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Das bucklicht Männlein

Knut Hamsun, so erfuhr man vor längerer Zeit, habe die Gepflogenheit, hin und wieder den Briefkasten des Lokalblatts der kleinen Stadt, in deren Nähe er wohnt, mit seinen Ansichten zu beschicken. Es fand vor Jahren in dieser Stadt ein Schwurgerichtsprozeß gegen eine Magd statt, die ihr neugeborenes Kind umgebracht hatte. Sie wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Bald darauf erschien im Lokalblatt eine Meinungsäußerung von Hamsun. Er sagt an, er werde einer Stadt den Rücken kehren, welche für eine Mutter, die ihr Neugeborenes töte, eine andere Strafe kenne als die schwerste; wenn schon nicht den Galgen, dann das lebenslängliche Zuchthaus. Es vergingen einige Jahre »Segen der Erde« erschien und darinnen die Geschichte einer Dienstmagd, die das gleiche Verbrechen begeht, die gleiche Strafe erleidet und, wie der Leser deutlich erkennt, gewiß keine schwerere verdient hatte.

Die nachgelassenen Reflexionen Kafkas, die im »Bau der Chinesischen Mauer« enthalten sind, geben Anlaß, sich dieses Hergangs zu erinnern. Denn kaum war dieser Nachlaßband erschienen, als sich, gestützt auf seine Reflexionen, eine Deutung Kafkas hervortat, die sich in deren Auslegung gefiel, um mit seinen eigentlichen Werken desto weniger Umstände zu machen. Zwei Wege gibt es, Kafkas Schriften grundsätzlich zu verfehlen. Die natürliche Auslegung ist der eine, die übernatürliche ist der andere; am Wesentlichen gehen beide – die psychoanalytische wie die theologische – in gleicher Weise vorbei. Die erste ist vertreten von Hellmuth Kaiser; die zweite von nun schon zahlreichen Autoren, wie H. J. Schoeps, Bernhard Rang, Groethuysen. Zu ihnen ist auch Willy Haas zu rechnen, der freilich in ferneren Zusammenhängen, auf die wir noch stoßen werden, Aufschlußreiches über Kafka bemerkt hat. Das hat ihn nicht davor bewahren können, das Gesamtwerk im Sinne einer theologischen Schablone auszudeuten. »Die obere Macht,« so schreibt er über Kafka, »den Bereich der Gnade, hat er dargestellt in seinem großen Roman ›Das Schloß‹, die untere, den Bereich des Gerichts und der Verdammnis, in seinem ebenso großen Roman ›Der Prozeß‹. Die Erde zwischen beiden, ... das irdische Schicksal und seine schwierigen Forderungen hat er in strenger Stilisierung zu geben versucht in einem dritten Roman ›Amerika‹.« Das erste Drittel dieser Interpretation kann man, seit Brod, wohl als Gemeingut der Kafka-Interpretation betrachten. In diesem Sinne schreibt z. B. Bernhard Rang: »Sofern man das Schloß als den Sitz der Gnade ansehen darf, so bedeutet, theologisch gesprochen, eben dieses vergebliche Bemühen und Versuchen, daß sich die Gnade Gottes nicht willkürlich und willentlich vom Menschen herbeiführen und erzwingen läßt. Die Unruhe und Ungeduld verhindert und verwirrt nur die erhabene Stille des Göttlichen.« Bequem ist diese Deutung; daß sie unhaltbar ist, erscheint, je weiter sie sich vorwagt, desto klarer. Am klarsten daher vielleicht bei Willy Haas, wenn er erklärt: »Kafka kommt ... von Kierkegaard wie von Pascal, man kann ihn wohl den einzigen legitimen Enkel Kierkegaards und Pascals nennen. Alle drei haben das harte, blutig harte religiöse Grundmotiv: daß der Mensch immer im Unrecht ist vor Gott.« Kafkas »Oberwelt, sein sogenanntes ›Schloß‹ mit seinem unabsehbaren, kleinlichen verzwickten und recht lüsternen Beamtenstab, sein merkwürdiger Himmel treibt ein fürchterliches Spiel mit den Menschen ...; und doch ist der Mensch ganz tief im Unrecht sogar vor diesem Gott.« Diese Theologie fällt weit hinter die Rechtfertigungslehre Anse1ms von Canterbury in barbarische Spekulationen zurück, die im übrigen nicht einmal mit dem Wortlaut des Kafkaschen Textes vereinbar erscheinen. »›Kann denn‹«, heißt es gerade im »Schloß«, »›ein einzelner Beamter verzeihen? Das könnte doch höchstens Sache der Gesamtbehörde sein, aber selbst diese kann wahrscheinlich nicht verzeihen, sondern nur richten.‹« Der Weg, der so beschritten worden ist, hat sich schnell totgelaufen. »Das alles«, sagt Denis de Rougemont, »ist nicht der elende Stand des Menschen, der ohne Gott ist, sondern der Elendsstand des Menschen, der einem Gott verhaftet ist, den er nicht kennt, weil er Christum nicht kennt.«

