochmann«, so sagt sein Biograph, »hat den Gewinn einer schon in jungen Jahren errungenen höheren Geistesbildung und Klarheit mit einer Heimathlosigkeit erkauft, an der er lebenslang siechte.« Einsichtig aber setzt er hinzu, »daß seine Krankheit seine Gesundheit war und daß seine Zerfallenheit mit dem Vaterlande zu einer Anklage gegen dieses wird«. Jochmann hat bis zu seinem Tode, der schon 1830 eintrat, abwechselnd in Paris, in Baden und in der Schweiz gelebt. In der Schweiz schloß er sich Zschokke an, dem die Erhaltung seines Nachlasses zu verdanken ist.
Die Namen - einschließlich dieses letzten -, die im Wirkungskreise von Jochmann begegnen, zeigen: es bedurfte keiner besonderen Veranstaltung, um ihn zu einem Verschollenen zu machen. Sie alle, die den abgesprengten Vortrupp des Bürgertums in Deutschland gebildet haben, sind mehr oder weniger vergessen, darunter schriftstellerische Talente, die, ohne an Jochmann heranzureichen, sich mit Berühmteren leicht messen konnten. Wenn aber kaum einer dem öffentlichen Bewußtsein so gänzlich wie gerade Jochmann verlorenging, so hat das seine besondere Ursache. Und zwar eine objektive, die ihrerseits die subjektive Scheu vor der Autorschaft dem Verständnis näherbringt. Er ist unter den Versprengten ein Isolierter. Jünger als seine Kampfgenossen, fand Jochmann sich in der Blütezeit der Romantik. Er hat seine Abneigung gegen sie nicht verheimlicht - eher so überschwenglich ausgesprochen, daß man einen Augenblick im Zweifel sein kann, an wen er denkt, wenn er von den »geverselten Schriften« spricht, zu denen »ältere Fundgruben den Stoff hergaben«. Dennoch ist kein Zweifel, daß er sich den »mühseligen Müßiggang ..., den wir Gelehrsamkeit nennen«, von der Verfertigung von Gebilden wie dem »Kaiser Octavianus« von Tieck, den »Romanzen vom Rosenkranz« von Brentano, wenn nicht gar den »Hymnen an die Nacht« von Novalis ausgefüllt dachte. Und wenn er die Stubengelehrten schilt, die sich in das Zeitalter der Pyramiden zurücksehnen, so hat er Lorenz Oken im Auge.
Isoliert stehen die Vorkämpfer des deutschen Bürgertums in ihrer Zeit; unter ihnen ist Jochmann ein Isolierter; und wiederum isoliert steht der Aufsatz» über die Rückschritte der Poesie« unter Jochmanns Schriften. Der geschichtlichen Konstruktion, die der Essay bietet, ist nichts in den anderen zu vergleichen. In dem Ausmaß seiner philosophischen Spannungen liegt der Grund seiner Bedeutung wie seiner Schönheit. Um von der letzteren zuerst zu sprechen: der Aufsatz ist dadurch ausgezeichnet, daß er, höchsten philosophischen Gehalt bergend, der philosophischen Terminologie sich entäußert hat. Eine seltene schriftstellerische Meisterschaft war Bedingung für die Bergung seines Gedankenguts. »Der konzise Stil«, sagt Joubert, »gehört der Reflexion an. Wer mit Nachdruck gedacht hat, gibt bei der Niederschrift dem Ertrag seiner Überlegungen eine skulpturale Prägung.« Jochmanns Syntax trägt gleichsam Meißelspuren.
Der Essay umgreift die Geschichte der Menschheit von der Urzeit bis in die Zeiten ferne. In dieser Spanne entsteht die Poesie und vergeht sie wieder. Vergeht sie wirklich? Jochm:ann zeigt in dieser Frage eine denkwürdige Unschlüssigkeit. Soweit er Gedanken der Aufklärung fortentwickelt, führen sie ihn dazu, Platos »Verbannungsurtheil« über den Dichter zu bestätigen. Offenbar aber kassiert dieses Urteil der Schlußabsatz. Wenn der Leser eine »belohnendere weil gescheutere« Betätigung der Einbildungskraft, wie sie der Verfasser sich für die Zukunft erhofft, nicht notwendig als eine dichterische sich denken muß - vielmehr solche Wendung sehr wohl als einen Ausblick auf eine humanere Staatswirtschaft interpretieren kann -, so kennt der Schlußabsatz seinerseits einen wiedergeborenen »Dichtergeist«, der nun erst in den »Triumphgesängen des fortschreitenden Glückes« zu seiner Bestimmung kommt. Dieses eigentümliche Schwanken, diese fast eingeständliche Ungewißheit über die fernere Ausbildung des dichterischen Vermögens dürfte bedeutsamer sein als es irgend eine kategorische Aussage über diesen Gegenstand gewesen wäre. Nicht nur daß die hier waltende Besonnenheit auf das engste mit der eigentümlichen Schönheit des Essays zusammenhängt; man darf darüber hinaus vermuten, daß ein Versuch, der mit kategorischen Aussagen über diesen Gegenstand belastet gewesen wäre, schwerlich hätte gelingen können. Es ist demnach zu bewundern, mit welcher Weisheit Jochmann seine Worte gewogen hat, und wie er, sogleich im zweiten Absatz, sich begnügt, die leise und eindringliche Frage aufzuwerfen, ob wir denn recht haben, »alles Vergangene auch für verloren, und alles Verlorene für unersetzt und unersetzlich anzusehen«?
