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Sancho Pansa

In einem chassidischen Dorf, so erzählt man, saßen eines Abends zu Sabbath-Ausgang in einer ärmlichen Wirtschaft die Juden. Ansässige waren es, bis auf einen, den keiner kannte, einen ganz ärmlichen, zerlumpten, der im Hintergrunde im Dunkeln einer Ecke kauerte. Hin und her waren die Gespräche gegangen. Da brachte einer auf, was sich wohl jeder zu wünschen dächte, wenn er einen Wunsch frei hätte. Der eine wollte Geld, der andere einen Schwiegersohn, der dritte eine neue Hobelbank, und so ging es die Runde herum. Als jeder zu Worte gekommen war, blieb noch der Bettler in der dunklen Ecke. Widerwillig und zögernd gab er den Fragern nach: »Ich wollte, ich wäre ein großmächtiger König und herrschte in einem weiten Lande und läge nachts und schliefe in meinem Palast und von der Grenze bräche der Feind herein und ehe es dämmerte wären die Berittenen bis vor mein Schloß gedrungen und keinen Widerstand gäbe es und aus dem Schlaf geschreckt, nicht Zeit mich auch nur zu bekleiden, und im Hemd, hätte ich meine Flucht antreten müssen und sei durch Berg und Tal und über Wald und Hügel und ohne Ruhe Tag und Nacht gejagt, bis ich hier auf der Bank in eurer Ecke gerettet angekommen wäre. Das wünsche ich mir.« Verständnislos sahen die andern einander an. – »Und was hättest du von diesem Wunsch?« fragte einer. – »Ein Hemd« war die Antwort.

Diese Geschichte führt tief in den Haushalt von Kafkas Welt. Niemand sagt ja, die Entstellungen, die der Messias zurechtzurücken einst erscheinen werde, seien nur solche unseres Raums. Sie sind gewiß auch solche unserer Zeit. Bestimmt hat das Kafka gedacht. Und aus solcher Gewißheit seinen Großvater sagen lassen: »›Das Leben ist erstaunlich kurz. Jetzt in der Erinnerung drängt es sich mir so zusammen, daß ich zum Beispiel kaum begreife, wie ein junger Mensch sich entschließen kann ins nächste Dorf zu reiten, ohne zu fürchten, daß – von unglücklichen Zufällen ganz abgesehen – schon die Zeit des gewöhnlichen, glücklich ablaufenden Lebens für einen solchen Ritt bei weitem nicht hinreicht.‹« Ein Bruder dieses Alten ist der Bettler, der in seinem »gewöhnlichen, glücklich ablaufenden« Leben nicht einmal Zeit zu einem Wunsche findet, dem ungewöhnlichen, unglücklichen der Flucht aber, in die er sich mit seiner Geschichte hineinbegibt, dieses Wunsches überhoben ist und ihn für die Erfüllung eintauscht.

Es gibt nun unter den Geschöpfen Kafkas eine Sippe, die auf eigentümliche Weise mit der Kürze des Lebens rechnet. Sie stammt aus der »Stadt im Süden ..., von der es ... hieß: – ›Dort sind Leute! Denkt Euch, die schlafen nicht!‹ – ›Und warum denn nicht?‹ – ›Weil sie nicht müde werden.‹ – ›Und warum denn nicht?‹ – ›Weil sie Narren sind.‹ – ›Werden denn Narren nicht müde?‹ – ›Wie könnten Narren müde werden!‹« Man sieht, die Narren sind mit den nimmermüden Gehilfen verwandt. Es geht aber mit dieser Sippe noch höher hinaus. Beiläufig hörte man von den Gesichtern der Gehilfen, sie ließen »›auf Erwachsene, ja fast auf Studenten schließen«‹. Und in der Tat sind die Studenten, die bei Kafka an den sonderbarsten Stellen zum Vorschein kommen, die Wortführer und Regenten dieses Geschlechts. »›Aber wann schlafen Sie?‹ fragte Karl und sah den Studenten verwundert an. – ›Ja, schlafen!‹ sagte der Student. ›Schlafen werde ich, wenn ich mit meinem Studium fertig bin.‹« Man muß an die Kinder denken: wie ungern gehen sie zu Bett! während sie schlafen, könnte doch etwas vorkommen, was sie beansprucht. »Vergiß das Beste nicht!« lautet eine Bemerkung, »die uns aus einer unklaren Fülle alter Erzählungen geläufig ist, trotzdem sie vielleicht in keiner vorkommt.« Aber das Vergessen betrifft immer das Beste, denn es betrifft die Möglichkeit der Erlösung. »›Der Gedanke, mir helfen zu wollen,‹« sagt ironisch der ruhelos irrende Geist des Jägers Gracchus, »›ist eine Krankheit und muß im Bett geheilt werden.‹« – Bei ihren Studien wachen die Studenten, und vielleicht ist es die beste Tugend der Studien, sie wachzuhalten. Der Hungerkünstler fastet, der Türhüter schweigt und die Studenten wachen. So versteckt wirken bei Kafka die großen Regeln der Askese.