Es ist leichter, aus der nachgelassenen Notizensammlung Kafkas spekulative Schlüsse zu ziehen, als auch nur eines der Motive zu ergründen, die in seinen Geschichten und Romanen auftreten. Aber nur sie geben einigen Aufschluß über die vorweltlichen Gewalten, von denen Kafkas Schaffen beansprucht wurde; Gewalten, die man freilich mit gleichem Recht auch als weltliche unserer Tage betrachten kann. Und wer will sagen, unter welchem Namen sie Kafka selbst erschienen sind. Fest steht nur dies: er hat in ihnen sich nicht zurechtgefunden. Er hat sie nicht gekannt. Er hat nur in dem Spiegel, den die Vorwelt ihm in Gestalt der Schuld entgegenhielt, die Zukunft in Gestalt des Gerichtes erscheinen sehen. Wie man sich dieses aber zu denken hat – ist es nicht das Jüngste? macht es nicht aus dem Richter den Angeklagten? ist nicht das Verfahren die Strafe? – darauf hat Kafka keine Antwort gegeben. Versprach er sich etwas von ihr? Oder war es ihm nicht vielmehr darum zu tun, sie hintanzuhalten? In den Geschichten, die wir von ihm haben, gewinnt die Epik die Bedeutung wieder, die sie im Mund Scheherazades hat: das Kommende hinauszuschieben. Aufschub ist im »Prozeß« die Hoffnung des Angeklagten – ginge nur das Verfahren nicht allmählich ins Urteil über. Dem Erzvater selbst soll Aufschub zugute kommen, und müßte er seinen Platz in der Tradition dafür hergeben. »Ich könnte mir einen andern Abraham denken, der – freilich würde er es nicht bis zum Erzvater bringen, nicht einmal bis zum Altkleiderhändler – der die Forderung des Opfers sofort, bereitwillig wie ein Kellner zu erfüllen bereit wäre, der das Opfer aber doch nicht zustandebrächte, weil er von zuhause nicht fort kann, er ist unentbehrlich, die Wirtschaft benötigt ihn, immerfort ist noch etwas anzuordnen, das Haus ist nicht fertig, aber ohne daß sein Haus fertig ist, ohne diesen Rückhalt kann er nicht fort, das sieht auch die Bibel ein, denn sie sagt: ›er bestellte sein Haus‹«.

»Bereitwillig wie ein Kellner« erscheint dieser Abraham. Etwas war immer nur im Gestus für Kafka faßbar. Und dieser Gestus, den er nicht verstand, bildet die wolkige Stelle der Parabeln. Aus ihm geht Kafkas Dichtung hervor. Es ist bekannt, wie er mit ihr zurückhielt. Sein Testament befiehlt sie der Vernichtung an. Dies Testament, das keine Befassung mit Kafka umgehen kann, sagt, daß sie ihren Autor nicht zufrieden stellte; daß er seine Bemühungen als verfehlt ansah; daß er sich selbst zu denen rechnete, die scheitern mußten. Gescheitert ist sein großartiger Versuch, die Dichtung in die Lehre zu überführen und als Parabel ihr die Haltbarkeit und die Unscheinbarkeit zurückzugeben, die im Angesicht der Vernunft ihm als die einzig geziemende erschienen ist. Kein Dichter hat das »Du sollst Dir kein Bildnis machen« so genau befolgt.