Das tat die Romantik. Von den Jochmannschen überlegungen aus fällt Licht auf vereinzelte denkwürdige Reaktionen, denen die Brüder Schlegel begegnet waren, als sie den humanistischen Enthusiasmus ihrer Jugendjahre mit dem späteren für das christliche Mittelalter vertauschten. Diese Wendung war um 1800 nicht mehr verkenn bar. Aus dem Jahre 1803 stammt ein Brief, der nach Geist und Form den Einsichten Jochmanns nicht unwürdig präludiert. Es schreibt ihn A. L. Hülsen an den älteren Gesinnungsfreund A. W. Schlegel. Sein Appell geht von den Neigungen aus, welche um die Jahrhundertwende das europäische Rittertum zu einem bevorzugten Gegenstand der Brüder Schlegel hatten werden lassen. »Behüte uns«, so heißt es bei Hülsen, »der Himmel, daß die alten Burgen nicht wieder aufgebaut werden. Sagt mir, lieben Freunde, wie soll ich Euch darin begreifen. Ich weiß es nicht ... Ihr mögt die glänzen[d]ste Seite des Ritterwesens hervorsuchen, sie wird so vielfach wieder verdunkelt, wenn wir es im Ganzen nur betrachten wollen. Friedrich möge nach der Schweiz reisen und unter andern nach Wallis. Die Kinder erzählen ihm noch von den ehemaligen Zwingherrn, indem sie die stolzen Burgen benennen, und das Andenken ihrer Tyrannen erscheint in den Trümmern unverwüstlich. Aber dieser Betrachtung bedarf es gar nicht. Es ist genug daß dies Wesen mit keiner göttlichen Anordnung des Lebens bestehen kann. Viel lieber möchte man auch wünschen, daß der große Haufe, den wir Volk nennen, uns Gelehrte und Ritter sämmtlich auf den Kopf schlüge, weil wir unsre Größe und Vorzüge auf sein Elend allein gründen können. Armenhäuser, Zuchthäuser, Zeughäuser und Waisenhäuser stehen neben den Tempeln, in welchen wir die Gottheit verehren wollen ... Sprechen wir vom Menschen so liegt an uns allen qua Philosophen und Künstler durchaus gar nichts; denn das Leben eines einzigen in seinen Anfoderungen an die Gesellschaft - möge er der elendeste auch seyn - ist bei weitem mehr werth, als der höchste Ruhm, den wir als Gelehrte und Ritter uns erklingen und erfechten mögen.«
Mit der Romantik setzte die Jagd nach dem falschen Reichtum ein. Nach der Einverleibung jeder Vergangenheit, nicht durch die fortschreitende Emanzipation des Menschengeschlechts, kraft deren es seiner eigenen Geschichte immer geistesgegenwärtiger in das Auge sieht und immer neue Winke ihr abgewinnt, sondern durch die Nachahmung, das Ergattern aller Werke aus abgelebten Völkerkreisen und Weltepochen. Die Romantiker streckten die Hand nach dem Epos des Mittelalters aus - und es war umsonst; die Nazarener nach seiner Heiligenmalerei - und auch das vergeblich. Gewiß können diese Unternehmungen, in andere geschichtliche Zusammenhänge eintretend, glückhafter und gewichtiger sich darstellen. Jochmann sah sie als mißglückte und als bedeutungslose und erschloß eben damit seinem Blick eine historische Perspektive, die seinen Zeitgenossen verstellt geblieben ist. Erst am Jahrhundertende und als das Unheil, in Gestalt der Architektur zumal, in Europa sich eingenistet hatte, begann der Jugendstil gegen diesen immer großspuriger sich gebärdenden, immer billigeren Reichtum sich zu empören. Die Theorien von van der Velde fingen an, ihren Einfluß zu üben, die Düsseldorfer Schule von Olbrich, der Wien er Werkbund, führten diese Reaktion fort, die mit der neuen Sachlichkeit ihre letzten, mit Adolf Loos ihre wichtigsten Thesen aufstellte.
Outsider wie Jochmann es war, ist auch Loos gewesen. Ihn erfüllte das instinktive Bestreben, um jeden Preis den Anschluß an den Rationalismus der bürgerlichen Blütezeit zurückzugewinnen. Sein Satz "Ornament ist Verbrechen« erscheint nicht umsonst als ein Resume der Jochmannschen Bemerkungen über die Tätowierung. Im Werk von Adolf Loos bereitet ein Bewußtsein von der Problematik der Kunst sich vor, das dem ästhetischen Imperialismus des vergangenen Jahrhunderts, dem Goldrausch an den »ewigen« Werten der Kunst entgegenwirkt. Von Loos fällt auf Jochmann Licht. Der erste schrieb, einen eingewurzelten Unfug abzuschaffen; der zweite bot Palliative eines übels, das sich eben in seinem Beginn befand. Nach dem Weltkrieg trat die Debatte in ihr entscheidendes Stadium: die Fragestellung mußte theoretisch durchdrungen oder modisch beschönigt werden. Beide Lösungen hatten ihr politisches Äquivalent. Die erste fällt mit neueren Versuchen einer materialistischen Theorie der Kunst zusammen (vgl. Walter Benjamin: L'CEuvre d'art à l'époque de sa reproduction mécanisée, Zeitschrift für Sozialforschung, Jahrgang V, 1936, Heft I). Die zweite wurde von den totalitären Staaten begünstigt und nahm die reaktionären Momente auf, die im Futurismus, im Expressionismus, zum Teil auch im Surrealismus zu finden waren. Sie bestreitet die Problematik der Kunst, um das Prädikat des Ästhetischen noch für ihre blutigsten Vollstreckungen in Anspruch zu nehmen. Zugleich läßt sie erkennen, wie die Begehrlichkeit nach dem Gut der Vergangenheit jedes Maß überschritten hat: nichts Geringeres schwebt den Faschisten vor, als des Mythos sich zu bemächtigen.
Demgegenüber vernehmen wir Jochmanns Rede: »Nicht alles Vergangene ist verloren.« (Wir brauchen's nicht neu zu machen.) »Nicht alles Verlorene ist unersetzt.« (Vieles ist in höhere Formen eingegangen.) »Nicht alles Unersetzte ist unersetzlich.« (Vieles einst Nützliche ist nun unnütz.) Daß Jochmann seiner Zeit hundert Jahre vorausgewesen sei, darf man nahezu mit der gleichen Gewißheit aussprechen wie daß er seinen romantischen Zeitgenossen um ein halbes Jahrhundert in der Entwicklung zurückgeblieben erschienen sein muß. Denn »die Romantiker standen«, wie Paul Valéry schreibt, »gegen das achtzehnte Jahrhundert auf und bezichtigten leichtmütig der Oberflächlichkeit Männer, die unendlich viel unterrichteter waren als sie, unendlich mehr Spürsinn für Fakten und für Ideen hatten und viel mehr auf Vorhersagen und große Gedankenzusammenhänge aus waren als sie - die Romantiker - selbst.«
Jochmann spannt den Bogen seiner Betrachtung zwischen der grauen Vor-Zeit und der goldenen Hoch-Zeit des Menschengeschlechtes aus. Er faßt die Laufbahn ins Auge, die mehreren ihrer Tugenden, vor allem der Kunstfertigkeit in der Poesie, im Laufe solcher Entwicklung beschieden ist; er erkennt, daß der Fortschritt des Menschengeschlechts mit den Rückschritten mehrerer Tugenden, vor allem aber mit dem Rückschritt der poetischen Kunst, auf das engste verbunden ist. Eine Frage liegt nahe. Ruht die Wölbung, die er dergestalt zwischen der Urzeit und der Zukunft der Menschheit spannt, auf dem Pfeiler der Hegelschen Lehre auf? Im Augenblick ist es nicht möglich, etwas Sicheres darüber auszumachen. Gewiß lag die »Phänomenologie des Geistes« schon vor, als Jochmann zu studieren begann. Aber ist sie ihm in die Hand gekommen? Daß die Beziehung, die zwischen den Fortschritten des Menschengeschlechts und den Rückschritten der Poesie nach Jochmann obwaltet, eine dialektische im Sinne Hegels ist, wird man nicht bezweifeln. Aber derart gelegentliche dialektische Konstruktionen kann man gleichzeitig bei Autoren antreffen, die bestimmt keine Kenntnis von Hegel hatten; etwa bei Fourier in der Behauptung, daß alle partialen Verbesserungen in der Sozialverfassung des Menschengeschlechtes während der »Zivilisation« notwendig eine Verschlechterung des gesamten status zur Folge haben. Im übrigen spricht einiges dafür, daß Jochmann mit Föurierschen Gedanken nicht unbekannt war. Zu der bedeutsamen Reflexion über virtus post nummos vergleiche man im »Nouveau monde industriel et societaire« die Stelle: »Dieses gemeine - nämlich in den Augen der Moralisten gemeine - Metall wird zu etwas sehr Edlem werden, wenn es der Aufrechterhaltung der einheitlichen Produktionsordnung dienen wird.« Ähnliche Berührungen lassen sich in andern Aufzeichnungen von Jochmann aufweisen. Doch ist es kaum rätlich, den Vergleich fortzuführen, zu fragen, ob sich in die Triumphgesänge des fortschreitenden Glückes, denen Jochmann entgegenlauschte, die Kinderchöre aus den Opern der phalansteres mischten. Das ist, so verlockend es wäre, sich's vorzustellen, doch äußerst ungewiß.
