Franz Kafka
Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages
Potemkin
Es wird erzählt: Potemkin litt an schweren mehr oder weniger regelmäßig wiederkehrenden Depressionen, während deren sich niemand ihm nähern durfte und der Zugang zu seinem Zimmer aufs strengste verboten war. Am Hofe wurde dieses Leiden nicht erwähnt, insbesondere wußte man, daß jede Anspielung darauf die Ungnade der Kaiserin Katharina nach sich zog. Eine dieser Depressionen des Kanzlers dauerte außergewöhnlich lange. Ernste Mißstände waren die Folgen; in den Registraturen häuften sich Akten, deren Erledigung, die ohne Unterschrift Potemkins unmöglich war, von der Zarin gefordert wurde. Die hohen Beamten wußten sich keinen Rat. In dieser Zeit geriet durch einen Zufall der unbedeutende kleine Kanzlist Schuwalkin in die Vorzimmer des Kanzlerpalais, wo die Staatsräte wie gewöhnlich jammernd und klagend beisammen standen. »Was gibt es, Excellenzen? Womit kann ich Excellenzen dienen?« bemerkte der eilfertige Schuwalkin. Man erklärte ihm den Fall und bedauerte, von seinen Diensten keinen Gebrauch machen zu können. »Wenn es weiter nichts ist, meine Herren,« antwortete Schuwalkin, »überlassen Sie mir die Akten. Ich bitte darum.« Die Staatsräte, die nichts zu verlieren hatten, ließen sich dazu bewegen, und Schuwalkin schlug, das Aktenbündel unterm Arm, durch Galerien und Korridore den Weg zum Schlafzimmer Potemkins ein. Ohne anzuklopfen, ja ohne haltzumachen, drückte er die Türklinke nieder. Das Zimmer war nicht verschlossen. Im Halbdunkel saß Potemkin auf seinem Bett, nägelkauend, in einem verschlissenen Schlafrock. Schuwalkin trat zum Schreibtisch, tauchte die Feder ein und, ohne ein Wort zu verlieren, schob er sie Potemkin in die Hand, den erstbesten Akt auf seine Knie. Nach einem abwesenden Blick auf den Eindringling, wie im Schlaf vollzog Potemkin die Unterschrift, dann eine zweite; weiter die sämtlichen. Als die letzte geborgen war, verließ Schuwalkin ohne Umstände, wie er gekommen war, sein Dossier unterm Arm, das Gemach. Triumphierend die Akten schwenkend trat er in das Vorzimmer. Ihm entgegen stürzten die Staatsräte, rissen die Papiere aus seinen Händen. Atemlos beugten sie sich darüber. Niemand sagte ein Wort; die Gruppe erstarrte. Wieder trat Schuwalkin näher, wieder erkundigte er sich eilfertig nach dem Grund der Bestürzung der Herren. Da fiel auch sein Blick auf die Unterschrift. Ein Akt wie der andere war unterfertigt: Schuwalkin, Schuwalkin, Schuwalkin ...
Diese Geschichte ist wie ein Herold, der dem Werke Kafkas zweihundert Jahre vorausstürmt. Die Rätselfrage, die sich in ihr wölkt, ist Kafkas. Die Welt der Kanzleien und Registraturen, der muffigen verwohnten dunklen Zimmer ist Kafkas Welt. Der eilfertige Schuwalkin, der alles so leicht nimmt und zuletzt mit leeren Händen da steht, ist Kafkas K. Potemkin aber, der halb schlafend und verwahrlost, in einem abgelegenen Raum, zu dem der Zugang untersagt ist, dahindämmert, ist ein Ahn jener Gewalthaber, die bei Kafka als Richter in den Dachböden, als Sekretäre im Schloß hausen, und die, so hoch sie stehen mögen, immer Gesunkene oder vielmehr Versinkende sind, dafür aber noch in den Untersten und in den Verkommenstenden Türhütern und den altersschwachen Beamten – auf einmal unvermittelt in ihrer ganzen Machtfülle auftauchen können. Worüber dämmern sie dahin? Vielleicht sind sie Nachkommen der Atlanten, die die Weltkugel in ihrem Nacken tragen? Vielleicht halten sie darum den Kopf »so tief auf die Brust gesenkt, daß man kaum etwas von den Augen« sieht, wie der Schloßkastellan auf seinem Porträt oder Klamm, wenn er mit sich allein ist? Die Weltkugel aber ist es nicht, die sie tragen; nur daß schon das Alltäglichste ihr Gewicht hat: »Sein Ermatten ist das des Gladiators nach dem Kampf, seine Arbeit war das Weißtünchen eines Winkels in einer Beamtenstube.« – Georg Lukacs hat einmal gesagt: um heute einen anständigen Tisch zu bauen, muß einer das architektonische Genie von Michelangelo haben. Wie Lukacs in Zeitaltern so denkt Kafka in Weltaltern. Weltalter hat der Mann beim Tünchen zu bewegen. Und so noch in der unscheinbarsten Geste. Vielfach und oft aus sonderbarem Anlaß klatschen Kafkas Figuren in die Hände. Einmal jedoch wird beiläufig gesagt, daß diese Hände »eigentlich Dampfhämmer« sind.