»Es war, als sollte die Scham ihn überleben« – das sind die Worte, die den »Prozeß« beschließen. Die Scham, die seiner »elementaren Reinheit des Gefühls« entspricht, ist die stärkste Gebärde Kafkas. Sie hat aber ein doppeltes Gesicht. Die Scham, die eine intime Reaktion des Menschen ist, ist zugleich eine gesellschaftlich anspruchsvolle. Scham ist nicht nur Scham vor den andern, sondern kann auch Scham für sie sein. So ist Kafkas Scham nicht persönlicher, als das Leben und Denken, das sie regiert und von dem er gesagt hat: »Er lebt nicht wegen seines persönlichen Lebens, er denkt nicht wegen seines persönlichen Denkens. Ihm ist, als lebe und denke er unter der Nötigung einer Familie ... Wegen dieser unbekannten Familie ... kann er nicht entlassen werden.« Wir wissen nicht, wie diese unbekannte Familie – aus Menschen und aus Tieren – sich zusammensetzt. Nur soviel ist klar, daß sie es ist, die Kafka zwingt, Weltalter im Schreiben zu bewegen. Dem Geheiß dieser Familie folgend, wälzt er den Block des geschichtlichen Geschehens wie Sisyphos den Stein. Dabei geschieht es, daß dessen untere Seite ans Licht gerät. Sie ist nicht angenehm zu sehen. Doch Kafka ist imstande, ihren Anblick zu ertragen. »An Fortschritt glauben heißt nicht glauben, daß ein Fortschritt schon geschehen ist. Das wäre kein Glauben.« Das Zeitalter, in dem Kafka lebt, bedeutet ihm keinen Fortschritt über die Uranfänge; Seine Romane spielen in einer Sumpfwelt. Die Kreatur erscheint bei ihm auf der Stufe, die Bachofen als die hetärische bezeichnet. Daß diese Stufe vergessen ist, besagt nicht, daß sie in die Gegenwart nicht hineinragt. Vielmehr: gegenwärtig ist sie durch diese Vergessenheit. Eine Erfahrung, die tiefer geht als die des Durchschnittsbürgers, trifft auf sie auf. »Ich habe Erfahrung,« lautet eine der frühesten Aufzeichnungen Kafkas, »und es ist nicht scherzend gemeint, wenn ich sage, daß es eine Seekrankheit auf festem Lande ist.« Nicht umsonst erfolgt die erste »Betrachtung« von einer Schaukel aus. Und unerschöpflich ergeht sich Kafka über die schwankende Natur der Erfahrungen. Jede gibt nach, jede vermischt sich mit der entgegengesetzten. »Es war im Sommer,« so beginnt der »Schlag ans Hoftor«, »ein heißer Tag. Ich kam auf dem Nachhauseweg mit meiner Schwester an einem Hoftor vorüber. Ich weiß nicht, schlug sie aus Mutwillen ans Tor oder aus Zerstreutheit oder drohte sie nur mit der Faust und schlug gar nicht.« Die bloße Möglichkeit des an der dritten Stelle erwähnten Vorgangs läßt die vorangehenden, die zunächst harmlos erschienen, in ein anderes Licht treten. Es ist der Moorboden solcher Erfahrungen, aus denen die Kafkaschen Frauengestalten aufsteigen. Sie sind Sumpfgeschöpfe wie Leni, die »den Mittel- und Ringfinger ihrer rechten Hand« auseinanderspannt, »zwischen denen das Verbindungshäutchen fast bis zum obersten Gelenk der kurzen Finger« reicht. – »›Schöne Zeiten,‹« erinnert die zweideutige Frieda sich ihres Vorlebens, »›du hast mich niemals nach meiner Vergangenheit gefragt.«‹ Diese führt eben in den finsteren Schoß der Tiefe zurück, wo sich jene Paarung vollzieht, »deren regellose Üppigkeit«, um mit Bachofen zu reden, »den reinen Mächten des himmlischen Lichts verhaßt ist und die Bezeichnung luteae voluptates, deren sich Arnobius bedient, rechtfertigt.«

Von hier aus erst läßt sich die Technik, die Kafka als Erzähler hat, begreifen. Wenn andere Romanfiguren dem K. etwas zu sagen haben, so tun sie das – mag es das Wichtigste, mag es das überraschendste sein – beiläufig und auf eine Weise, als müßte er es im Grunde längst gewußt haben. Es ist als wäre da riichts Neues, als ergehe nur unauffällig an den Helden die Aufforderung, sich doch einfallen zu lassen, was er vergessen habe. In diesem Sinn hat Willy Haas mit Recht den Hergang des »Prozesses« verstehen wollen und ausgesprochen, »daß der Gegenstand dieses Prozesses, ja der eigentliche Held dieses unglaublichen Buches, das Vergessen ist, ... dessen ... Haupteigenschaft ja ist, daß er sich selbst vergißt ... Es ist hier selbst geradezu stumme Gestalt geworden in dieser Figur des Angeklagten, und zwar Gestalt von großartigster Intensität.« Daß »dieses geheimnisvolle Zentrum ... der jüdischen Religion« entstammt, ist wohl nicht von der Hand zu weisen. »Hier spielt das Gedächtnis als Frömmigkeit eine ganz geheimnisvolle Rolle. Es ist ... nicht eine, sondern die tiefste Eigenschaft sogar Jehovas, daß er gedenkt, daß er ein untrügliches Gedächtnis ›bis ins dritte und vierte Geschlecht‹, ja bis ins ›hundertste‹ bewahrt; der heiligste ... Akt des ... Ritus ist die Auslöschung der Sünden aus dem Buch des Gedächtnisses.«