Jochmann stattet die künftige Gesellschaft nicht mit den bunten Farben des Utopisten aus. Vielmehr zeichnet er sie mit dem nüchternen klassizistischen Strich, mit dem Flaxman den Umrissen der Götter folgte. Die strenge privative Formulierung, in der die gleiche Sache bei Marx hervortritt: die »klassenlose« Gesellschaft:, scheint in dem Jochmannschen Text eher als in denen der Utopisten einen Vorläufer zu besitzen. Noch unabweislicher aber tritt im Begriff der »Gesänge der alten Welt« eine historische Verschränkung zutage. In seinem Gefolge begegnet die Phantasie als das »ursprüngliche Seelenvermögen«, und von ihr hebt die Gabe der vernünftigen Überlegung als eine später erworbene sich deutlich ab. Daher die Poesie die natürliche Sprache der alten Welt ist, die Prosa aber, als die der vernünftigen Überlegung gemäßere, erst später auftritt. »Der Gesang stellt die Elemente der ersten Sprache.« So lesen wir es in der 59. These des ersten Buches von Vicos »Scienza nuova«.
Jochmanns Theorie von der Dichtung als dem ursprünglichen Sprachvermögen der alten Welt stammt von Vico. Die Bildersprache, die lautlos in Winken von hieroglyphischer oder allegorischer Art sich darstellt, ist nach Vico die Sprache des ersten Weltalters: des göttlichen. Es folgt die des Gesangs, des heroischen, die für Vico aus einer doppelten Quelle fließt. Einerseits aus der »Dürftigkeit der Sprache«, andrerseits aus der »Notwendigkeit, demungeachtet einen verständlichen Ausdruck zu erzielen«. Das eben liegt der Ausdruckskraft der heroischen Sprache zugrunde, daß sie, weit entfernt, das prosaische Wort abzulösen, die Stummheit sprengt. Die prosaische Rede macht den Beschluß als die der Spätzeit, die dritte Sprache. Dies ist die entscheidende Konzeption Vicos, die bei Jochmann fruchtbar geworden ist. Daß Jochmann sie in der Tat keinem andren als dem Vico entnommen hat, erweist dessen 58. These, deren genialen Lakonismus Jochmann an einer Stelle seines Essays in einen besonders schönen Periodenbau überführt. Die These lautet: »Die Stummen stoßen unartikulierte Laute aus, die etwas vom Gesang haben. Die Stotterer finden im Gesang Mittel und Wege, die Beweglichkeit ihrer Zunge zu steigern.«
Für Jochmann war, wie für Vico, das Bild der Götter und der Heroen, wie es die Früheren erfüllte, nicht eine Ausgeburt schlauer priesterlicher Betrüger, keine Lügenmär machtlustiger Eroberer; diese Bilder waren die ersten, in denen die Menschheit, wenn auch unklar, ihre eigene Natur ansprach und Kraft für die weite Reise schöpfte; vor der sie stand. Daß, mit Jochmann zu reden, eine »mehr dichterische Beschaffenheit aller Meinungen und Kenntnisse der Menschen« einst ein unerschöpflicher Fundus der Poesie gewesen sei, ist nicht minder eine Vicosche Anschauung als daß die Unbeholfenheit der frühesten Sprachen diese dem Gesange empfohlen habe. »Das poetische Wissen«, sagt Vico, »das in der Epoche des Heidentums das erste war, beruhte auf einer Metaphysik ... , welche sinnlich geladen und von der Einbildungskraft beherrscht war. Das entsprach den ersten Menschen, deren Sache nicht das Nachdenken war, sondern eine gewaltige Anschauungskraft und eine ursprüngliche Phantasie. Dies bestimmte die Dichtung, die ihnen zu eigen war. Sie entsprang ihrem Wesen und ihrer Unwissenheit.«
Kraft der auf Vico gegründeten Anschauung von der Vorzeit ist Jochmann ebenso entscheidend von der Aufklärung abgesondert, wie er durch seinen Begriff von der Zukunft von den Romantikern isoliert ist. Erst dieser doppelte Umstand läßt die Vereinsamung ganz ermessen, in der die folgenden Aufzeichnungen gemacht wurden. Er läßt erkennen, warum sie vergessen wurden: nichts schien sie dem überlieferten zu verweben; niemand hat ihren Faden aufzunehmen vermocht. Wir dürfen hoffen, daß ihre gegenwärtige Wiederbelebung ebensowenig zufällig ist wie ihre bisherige Verschollenheit.
Walter Benjamin
Carl Gustav Jochmann's, von Pernau, Reliquien. Aus seinen nachgelassenen Papieren. Gesammelt von Heinrich Zschokke. Erster Band. Hechingen, Verlag der F. X. Ribler'schen Hofbuchhandlung. 1863.