In ständiger und langsamer Bewegung – versinkend oder steigend – lernen wir diese Machthaber kennen. Furchtbarer aber sind sie nirgends, als wo sie aus der tiefsten Verkommenheit sich heben: aus den Vätern. Den stumpfen altersschwachen Vater, den er soeben sanft gebettet hat, beruhigt der Sohn: »›Sei nur ruhig, du bist gut zugedeckt.‹ – ›Nein!‹ rief der Vater, daß die Antwort an die Frage stieß, warf die Decke zurück mit einer Kraft, daß sie einen Augenblick im Fluge sich ganz entfaltete, und stand aufrecht im Bett. Nur eine Hand hielt er leicht an den Plafond. ›Du wolltest mich zudecken, das weiß ich, mein Früchtchen, aber zugedeckt bin ich noch nicht. Und ist es auch die letzte Kraft, genug für dich, zuviel für dich! ... Den Vater muß glücklicherweise niemand lehren, den Sohn zu durchschauen.‹ ... – Und er stand vollkommen frei und warf die Beine. Er strahlte vor Einsicht. – ... ›Jetzt weißt du also, was es noch außer dir gab, bisher wußtest du nur von dir! Ein unschuldiges Kind warst du ja eigentlich, aber noch eigentlicher warst du ein teuflischer Mensch!‹« Der Vater, der die Last des Deckbetts abwirft, wirft eine Weltlast mit ihr ab. Weltalter muß er in Bewegung setzen, um das uralte Vater-Sohn-Verhältnis lebendig, folgenreich zu machen. Doch reich an welchen Folgen! Er verurteilt den Sohn zum Tode des Ertrinkens. Der Vater ist der Strafende. Ihn zieht die Schuld wie die Gerichtsbeamten an. Viel deutet darauf hin, daß die Beamtenwelt und die Welt der Väter für Kafka die gleiche ist. Die Ahnlichkeit ist nicht zu ihrer Ehre. Stumpfheit, Verkommenheit, Schmutz macht. sie aus. Die Uniform des Vaters ist über und über fleckig; seine Unterwäsche ist unsauber. Schmutz ist das Lebenselement der Beamten. »Es war ihr unverständlich, wozu es überhaupt Parteienverkehr gab. ›Um vorn die Haustreppe schmutzig zu machen‹, hatte ihr einmal ein Beamter auf ihre Frage, wahrscheinlich im Arger, gesagt, ihr aber war das sehr einleuchtend gewesen«. In dem Grade ist Unsauberkeit das Attribut der Beamten, daß man sie geradezu als riesenhafte Parasiten ansehen könnte. Das betrifft natürlich nicht die wirtschaftlichen Zusammenhänge, sondern die Kräfte der Vernunft und der Menschlichkeit, von denen diese Sippe ihr Leben fristet. So fristet aber auch der Vater in den sonderbaren Familien Kafkas von dem Sohn sein Leben, liegt wie ein ungeheurer Parasit auf ihm. Er zehrt nicht nur an seiner Kraft, er zehrt an seinem Rechte dazusein. Der Vater, der der Strafende ist, ist zugleich auch der Ankläger. Die Sünde, deren er den Sohn bezichtigt, scheint eine Art von Erbsünde zu sein. Denn wen trifft die Bestimmung, welche Kafka von ihr gegeben hat, mehr als den Sohn: »Die Erbsünde, das alte Unrecht, das der Mensch begangen hat, besteht in dem Vorwurf, den der Mensch macht und von dem er nicht abläßt, daß ihm ein Unrecht geschehen ist, daß an ihm die Erbsünde begangen wurde.