Das Vergessene – mit dieser Erkenntnis stehen wir vor einer weiteren Schwelle von Kafkas Werk – ist niemals ein nur individuelles. Jedes Vergessene mischt sich mit dem Vergessenen der Vorwelt, geht mit ihm zahllose, ungewisse, wechselnde Verbindungen zu immer wieder neuen Ausgeburten ein. Vergessenheit ist das Behältnis, aus dem die unerschöpfliche Zwischenwelt in Kafkas Geschichten ans Licht drängt. »Ihm gilt grade die Fülle der Welt als das allein Wirkliche. Aller Geist muß dinglich, besondert sein, um hier Platz und Daseinsrecht zu bekommen ... Das Geistige, insofern es noch eine Rolle spielt, wird zu Geistern. Die Geister werden zu ganz individuellen Individuen, selber benannt und dem Namen des Verehrers aufs besonderste verbunden ... Unbedenklich wird mit ihrer Fülle die Fülle der Welt noch überfüllt ... Unbekümmert mehrt sich hier das Gedränge der Geister; ... immer neue zu den alten, alle eigennamentlich von einander geschieden.« Es ist nun freilich nicht Kafka, von dem hier die Rede ist – es ist China. So beschreibt Franz Rosenzweig im »Stern der Erlösung« den chinesischen Ahnenkult. Unabsehbar wie die Welt der für ihn wichtigen Tatsachen aber war für Kafka auch die seiner Ahnen und gewiß ist, daß sie, wie die Totembäume der Primitiven, zu den Tieren hinunterführte. übrigens sind die Tiere nicht allein bei Kafka Behältnisse des Vergessenen. Im tiefsinnigen »Blonden Eckbert« Tiecks steht der vergessene Name eines Hündchens – Strohmianals Chiffre einer rätselhaften Schuld. So kann man verstehen, daß Kafka nicht müde wurde, den Tieren das Vergessene abzulauschen. Sie sind wohl nicht das Ziel; aber ohne sie geht es nicht. Man denke an den »Hungerkünstler«, der »genau genommen, nur ein Hindernis auf dem Weg zu den Ställen war.« Sieht man das Tier im »Bau« oder den »Riesenmaulwurf« nicht grübeln, wie man sie wühlen sieht? Und doch ist auf der anderen Seite dieses Denken wiederum etwas sehr Zerfahrenes. Unschlüssig schaukelt es von einer Sorge zur anderen, es nippt an allen Ängsten und hat die Flatterhaftigkeit der Verzweiflung. So gibt es denn bei Kafka auch Schmetterlinge; aus dem schuldbeladenen »Jäger Gracchus«, der von seiner Schuld nichts wissen will, »›ist ein Schmetterling geworden‹«. »›Lachen Sie nicht‹, sagt der Jäger Gracchus.« – Soviel ist sicher: unter allen Geschöpfen Kafkas kommen am meisten die Tiere zum Nachdenken. Was die Korruption im Recht ist, das ist in ihrem Denken die Angst. Sie verpfuscht den Vorgang und ist doch das einzig Hoffnungsvolle in ihm. Weil aber die vergessenste Fremde unser Körper – der eigene Körper – ist, versteht man, wie Kafka den Husten, der aus seinem Innern brach, »das Tier« genannt hat. Er war der vorgeschobenste Posten der großen Herde.