[III] Vorwort. Es sind Reliquien eines verstorbenen, edeln Deutschen, die hier mitgetheilt werden; - Überbleibsale von dem, was der geistreiche Mann selber nur, als endliches, letztes Ergebniß von der Beobachtung eines der schicksalvollsten Zeitalter, für sich übrig behalten hatte. Er setzte den Freund, welchem er sterbend im Vermächtniß seine Papiere überließ, weniger zum Erben derselben, als zum Schiedsrichter ein, ob daran etwas der öffentlichen Bekanntmachung würdig sein möge. Jeder Tadel also, gerechter wie ungerechter, vom Inhalt gegenwärtiger Sammlung, trifft den Herausgeber derselben allein. Bisher ist in der deutschen, lesenden Welt Jochmann's Name wenig genannt und gekannt worden. Denn mit nicht geringerer Ängstlichkeit, als wohl Andere einem schriftstellerischen Rufe nachjagen, floh ihn der Bescheidene, oder Lebenskluge; und vielleicht nicht ganz mit Unrecht. Wenn er sich bereden ließ, eine oder die andere seiner Arbeiten drucken zu lassen, mußte dabei immer die feste Geheimhaltung ihres Verfassers Hauptbedingung werden1. [IV] Der größere Theil des literarischen Nachlasses bestand nun in einer Menge fleißig gesammelter Materialien zur Fortsetzung oder Erweiterung jener schon abgedruckten Schriften, über Geschichte des Protestantismus, über Hierarchie, Homöopathie u. s. w. ... -; ein anderer Theil in heftreichen Tagebüchern; einzelnen, ganz oder halb vollendeten Aufsätzen, in Entwürfen und Vorarbeiten Behufs künftiger Arbeiten über die französische Revolution, Jesuiten, politische Ökonomie, Religion und Geschichte derselben, wie auch einer Naturgeschichte des Adels. Von Allem, was nur roher Stoff geblieben war, wurde vom Herausgeber der vorliegenden Sammlung kein Gebrauch gemacht, aus Gründen, die leicht errathen werden. Dieser begnügte sich, die zerstreuten, eigenen Beobachtungen und Anmerkungen Jochmann's über Welt, Wissenschaft und Leben auszulesen, oder einzelne, vollendete Aufsätze zusammenzuordnen. Verschiedene von den letztem sind als Probeausstellung, in einen [sic] Paar Zeitschriften2 hingegeben, aber wie billig, zur Vervollständigung, auch in dieser Sammlung aufgenommen worden, zumal Zeitschriften selten beachtet werden, oder der Bewahrung werth sind ... [V] Jochmann, eben so edlen Geistes als Gemüthes, frei von der Herrschaft des Vorurtheils und der Leidenschaft; im Besitz der gründlichsten Gelehrsamkeit und mannigfaltigsten Kenntnisse, aber dabei anspruchslos; unabhängig in seinen Vermögensumständen; im Umgang und Verbindung mit ausgezeichneten Männern, die er während seines wechselnden Aufenthalts in Rußland, England, Deutschland oder in Frankreich, der Schweiz und Italien kennen lernte, zog, jeder Rolle auf der Weltbühne, die des philosophischen Beobachters vor ... Sein Styl, meistens im leichten, freien Gesellschaftston, wird oft glänzend, oft rednerisch; oft führt er eine so gedrängte Masse schwerer Gedanken mit sich, daß Satz um Satz gemustert und gewogen sein will. Und durch ihren ernsten Zug fahren dann unerwartet brennende, treffende Blitze der Wahrheit in der Seele des Lesers auf. Jochmann ist überhaupt einer der wenigen Schriftsteller unserer Tage, welche den Erholung suchenden Geist, indem sie ihn nur erquicken wollen, unvermuthet in sich selber aufregen, daß er lebendiger, schärfer sehend, [VI] und schöpferischer wird, die mehr Licht in unserm Innern wecken, als von Außen hineintragen ... Aarau, den 12. Dezember 1835. Heinrich Zschokke.
[1] Karl Gustav Jochmann, von Pernau. (Mittheilungen zu dessen Lebensgeschichte, vom Herausgeber.) ... Pernau ist ein Städtchen in Liefland, am rigischen Meerbusen. Hier ward Jochmann am 10. Februar 1790 geboren. Für die Wißbegier des Knaben scheint, schon in seinem dreizehenten Altersjahr, die dortige Schule ein zu beschränktes Feld der Kenntnisse offen gehalten zu haben. Sein Vater vertraute ihn also einem Freunde, dem Staatsrath Kreutzing, in Riga an, um ihn die Domschule daselbst besuchen zu lassen. Nach vier Lehrjahren begab sich der siebenzehnjährige Jüngling an die Hochschule von Leipzig; besuchte dann noch Göttingen, Heidelberg und, der fran[2]zösischen Sprache mächtiger zu werden, Lausanne. Nach Riga zurückgekehrt, trat er, als Rechtsanwalt, in das Geschäftsleben. Er arbeitete mit Glück. Aber sei es, daß ihm zuweilen noch seine Jugend zum Vorwurf gereichte, oder daß er's bereute, sich zu früh an ein bleibendes Verhältniß im Leben gebunden zu haben: er ging im Jahr 1812 nach England, um auch in der englischen Sprache Gewandtheit zu gewinnen. Er besuchte Oxford und Edinburg; dann verlebte er ein volles Jahr, theils in London, theils auf dem Lande bei einem Prediger ... Seinen Beruf, als Rechtsconsulent, betrieb er, nach der Heimkunft in Riga, zwar mit Beifall, aber ohne Freude. Nicht Geld-Ernten, nicht öffentliche Achtung, die ihm dafür zu Theil wurden, konnten ihn mit einem Beruf aussöhnen, der seinen Neigungen widerstrebte. Er dürstete nach unabhängigerm Leben, unter milderm Himmel, unter Völkern von vorgeschrittener Gesittung ... Inhaber eines Vermögens, welches ihm Unabhängigkeit und eine sorgenfreie Zukunft zusicherte, schied er endlich im April 1819 aus den Armen seiner rigischen Freunde ... [3] ... Er athmete freier und heiterer, als er Deutschlands Boden betrat; als er wieder der Unterhaltung mit den Weisen und Künstlern des Zeitalters genoß; und ungehemmt in Blüten und Früchten der Literatur schwelgen konnte. Doch bald fand er auch im damaligen Deutschland für sein Gemüth etwas Unwirthliches, Unheimathliches. Unter den düstern Fittigen der heiligen Allianz wehte ihm schwüle, beengende Luft. Wohin er kam, begegneten ihm durch Partheigeist aufgeregte Menschen. Es waren die Tage, da der Dichter Kotzebue durch den Dolch Sands gefallen war. Er mogte nicht unter den Deutschen länger weilen.
[Aus Zschokkes Bericht von seiner ersten Begegnung mit Jochmann am 12. September 1820.] [35] Während wir ... im Garten plaudernd beisammen saßen, und er mir abwechselnd von seinen Reisen, oder seinen Entwürfen für die Zukunft, erzählte, verlor ich mich in Betrachtung seiner Person. Wohlgebaut, von kaum mittlerer Größe, aber mager und zart, verrieth er, in der krankhaften Farbe seines sonst angenehmen Gesichts, eine schon zerstörte Gesundheit. Selbst der freundlich-milde Blick seiner Augen, auch wann er in Augenblicken der Begeisterung, oder im Ge[36]fühl der Freude lebhafter erglänzte, schien ein verborgenes Leiden anzuklagen. Allmälig verdunkelte sich vor mir seine Gestalt, als würde sie nebelhaft; ich hörte wohl seine Stimme, aber ohne seine Worte zu beachten. Es ward in diesem Augenblick der Gang seines bisherigen Lebens, selbst die geheime Geschichte seines Herzens, bis auf gewisse Einzelheiten, in mir hell. Als er endlich eine zeitlang stillschwieg, vermuthlich einer Antwort von mir gewärtig, erwachte ich wieder zur Besonnenheit und Klarheit der Dinge um mich her. Statt das Gespräch fortzusetzen, bat ich um Erlaubniß, ihm offen zu sagen, was unwillkürlich in mir vorgegangen sei, weil mir's selbst zu wichtig wäre, von ihm zu erfahren, ob mich vielleicht meine Phantasie mit einer Selbsttäuschung äffe. Ich erzählte ihm von seiner Vergangenheit, von besondern Lebensverhältnissen, von einer Liebe, die schmerzlichen Ausgang für sein Gemüth gehabt u. s. w. Er starrte mich seltsam an; er gestand redlich die verschiedenen Vorgänge ein, selbst die Richtigkeit von mir angeführter Nebendinge und Kleinigkeiten. Beide gleich sehr verwundert, erschöpften wir uns in fortgesetzter Unterhaltung mit Vermuthungen aller Art, dies seelische Räthsel zu lösen.