« Wer aber wird dieser Erbsünde – der Sünde einen Erben gemacht zu haben – bezichtigt wenn nicht der Vater durch den Sohn? Somit wäre der Sündige der Sohn. Nicht aber darf man aus dem Satze Kafkas schließen, daß die Bezimtigung sündig sei, weil falsch. Nirgends steht bei Kafka, daß sie zu Unremt erfolgt. Es ist ein immerwährender Prozeß, der hier anhängig ist; und es kann auf keine Sache ein schlechteres Licht fallen als auf die, für die der Vater die Solidarität dieser Beamten, dieser Gerichtskanzleien in Anspruch nimmt. An ihnen ist eine grenzenlose Korrumpierbarkeit ni mt das Schlechteste. Denn ihr Kern ist von solcher Beschaffenheit, daß ihre Bestechlichkeit die einzige Hoffnung ist, die die Menschlichkeit in ihrem Angesicht hegen kann. Zwar verfügen die Gerichte über Gesetzbücher. Man darf sie aber nicht sehen. »›... es gehört zu der Art dieses Gerimtswesens, daß man nicht nur unschuldig, sondern auch unwissend verurteilt wird‹«, mutmaßt K. Gesetze und umschriebene Normen bleiben in der Vorwelt ungeschriebene Gesetze. Der Mensch kann sie ahnungslos überschreiten und so der Sühne verfallen. Aber so unglücklich sie den Ahnungslosen treffen mag, ihr Eintritt ist im Sinne des Rechts nicht Zufall sondern Schicksal, das sich hier in seiner Zweideutigkeit darstellt. Smon Hermann Cohen hat es in einer flüchtigen Betrachtung der alten Smicksalsvorstellung eine »Einsicht, die unausweichlich wird,« genannt, daß es seine »Ordnungen selbst sind, welme dieses Heraustreten, diesen Abfall zu veranlassen und herbeizuführen scheinen.« So steht es auch mit der Gerichtsbarkeit, deren Verfahren sich gegen K. richtet. Es führt weit hinter die Zeit der Zwölf-Tafel-Gesetzgebung in eine Vorwelt zurück, über die einer der ersten Siege geschriebenes Remt war. Hier steht zwar das geschriebene Remt in Gesetzbümern, jedoch geheim, und auf sie gestützt, übt die Vorwelt ihre Herrsmaft nur schrankenloser.
Die Zustände in Amt und Familie berühren sich bei Kafka mannigfaltig. Im Dorf am Schloß berg kennt man eine Wendung, die darein leuchtet. »›Es ist hier die Redensart, vielleicht kennst du sie: Amtliche Entscheidungen sind scheu wie junge Mädchen.‹ ›Das ist eine gute Beobachtung‹, sagte K., ... ›eine gute Beobachtung, die Entscheidungen mögen noch andere Eigenschaften mit Mädchen gemeinsam haben.‹« Deren bemerkenswerteste ist wohl, zu allem sich zu leihen, wie die scheuen Mädchen, die K. im »Schloß« und im »Prozeß« begegnen, und die der Unzucht im Familienschoß sich wie in einem Bette anheimgeben. Er findet sie auf seinem Weg auf Schritt und Tritt; das weitere macht so wenig Umstände wie die Eroberung des Ausschankmädchens. »Sie umfaßten einander, der kleine Körper brannte in K.s Händen, sie rollten in einer Besinnungslosigkeit, aus der sich K. fortwährend, aber vergeblich zu retten suchte, paar Schritte weit, schlugen dumpf an Klamms Tür und lagen dann in den kleinen Pfützen Biers und dem sonstigen Unrat, von dem der Boden bedeckt war. Dort vergingen Stunden, ... in denen K. immerfort das Gefühl hatte, er verirre sich oder er sei so weit in der Fremde, wie vor ihm noch kein Mensch, eine Fremde, in der selbst die Luft keinen Bestandteil der Heimatluft habe, in der man vor Fremdheit ersticken müsse und in deren unsinnigen Verlockungen man doch nichts tun könne als weiter gehen, weiter sich verirren.« Von dieser Fremde werden wir noch hören. Bemerkenswert ist aber, daß diese hurenhaften Frauen nie schön erscheinen. Vielmehr taucht Schönheit in der Welt von Kafka nur an den verstecktesten Stellen auf: bei den Angeklagten zum Beispiel. »›Das allerdings ist eine merkwürdige, gewissermaßen naturwissenschaftliche Erscheinung ... Es kann nicht die Schuld sein, die sie schön macht ... es kann auch nicht die richtige Strafe sein, die sie jetzt schon schön macht ... es kann also nur an dem gegen sie erhobenen Verfahren liegen, das ihnen irgend wie anhaftet.‹«