Der sonderbarste Bastard, den die Vorwelt bei Kafka mit der Schuld gezeugt hat, ist Odradek. »Es sieht zunächst aus wie eine flache sternartige Zwirnspule, und tatsächlich scheint es auch mit Zwirn bezogen; allerdings dürften es nur abgerissene, alte, aneinander geknotete, aber auch ineinander verfitzte Zwirnstücke von verschiedenster Art und Farbe sein. Es ist aber nicht nur eine Spule, sondern aus der Mitte des Sternes kommt ein kleines Querstäbchen hervor und an dieses Stäbchen fügt sich dann im rechten Winkel noch eines. Mit Hilfe dieses letzteren Stäbchens auf der einen Seite, und einer der Ausstrahlungen des Sternes auf der anderen Seite, kann das Ganze wie auf zwei Beinen aufrecht stehen.« Odradek »hält sich abwechselnd auf dem Dachboden, im Treppenhaus, auf den Gängen, im Flur auf«. Es bevorzugt also die gleichen Orte wie das Gericht, welches der Schuld nachgeht. Die Böden sind der Ort der ausrangierten, vergessenen Effekten. Vielleicht ruft der Zwang, vor dem Gericht sich einzufinden, ein ähnliches Gefühl hervor wie der, an jahrelang verschlossene Truhen auf dem Boden heranzugehen. Gern würde man das Unternehmen bis ans Ende der Tage aufschieben so wie K. seine Verteidigungs schrift geeignet findet, »einmal nach der Pensionierung den kindisch gewordenen Geist zu beschäftigen«.

Odradek ist die Form, die die Dinge in der Vergessenheit annehmen. Sie sind entstellt. Entstellt ist die »Sorge des Hausvaters«, von der niemand weiß, was sie ist, entstellt das Ungeziefer, von dem wir nur allzu gut wissen, daß es den Gregor Samsa darstellt, entstellt das große Tier, halb Lamm halb Kätzchen, für das vielleicht »das Messer des Fleischers eine Erlösung« wäre. Diese Figuren Kafkas aber sind durch eine lange Reihe von Gestalten verbunden mit dem Urbilde der Entstellung, dem Buckligen. Unter den Gebärden Kafkascher Erzählungen' begegnet keine häufiger als die des Mannes, der den Kopf tief auf die Brust herunterbeugt. Das ist die Müdigkeit bei den Gerichtsherren, der Lärm bei den Portiers in dem Hotel, die niedere Decke bei den Galeriebesuchern. In der »Strafkolonie« aber bedienen sich die Gewalthaber einer altertümlichen Maschinerie, die verschnörkelte Lettern in den Rücken der Schuldigen eingraviert, die Stiche mehrt, die Ornamente häuft solange, bis der Rücken der Schuldigen hellsehend wird, selber die Schrift entziffern kann, aus deren Lettern er den Namen seiner unbekannten Schuld entnehmen muß. Es ist also der Rücken, dem es aufliegt. Und ihm liegt es bei Kafka seit jeher auf. So in der frühen Tagebuchnotiz: »Um möglichst schwer zu sein, was ich für das Einschlafen für gut halte, hatte ich die Arme gekreuzt und die Hände auf die Schulter gelegt, so daß ich dalag wie ein bepackter Soldat.« Handgreiflich geht hier das Beladensein mit dem Vergessen – des Schlafenden – zusammen. Im »Bucklichen Männlein« hat das Volkslied das Gleiche versinnbildlicht. Dies Männlein ist der Insasse des entstellten Lebens; es wird verschwinden, wenn der Messias kommt, von dem ein großer Rabbi gesagt hat, daß er nicht mit Gewalt die Welt verändern wolle, sondern nur um ein Geringes sie zurechtstellen werde.

»Geh ich in mein Kämmerlein, | Will mein Bettlein machen; | Steht ein bucklicht Männlein da, | Fängt als an zu lachen.« Das ist das Lachen Odradeks, von dem es heißt: »Es klingt etwa so, wie das Rascheln in gefallenen Blättern.« »Wenn ich an mein Bänklein knie, | Will ein bißlein beten; | Steht ein bucklicht Männlein da, | Fängt als an zu reden. | Liebes Kindlein, ach ich bitt, | Bet' für's bucklicht Männlein mit!« So endet das Volkslied. In seiner Tiefe berührt Kafka den Grund, den weder das »mythische Ahnungswissen« noch die »existenzielle Theologie« ihm gibt. Es ist der Grund des deutschen Volkstums so gut wie des jüdischen. Wenn Kafka nicht gebetet hat – was wir nicht wissen – so war ihm doch aufs höchste eigen, was Malebranche »das natürliche Gebet der Seele« nennt – die Aufmerksamkeit. Und in sie hat er, wie die Heiligen in ihre Gebete, alle Kreatur eingeschlossen.