[Weitere Lebensdaten und Tod nach Zschokke.] [36] Von da stammte eine Freundschaft, die wir für einander durchs ganze Leben ungebrochen bewahrten. Er begab sich ins südliche Frankreich, um seine Gesundheit unter milderm Himmel erstarken zu lassen. Unbefriedigt kehrte er nach beinahe einem Jahre zu mir zurück, brachte einen Theil des Sommers (1821) in verschiedenen Gegenden der Schweiz zu; [37] ging (im Herbst 1821) nach Paris, wo er im Umgang mit Oelsner, Schlabrendorf, Stapfer, und andern Weisen und Geschäftsmännern, herrliche Tage verlebte, aber wieder zurückkam, um in den Heilquellen von Baden-Baden seine Genesung zu suchen. Diese schienen ihm zusagend; er siedelte sich endlich dort, und abwechselnd in Karlsruhe, fast ganz an ... [77] Er liebte das Leben, als eine »süße Gewohnheit;« aber glaubte selber im Ernst nicht an eine lange Dauer desselben; [78] wünschte sie sogar nicht, wenn sie nur eine Verlängerung seines Hinwelkens seyn sollte ... [80] In seinem Testament lautete der achte Satz: »Meine sämmtlichen Handschriften von Materialien-Sammlungen, Aufsätzen u. dgl. aller Art, mit einziger Ausnahme meiner Korrespondenz- und Geschäftspapiere, vermache ich meinem lieben, verehrten Freunde Herrn Heinrich Zschokke in Aarau, dem sie kostenfrei zuzustellen sind. Ich bezweifle, daß er viel mit ihnen anzufangen wissen wird. In jedem Fall übernimmt er dann wohl, aus alter Freundschaft für mich, die Mühe, sie zu vernichten.«
[Aus einem Brief Jochmanns an E. H. v. Sengbusch in Riga vom 11. Juni 1819, aus Tharand.] [4] Die Engländer haben Geschichtschreiber; die Italiener hatten dergleichen in den Zeiten ihrer Freiheit und ihres Ruhms. Die Franzosen haben wenigstens sehr reiche Sammlungen für eine Geschichte, nämlich Denkwürdigkeiten, die nur durch ihre Verborgenheit dem vergiftenden Einflusse der gleichzeitigen Autoritäten entgingen, und erst unter späten Nachkommen an's Licht traten. Nur in Deutschland giebt es, Dank der demüthigen Blindheit der Niedern, und der vornehmen Unwissenheit der Höhern! nur in Deutschland giebt es fast nichts, als Stammbäume und einen Haufen bedeutungsloser fürstlicher Familiengeschichten, in die des Volkes Geschichte zusammengeschrumpft ist. Ein Herbarium statt der Aussicht in eine reiche Landschaft! ... [18] Dazu kommt, daß die deutschen Regierungen, vielleicht in dem Bewußtseyn ihrer unsichern Stellung, aber gewiß nicht zur Sicherstellung derselben, der lächerlichsten Eifersucht gegen das einheimische Verdienst Raum geben, und jeden ausgezeichneten Deutschen daran gewöhnen, von fremden Regierungen das Anerkennen seiner Verdienste zu erwarten und bei Fremden die Belohnung derselben, ja sogar nur den Schutz, der jener Schuldigkeit ist, zu finden.
[141] Fichte's geschlossener Handelsstaat. Wunderlich, daß ein philosophischer Geist, wie Fichte, eine Gesellschaftsform empfehlen konnte, die offenbar das menschliche Geschlecht in seiner Entwickelung zu einem Stillstand führen würde, den wir im Thierreich sehen. China und Japan haben den naturwidrigen Versuch längst gemacht. Zum Glück setzt die Vollendung des Systems, dies Zerreissen aller Bande mit der übrigen Welt, auch eine neue Geld-Art voraus, die, ohne Papiergeld zu seyn, doch nur Einem, und keinem andern Volke von Werth seyn dürfte. Fichte behauptete, das Geheimniß zu besitzen. Er hat es aber mit ins Grab genommen. Die Natur hat keine in sich abgeschlossene Handelsstaaten. Selbst die Planeten und Sonnensysteme bestehen durch Verkehr und Tausch ihres Lichts, ihrer Schwere und anderer Kräfte. Auf dem Erdball ist Alles für den Zusammenhang berechnet; Oceane sind die besten Verbindungsmittel der Welttheile. Die Verschiedenheiten der Sprachen trennen nur in so weit es nöthig ist, um mehrern Gesellschaften zu gleicher Zeit das Problem der allgemeinen Gesellschaft zur Auflösung zu geben. Aber sie fliessen überall in einander, und die näm[142]lichen Sprachgesetze z. B. das Sylbengesetz; und die nämlichen Elemente führen wieder zum allgemeinen Zusammenhange. Daß die Idee der Absonderung und fortgesetzten Theilung, folgerecht durchgeführt, im Einzelnen, wie im Ganzen, immer zu Widernatürlichkeit, Elend und Hülflosigkeit führt, ist Beweis, daß sie nur Mittel seyn soll, und nimmermehr Zweck seyn kann. Alle politische Einhägungen und Abmarchungen der Nationen, Stände, Gewerbschaften, Literaturen u. s. w. sind die ewigen Zeugen unserer Unruhe in einer gezwungenen Lage. Wir dehnen und wenden uns und versuchen tausend Stellungen; aber in diesem Bette giebt es für uns keine Ruhe!
Carl Gustav Jochmann's, von Pernau, Reliquien. Aus seinen nachgelassenen Papieren. Gesammelt von Heinrich Zschokke. Zweiter Band. Hechingen, Verlag der F. X. Ribler'schen Hofbuchhandlung. 1837.
[93] [Jochmann über Maschinenwesen.] Die Erwerbungsart durch dasselbe verbreitet den Genuß, welcher sonst nur einzelnen zu statten kam, über alle Familien der Nation, und wird zur Quelle einer überschwenglichen Produktion des Reichthums. Damit aber dieser nicht durch seine immer ungleichere Vertheilung das Unglück der Mehrzahl werde, wird abermalige Umgestaltung der gesellschaftlichen Formen naturnothwendig. Ihre Auffindung ist die Aufgabe der Zeit.
Die Rückschritte der Poesie
Es giebt Erscheinungen in der Geschichte des Menschen, die uns auf den ersten Anblick wie Rückschritte desselben vorkommen, und die es an sich und in ihrer Vereinzelung auch wohl seyn mochten, die aber im Zusammenhange mit andern sie begleitenden Umständen, und in ihren entfernteren Beziehungen zu allen Zeiten am unverkennbarsten die Fortschritte unsers Geschlechts beurkundeten.