Aus dem »Prozeß« läßt sich entnehmen, daß dieses Verfahren hoffnungslos für die Angeklagten zu sein pflegt – selbst dann hoffnungslos, wenn ihnen die Hoffnung auf Freispruch bleibt. Diese Hoffnungslosigkeit mag es sein, die an ihnen als den einzigen Kafkaschen Kreaturen Schönheit zum Vorschein bringt. Zumindest würde das sehr gut mit einem Gesprächsfragment übereinstimmen, das durch Max Brod überliefert wurde. »Ich entsinne mich«, schreibt er, »eines Gesprächs mit Kafka, das vom heutigen Europa und dem Verfall der Menschheit ausging. ›Wir sind‹, so sagte er, ›nihilistische Gedanken, Selbstmordgedanken, die in Gottes Kopf aufsteigen.‹ Mich erinnerte das zuerst an das Weltbild der Gnosis: Gott als böser Demiurg, die Welt sein Sündenfall. ›Oh nein‹, meinte er, ›unsere Weit ist nur eine schlechte Laune Gottes, ein schlechter Tag.‹ – ›So gäbe es außerhalb dieser Erscheinungsform Weit, die wir kennen, Hoffnung?‹ – Er lächelte: ›Oh, Hoffnung genug, unendlich viel Hoffnung – nur nicht für uns.‹« Diese Worte schlagen eine Brücke zu jenen sonderbarsten Gestalten Kafkas, die als einzige dem Schoße der Familie entronnen sind und für die es vielleicht Hoffnung gibt. Das sind nicht die Tiere, nicht einmal jene Kreuzungen oder Gespinstwesen, wie das Katzenlamm oder Odradek. Alle diese vielmehr leben noch im Bann der Familie. Nicht umsonst erwacht Gregor Samsa gerade in der elterlichen Wohnung als Ungeziefer, nicht umsonst ist das eigentümliche Tier, halb Kätzchen, halb Lamm, ein Erbstück aus des Vaters Besitz, nicht umsonst Odradek die Sorge des Hausvaters. Die »Gehilfen« aber fallen in der Tat aus diesem Ringe heraus.
Diese Gehilfen gehören einem Gestaltenkreis an, der das ganze Werk Kafkas durchzieht. Von ihrer Sippe ist so gut der Bauernfänger, der in der »Betrachtung« entlarvt wird, wie der Student, der nachts auf dem Balkon als Nachbar Karl Roßmanns zum Vorschein kommt, wie auch die Narren, die in jener Stadt im Süden wohnen und nicht müde werden. Das Zwielicht über ihrem Dasein erinnert an die schwankende Beleuchtung, in der die kleinen Stücke Robert Walsers – Verfasser des Romans »Der Gehülfe«, den Kafka sehr geliebt hat – ihre Figuren erscheinen lassen. Indische Sagen kennen die Gandharwe, unfertige Geschöpfe, Wesen im Nebelstadium. Von ihrer Art sind die Gehilfen Kafkas; keinem der anderen Gestaltenkreise zugehörig, keinem fremd: die Boten, die zwischen ihnen geschäftig sind. Sie sehen, wie Kafka sagt, dem Barnabas ähnlich, und der ist ein Bote. Noch sind sie aus dem Mutterschoße der Natur nicht voll entlassen und haben darum »sich in einer Ecke auf dem Boden auf zwei alten Frauenröcken eingerichtet. Es war ... ihr Ehrgeiz, ... möglichst wenig Raum zu brauchen, sie machten in dieser Hinsicht, immer freilich unter Lispeln und Kichern, verschiedene Versuche, verschränkten Arme und Beine, kauerten sich gemeinsam zusammen, in der Dämmerung sah man in ihrer Ecke nur ein großes Knäuel.« Für sie und ihresgleichen, die Unfertigen und Ungeschickten, ist die Hoffnung da.