In mehreren solchen Fällen bedarf es, um sich davon zu überzeugen, eben keines außerordentlichen Scharfsinnes. Außer einigen Stubengelehrten, kommt schwerlich noch Jemand in Versuchung, in jenen riesenmäßigen Werken des grauesten Alterthumes, den ungeheuren Denkmälern einer eben so ungeheuren Herabwürdigung tagelöhnernder Millionen, etwas mehr zu bewundern als ihre Massen, kommt schwerlich noch Jemand in Versuchung die Unmöglichkeit, es ihren Erbauern gleichzuthun, für ein Unglück anzusehen, und sich, weil man in ihnen Pyramiden aufthürmte, in die Zeiten ägyptischer Priesterfratzen zurückzusehnen; aber näher liegt uns das Mißverständniß, wo sich der Umfang, nicht einer bloßen Gewaltherrschaft und ihrer Leistungen, sondern irgend eines geistigen Wirkungskreises verengerte, wo Grundsätze und Fähigkeiten, ohne [250] gleichmäßig in der herrschenden Meinung zu sinken, an Macht und äußerem Einflusse bedeutend einbüßten. Je mehr wir sie hochzuschätzen fortfahren, je größere Bewunderung uns die Sagen von ihrer früheren Allmacht einflößen, desto widerwärtiger trifft uns der Anblick ihrer gegenwärtigen Schwäche, desto geneigter sind wir, alles Vergangene auch für verloren, und alles Verlorene für unersetzt und unersetzlich anzusehn.
Wichtigere Beispiele dieser Art liefert uns die Geschichte der allmähligen Ab&spannung so mancher sittlichen Triebfedern, wie der Vaterlandsliebe, des Bürgersinnes und andrer, allgemeiner verständliche die Geschichte mehrerer Kunstfertigkeiten und Künste, namentlich die der Poesie, und ihrer gleichzeitig schwindenden innern Vollendung und äußern Wirksamkeit.
Uns von dem alten Glanze und Einflusse der Dichtkunst zu überzeugen, bedarf es keiner Hinweisung auf jene Sagen ihrer frühesten Herrschaft auch über die thierische und unbeseelte Natur ... [251] ... Je älter ein Volk, desto bedeutsamer seine Poesie, je älter seine Dichter, desto unerreichbarer ihre Werke. Ein einziger Blick auf die Gesänge der alten Welt, und auf die geschriebene Dichterei der neueren Völker liefert uns den Beweis, daß die Schritte der letztern auf diesem Wege nichts weniger als Fortschritte waren, daß zu der eingelegten Arbeit unsrer geverselten Schriften ältere Fundgruben den Stoff hergaben, daß aus dem hohen Ernste der früheren Dichtkunst ein mehr oder minder offenbarer Spaß, und aus dem Lehrer des Volkes der zeitvertreibende Gesellschafter einiger Leute von guter Erziehung geworden ist.
Ob aber das Herabsinken der Poesie von ihrer alten Hoheit zu ihrer gegenwärtigen Unbedeutsamkeit, an sich unleugbar ein Verlust, auch in andern Beziehungen dafür zu halten sey, läßt sich nur aus den Verhältnissen beurtheilen, die als wirkende Ursachen dem Geiste des Menschen jene vorherrschende und fast ausschließliche Richtung auf das Anwenden und Ausbilden derselben mittheilten; - aus Verhältnissen, denn sich in dieser Hinsicht nur auf höhere und allgemeinere Fähigkeiten der älteren Dichter beziehen wollen, hieße, was zu erklären ist als erklärt voraussetzen, da es hier doch eben auf die Gründe ankommt, aus welchen Geisteskräfte, die, wie die Erfahrung lehrt, einer unendlich mannichfachen Entwickelung fähig sind, in einem gewissen Zeitpuncte nur auf ein einziges Ziel, und auf dieses mit so entschiedenem Erfolge hinstrebten.
Solcher Gründe lassen sich theils in den Stoffen, theils in den ihre Form bedingenden Mitteln der Poesie [252] hauptsächlich drei erkennen: eine ihr bestimmter zusagende, mehr dichterische Beschaffenheit aller Meinungen und Kenntnisse der Menschen, ein entschiedener Mangel an zweckdienlicheren Hülfsmittein zur Erhaltung und Verbreitung dieser geistigen Besitzthümer, und endlich die in Betreff aller, vergleichungsweise noch armen und ungebildeten Sprachen bemerkbare, größere Leichtigkeit ihrer an irgend einen festgesetzten Rhythmus geknüpften Anwendung, im Gegensatze zu desto größeren Schwierigkeiten ihres freieren Gebrauchs ... [261] ...
Fassen wir die Ursachen einer höheren Ausbildung und Würde der Dichtkunst auch nur flüchtig in's Auge; die schrankenlosen Besitzergreifungen einer früher erwachten Einbildungskraft im ganzen Umfange unsers geistigen Gebietes, den Mangel an zuverlässigeren Mitteln zur Erhaltung des Wortes, der den Menschen alle Schätze der Wissenschaft in dichterischen Formen seinem bloßen Gedächtnisse anzuvertrauen zwang, und endlich denjenigen Zustand, sowohl der Sprache als ihres Besitzers, der ebenfalls die Regel des gemessenen Ausdruckes früher als das Gesetz der freien Rede, beides, wahrnehmen und bedürfen ließ, und sie vorzugsweise dem Erzähler und seinen Zuhörern empfahl, so muß es zugleich uns einleuchten, daß jede Veränderung, die Einen dieser Umstände zu beseitigen diente, einen Fortschritt ausmachte, und folglich das Herabsinken der dichtenden Einbildungskraft von ihrer alten Höhe, in mehr als Einer Hinsicht Beweise des allgemeineren Fortschreitens [262] der Völker enthält ... [268]
... Jeder Versuch mit Hülfe der Einbildungskraft und nur mit ihr die Aufgaben andrer Fähigkeiten zu lösen, erschwert nicht allein, sondern vereitelt auch den beabsichtigten Zweck; jeder Eingriff derselben in das Gebiet eines früheren [soll heißen: späteren] Seelenvermögens ist ein Mißgriff, jede ihrer Schöpfungen im Kreise der Wirklichkeit eine Täuschung, und wenn der sinnliche Mensch, indem er die niedrigsten Stufen seiner Bildung überschreitet, was er an Besitzthümern und Fähigkeiten unzweckmäßig erworben hat, nur besser anwenden lernt, so muß der geistige, in derselben Lage, um weiter zu kommen, die seinigen erst aufgeben und verlernen. Daher jenes Mißverhältniß zwischen unserm äußern Fortschreiten, das uns immer neue Kräfte der Natur unterwirft und neue Wahrheiten enthüllt, und unsrer innern Ausbildung, die in einem unaufhörlichen Kampfe gegen die Herrschaft alter Vorurtheile und Irrthümer besteht, zwischen immer neuen Erwerbungen im Reiche der Erscheinung, und immer neuer Einbuße des vermeintlich Erworbenen in dem des Gedankens. Ist wirklich unsre Vernunft, wie Bayle irgendwo bemerkt, nicht eine gründende und bauende, sondern eine alles erschütternde und zerstörende Kraft, so ist sie es eben, so ist sie es wenigstens noch immer, weil überall der Dichtergeist ihr zuvorkam, weil sie den Raum zu ihren Werken sich erst erobern und reinigen muß. Wir sind auf unserm, wohl nur scheinbaren, aber in jedem Falle unvermeidlichen Rückwege, noch nicht bis zu dem Punkte gelangt, von dem aus der bessere Weg sich einschlagen läßt; allein wir nähern uns ihm, und jenes Verbannungsurtheil, das Plato in seinem eingebildeten [269] Staate über den Dichter aussprach, vollstreckt in der wirklichen Welt allmählig aber unwiderruflich eine fortschreitende Civilisation.
Weit entfernt also, uns über die Rückschritte der Dichtkunst beklagen zu müssen, sollen wir uns vielmehr zu ihnen Glück wünschen. Wie oft auch bloße Fehler des Dichters und Folgen seiner geringeren Fähigkeit, sind sie doch weit öfter das Verdienst seiner Zeit; und je schwächer in irgend einem Fache die Wirkungen der Poesie, je allgemeiner die Unempfindlichkeit für eine gewisse Art von Dichtungen, desto gewisser, daß eben in diesem Fache, dem getstzgen Bedürfnisse, dem ursprünglich solche Dichtungen zu Hülfe kamen, irgend ein genügenderes Mittel Befriedigung gewährt ... [277]
Den geschwundenen Glanz und Einfluß der Poesie, wo immer der Geist naturgemäß durch andre Mittel und in andern Formen zu wirken bestimmt ist, wahrnehmen, und für nichts weniger als ein Unglück ansehen, heißt übrigens durchaus nicht, ihren eigenthümlichen Werth verkennen, wo sie in ihrem eignen Wirkungskreise herrscht. Es giebt Stotternde, die sich nur singend verständlich auszudrücken im Stande sind; wir können uns freuen, [278] wenn sie sprechen lernten, und nicht länger jede Botschaft oder Warnung absingen müssen, und wir sind darum noch nicht unempfänglich für den Zauber des Gesangs. Wir zeigen vielmehr einen um so reineren und regeren Sinn für die eigentliche Würde und Schönheit jeder Kunst, je weniger sie uns in einer unschicklichen Anwendung gefällt ... [308]
Jene ungebührliche Ausdehnung des Gebietes der Phantasie hat übrigens nicht allein in der Nachwirkung ihrer früheren Alleinherrschaft, sondern auch in dem Fortwirken bleibender Zeitverhältnisse, sie hat nicht immer nur in der Vergangenheit, sie hat auch in der Gegenwart ihren Grund, und ist alsdann, so entschieden als im ersten Falle ein Zeichen bloßer Verschrobenheit unsrer Gelehrten, der Beweis eines wesentlichen Gebrechens unsrer Gesellschaften überhaupt.
So lang die Einbildungskraft nur darum, weil noch kein andres zu einer ähnlichen Entwickelung gelangte, sich als das überwiegende Seelenvermögen zu erkennen giebt, ist ihr Vorherrschen ein völlig naturgemäßes. Bevölkert in diesem Zustande sie allein das ganze Reich unsers Gedankens mit ihren Schöpfungen, so thut sie es doch ohne irgend einen andern Bewohner desselben zu verdrängen; herrscht sie allein auch über alle unsre sinnlichen Bedürfnisse und Beziehungen, so geschieht es, weil es noch keinen andern, rechtmäßigen Herrscher über dieselben giebt; und welche üblen Folgen auch, unter veränderten Umständen, ein erkünsteltes Hervorrufen der nemlichen Erscheinungen haben mag, so läßt sich doch, so lang' es [309] nur auf Nachahmung beruht, mit Gewißheit ein naher Augenblick voraussehen, in welchem dieser Mißgriff in's Leere, sich selbst überlassen, von selbst aufhören, und die Natur der Dinge ihren unfehlbaren Sieg über ähnliche Träumereien davon tragen muß. Aber es giebt noch einen andern Zustand, in welchem die Phantasie auf ähnliche Weise übermächtig vorwaltet, nicht weil sie das einzige wache, sondern weil sie das einzige freie Seelenvermögen ist; in welchem andre Kräfte wohl auch geweckt sind, aber in Banden liegen; in welchem die wirkliche Welt mit allen ihren Schätzen und Wahrheiten uns nicht länger unbekannt, aber verschlossen bleibt; und wird ein Volk, in einer solchen Lage der Dinge, - wie sie an unserm alten Europa, in Vergleichung mit glücklicheren Gegenden der neuen Welt, am deutlichsten zu Tage liegt, - Abwege, die es im Irrthum eingeschlagen hatte, weil ihm kein besserer Weg mehr offen steht, fortzusetzen genöthigt, so ist es die kranke Phantasie, die von nun an den Scepter einer einst so reichen führt, und ein Irresprechen des Fiebernden, das der Begeisterung des Dichters folgt. Eben die schönsten Blüthen einer sogenannten höheren Ausbildung sind unter solchen Verhältnissen vielmehr Nothbehelfe der verkrüppelten Gesellschaft, als freie Entwickelungen eines Überschusses ihrer geistigen Lebenskraft; sind Ausbrüche des unbefriedigten Gefühles aus der künstlichen Wüste des bürgerlichen Lebens um uns her; Auswanderungen aus der Wirklichkeit in das Reich des Gedankens, die so wenig als die in fremde Länder immer den Wohlstand und öfter gerade das Elend derjenigen beurkunden, aus welchen sie Statt haben. Daher, nach einem geistvollen Beobachter [310] der alten und neuen Welt, in dieser letztern, wie unstreitig auch ihre allgemeinere Bildung der unsrigen überlegen erscheint, jene Unbedeutsamkeit ihrer Fortschritte in Künsten und Wissenschaften, die nicht einen sich unmittelbar belohnenden Zweck haben, während in dem sinkenden Rom und unter dem Gesindel des alten Frankreichs beide gedeihen konnten. Indem Vaterlande der Washington und Franklin findet Jeder Platz und Brod, und wozu mühselige Anstrengungen im Aufputzen des Oberflusses, der keinem Bedürfnisse abhilft, wo eine mäßige Thätigkeit ihrem Besitzer in sinnlicher und sittlicher Beziehung alles und mehr als alles Nothwendige verbürgt? Niemand in den vereinigten Staaten sieht ohne seine Schuld sich von dem, was die Erhaltung nicht allein sondern auch die Freude des Lebens erfordert, getrennt. Keiner ist jenen häuslichen Verhältnissen, die den kostbarsten Vorzug unsers Geschlechtes ausmachen, entfremdet, keiner ein Überzähliger im Leben, keiner sich in sich selbst zurückzuschmiegen und in den Räumen des Gedankens zu suchen gezwungen, was ihm sein Schicksal auf Erden verweigerte. Das aber sind eben die jämmerlichen Bestandtheile unsrer Alteuropäischen, sogenannten geistigen Überlegenheit. Aus schmerzlichen Entsagungen wie diese ging sie hervor ... [316]
Lassen die Rückschritte der Phantasie in ihrer naturgemäßen, früheren Alleinherrschaft sich insgesammt als Fortschritte der Vernunft betrachten, so zeigen sich die Beschränkungen ihres in einem späteren Zeitraume erzwungenen Vorherrschens als eben so viele Fortschritte des öffentlichen Wohls. Beide, Vernunft und Wohlbefinden, innere und äußere Fortschritte setzen einander gegenseitig voraus. Man muß, um glücklicher zu werden, vernünftiger geworden seyn, und es ist nicht immer nur ein Glück, es gehört auch zuweilen einiges Glück dazu vernünftiger zu werden. Und wer weiß, ob nicht auf einer gewissen Stufe seiner Entwickelung dem Menschen äußere Glücksgüter zum Erweitern seiner geistigen Besitzthümer noch unentbehrlicher sein mögen, als diese zur Vermehrung seines Glücks.