Was zart unverbindlicher am Walten dieser Boten erkennbar wird, das ist auf lastende und düstere Art Gesetz für diese ganze Welt von Kreaturen. Keine hat ihre feste Stelle, ihren festen, nicht eintauschbaren Umriß: keine die nicht im Steigen oder Fallen begriffen ist; keine die nicht mit ihrem Feinde oder Nachbarn tauscht; keine welche nicht ihre Zeit vollbracht und dennoch unreif, keine welche nicht tief erschöpft und dennoch erst am Anfang einer langen Dauer wäre. Von Ordnungen und Hierarchien zu sprechen, ist hier nicht möglich. Die Welt des Mythos, die das nahelegt, ist unvergleichlich jünger als Kafkas Welt, der schon der Mythos die Erlösung versprochen hat. Wissen wir aber eins, so ist es dies: daß Kafka seiner Lockung nicht gefolgt ist. Ein anderer Odysseus, ließ er sie »an seinen in die Ferne gerichteten Blicken« abgleiten, »die Sirenen verschwanden förmlich vor seiner Entschlossenheit, und gerade als er ihnen am nächsten war, wußte er nichts mehr von ihnen.« Unter den Ahnen, die Kafka in der Antike hat, den jüdischen und den chinesischen, auf die wir noch stoßen werden, ist dieser griechische nicht zu vergessen. Odysseus steht ja an der Schwelle, die Mythos und Märchen trennt. Vernunft und List hat Finten in den Mythos eingelegt; seine Gewalten hören auf, unbezwinglich zu sein. Das Märchen ist die Überlieferung vom Siege über sie. Und Märchen für Dialektiker schrieb Kafka, wenn er sich Sagen vornahm. Er setzte kleine Tricks in sie hinein; dann las er aus ihnen den Beweis davon, »daß auch unzulängliche, ja kindische Mittel zur Rettung dienen können«. Mit diesen Worten leitet er seine Erzählung von dem »Schweigen der Sirenen« ein. Die Sirenen schweigen nämlich bei ihm; sie haben »eine noch schrecklichere Waffe als den Gesang, ... ihr Schweigen«. Dieses brachten sie bei Odysseus zur Anwendung. Er aber, überlieferte Kafka, »war so listenreich, war ein solcher Fuchs, daß selbst die Schicksalsgöttin nicht in sein Innerstes dringen konnte. Vielleicht hat er, obwohl das mit Menschenverstand nicht mehr zu begreifen ist, wirklich gemerkt, daß die Sirenen schwiegen, und Literarische und ästhetische Essays hat ihnen und den Göttern den« überlieferten »Scheinvorgang nur gewissermaßen als Schild entgegengehalten.«
Bei Kafka schweigen die Sirenen. Vielleicht auch darum, weil die Musik und der Gesang bei ihm ein Ausdruck oder wenigstens ein Pfand des Entrinnens sind. Ein Pfand der Hoffnung, das wir aus jener kleinen, zugleich unfertigen und alltäglichen, zugleich tröstlichen und albernen Mittelwelt haben, in welcher die Gehilfen zu Hause sind. Kafka ist wie der Bursche, der auszog, das Fürchten zu lernen. Er ist in Potemkins Palast geraten, zuletzt aber, in dessen Kellerlöchern, auf Josefine, jene singende Maus gestoßen, deren Weise er so beschreibt: »Etwas von der armen kurzen Kindheit ist darin, etwas von verlorenem, nie wieder aufzufindendem Glück, aber auch etwas vom tätigen heutigen Leben ist darin, von seiner kleinen, unbegreiflichen und dennoch bestehenden und nicht zu ertötenden Munterkeit.«