Wie sehr jenes lebendige Wohlseyn der neuen, den unfruchtbaren Gedankenluxus der alten Welt übertreffen [317] mag, es lassen sich Verhältnisse denken, vielseitiger und vollkommener als beides, in welchen der Mensch, ohne darum auf die Schätze der Wirklichkeit verzichten zu müssen, der mächtigsten; und einer zugleich belohnenderen weil gescheuteren Thätigkeit auch seiner Einbildungskraft fähig sein würde. Dahin aber, - und eben in ihrer unmittelbaren Richtung nach diesem Ziele geben sich uns die Vorzüge der nüchternen Verstandesbildung des Neueuropäers der nordamericanischen Freistaaten am deutlichsten zu erkennen, - dahin führen uns keine Handbücher der Geschmackslehre, sondern einzig und allein Entwickelungen unsrer gesellschaftlichen Formen, die mit den wichtigsten Wahrheiten der Staatswirthschaft und mit ihrer Anwendung im genauesten Zusammenhange stehn.
Ein großer, vielleicht der größere Theil unsers geistigen Unvermögens läßt sich auf unsre äußere Mittellosigkeit zurückführen, ein großer Theil unsrer sittlichen Mängel auf unsre sinnlichen Entbehrungen. Es giebt Wahrheiten, bemerkte Jemand, die sich in einem schlechten Rocke weder mit guter Art, noch mit rechtem Erfolge sagen lassen, und er hatte Recht. Aber es giebt ihrer noch mehrere, die in einem schlechten Rocke selten auch nur gesagt werden. Gutmacht Muth, und Freimuth eben sowohl als Übermuth; wir denken knechtisch, weil wir uns schwach fühlen, und unsre Urtheile sind in der Regel so beschränkt, als unsre Lage. In beiden Lebensbeziehungen gehen wir von der Armseligkeit aus, und gelangen wir nur gleichzeitig zu einigem Wohlstande. Die erste Sorge, die der Wilde seinem Körper angedeihen läßt, besteht in einem aberwitzigen Aufputze desselben. Er glaubt sich zu schmücken, indem er sich martert, sich [318] zu verschönern, indem er sich verstümmelt, und brennt und schneidet an seinen dem feindseligen Andrange aller Elemente preißgegebenen Gliedern, die er weder zu ernähren noch zu bekleiden versteht; gerade wie wir ihn mit gleicher Selbstgefälligkeit auch sein geistiges Ebenbild Gottes, lange bevor er es zu schützen und zu erhalten weiß, durch Laster und Vorurtheile, die ihm für lauter Verdienst und Weisheit gelten, entstellen und vergiften sehn.
Wie hätten wohl unsre sogenannten schönen Künste sich zu der Höhe, die ihnen erreichbar seyn muß, erheben können, so lange sie nur als Miethlinge jeder niedrigen Verblendung oder Leidenschaft arbeiteten! Dem Aberglauben haben sie seine Tempel gebaut und ausgeschmückt, und jedem Zwingherrn seine Palläste; dem Eigennutz und Übermuthe haben sie alle ihre Schätze gesammelt und gezollt; und heute noch giebt es vielleicht kaum zwei oder drei der gepriesenen Blüthen unsrer Poesie, die nicht, in ihre Bestandtheile zersetzt, wie jene Lafontainische Fabel, die Rousseau einer ähnlichen Probe unterwarf, als ekelhafte Gemische von Selbsttäuschung und Schmeichelei, als Vergötterungen eigner und fremder Nichtswürdigkeiten vor uns daliegen würden.
Und welchen Unterschied zwischen den verschiedenen Erwerbungen einer fortschreitenden Menschheit es im Begriffe geben mag, in der Wirklichkeit sind alle, demselben Geschlechte zugehörig, Eins und unzertrennlich, und bestimmen eben sowohl die sinnlichen den Werth, als die sittlichen das Glück ihrer Besitzer. Ober den Abgrund, den die Natur der Dinge zwischen körperlicher Entblößung und geistigem Wohlstande befestigt hat, [319] schlägt vergebens die Einbildungskraft ihren farbigen Bogen, und schwingt sich wohl zuweilen der Genius des Einzelnen, aber nimmermehr ein ganzes Volk. Wo ein solches hinüber soll, muß eine festere Brücke daliegen, die auch den Körper trägt. Glücksgüter, die uns verzärteln, werden als Gemeingüter das Leben verschönern, Vorrechte, die ihren Besitzer verderben, als Rechte ihn veredeln. Erst wenn ihre Seltenheit untergeordneten Dingen einen höheren Werth zu verleihen aufhört, wird auch unser Geschlecht aufhören, sie mit andern zu verwechseln, deren Werth auf keinem Zufalle beruht, und jenes horazische:
virtus post nummos!
der Wahlspruch der Gemeinheit im Munde des Einzelnen, enthält, auf das Schicksal ganzer Völker bezogen, eine tröstlichere Wahrheit, als der Dichter Augusts und seiner Mäzene sie nur zu ahnen im Stande war.
In dem Maaße, als der Mensch sein Wissen immer entschiedener als Macht benutzen, als er die Natur immer besser kennen, das heißt beherrschen, und jene Helotengeschäfte des Lebens, an welchen seine besten Kräfte sich abstumpfen und aufreiben, untergeordneten Geschöpfen seiner Hand, Maschinen und Werkzeugen aller Art übertragen lernt, bahnt er sich den Weg zu einer noch glücklicheren neuen Welt, in der den Sorgenlosen die Aufforderung zu immer edleren Anstrengungen für die seiner Wanderung belohnt. Sich diesem Ziele nähernd, gelangt er dann wohl zu einer geistigen Entwickelung, die eben so sehr America's bequeme Mittelmäßigkeit, als diese unsre kränklichen Treibereien übertrifft, und in deren Gefolge auch [320] der Dichtergeist sich um so höher schwingt, je weniger ihn länger ein zweckloses Umherflattern in fremden Gebieten erschöpfen darf. Andre Früchte würde die Muße einer wahrhaft menschlichen Gesellschaft hervorbringen, als jener mühselige Müßiggang unsrer bürgerlichen, den wir Gelehrsamkeit nennen; anders müßten die Triumphgesänge des fortschreitenden Glückes lauten, als die Seufzer der unbefriedigten Sehnsucht, anders die Jubellieder des befreiten Prometheus, als die Klagen des gefesselten.
[Carl Gustav Jochmann] Über die Sprache. - »Rede, daß ich dich sehe!« - C. F. Winter. Heidelberg 1828.
- Er war der anonyme Verfasser der (in Carlsruhe bei C. F. Winter) erschienenen geistvollen Bemerkungen »über Sprache« so wie der (ebendaselbst herausgekommenen) »Beiträge Zur Geschichte des Protestantismus;« desgleichen der Hie[IV]rarchie und ihrer Bundesgenossen. (Aarau bei H. R. Sauerländer), und der »Homöopathischen Briefe.«↩
- In den »Überlieferungen zur Geschichte unserer Zeit« und im »Prometheus für Licht und Recht.«↩