Das Studium ist ihre Krone. Mit Andacht bringt Kafka sie aus den versunkenen Knabenjahren an den Tag. »Nicht viel anders – jetzt war es schon lange her – war Karl zu Hause am Tisch der Eltern gesessen und hatte seine Aufgaben geschrieben, während der Vater die Zeitung las oder Bucheintragungen und Korrespondenzen für einen Verein erledigte und die Mutter mit einer Näharbeit beschäftigt war und hoch den Faden aus dem Stoffe zog. Um den Vater nicht zu belästigen, hatte Karl nur das Heft und das Schreibzeug auf den Tisch gelegt, während er die nötigen Bücher rechts und links von sich auf Sesseln angeordnet hatte. Wie still war es dort gewesen! Wie selten waren fremde Leute in jenes Zimmer gekommen!« Vielleicht sind diese Studien ein Nichts gewesen. Sie stehen aber jenem Nichts sehr nahe, das das Etwas erst brauchbar macht – dem Tao nämlich. Ihm ging Kafka mit seinem Wunsch nach, »einen Tisch mit peinlich ordentlicher Handwerksmäßigkeit zusammenzuhämmern und dabei gleichzeitig nichts zu tun und zwar nicht so, daß man sagen könnte: ›Ihm ist das Hämmern ein Nichts‹, sondern ›Ihm ist das Hämmern ein wirkliches Hämmern und gleichzeitig auch ein Nichts‹, wodurch ja das Hämmern noch kühner, noch entschlossener, noch wirklicher und, wenn du willst, noch irrsinniger geworden wäre.« Und eine so entschlossene, so fanatische Gebärde haben die Studierenden beim Studium. Sie kann nicht sonderbarer gedacht werden. Die Schreiber, die Studenten sind außer Atem. Sie jagen nur so dahin. »›Oft diktiert der Beamte so leise, daß der Schreiber es sitzend gar nicht hören kann, dann muß er immer aufspringen, das Diktierte auffangen, schnell sich setzen und es aufschreiben, dann wieder aufspringen und so weiter. Wie merkwürdig das ist! Es ist fast unverständlich.‹« Vielleicht versteht man es aber besser, wenn man an die Schauspieler des Naturtheaters zurückdenkt. Schauspieler müssen blitzschnell auf ihr Stichwort aufpassen. Und sie ähneln diesen Beflissenen auch sonst. Für sie ist in der Tat »›das Hämmern ein wirkliches Hämmern und gleichzeitig auch ein Nichts‹« – wenn es nämlich in ihrer Rolle steht. Diese Rolle studieren sie; der wäre ein schlechter Schauspieler, der ein Wort oder einen Gestus aus ihr vergäße. Für die Glieder der Truppe von Oklahoma aber ist sie ihr früheres Leben. Daher die »Natur« dieses Naturtheaters. Seine Schauspieler sind erlöst. Der Student aber ist es noch nicht, dem Karl nachts auf dem Balkon stumm zusieht, wie er in seinem Buche liest, »die Blätter wendete, hie und da in einem andern Buche, das er immer mit Blitzesschnelle ergriff, irgend etwas nachschlug und öfters Notizen in ein Heft eintrug, wobei er immer überraschend tief das Gesicht zu dem Hefte senkte.«

Den Gestus derart zu vergegenwärtigen ist Kafka unermüdlich. Aber das geschieht nie anders als mit Staunen. Man hat K. mit Recht dem Schweyk verglichen; den einen wundert alles, den andern nichts. Im Zeitalter der aufs Höchste gesteigerten Entfremdung der Menschen voneinander, der unabsehbar vermittelten Beziehungen, die ihre einzigen wurden, sind Film und Grammophon erfunden worden. Im Film erkennt der Mensch den eigenen Gang nicht, im Grammophon nicht die eigene Stimme. Experimente beweisen das. Die Lage der Versuchsperson in diesen Experimenten ist Kafkas Lage. Sie ist es, die ihn auf das Studium anweist. Vielleicht stößt er dabei auf Fragmente des eigenen Daseins, welche noch im Zusammenhang der Rolle stehen. Er würde den verlorenen Gestus zu fassen bekommen wie Peter Schlemihl seinen verkauften Schatten. Er würde sich verstehen, aber wie riesenhaft wäre die Anstrengung! Denn es ist ja ein Sturm, der aus dem Vergessen herweht. Und das Studium ein Ritt, der dagegen angeht. So reitet auf der Ofenbank der Bettler seiner Vergangenheit entgegen, um in der Gestalt des fliehenden Königs seiner selbst habhaft zu werden. Dem Leben, das für einen Ritt zu kurz ist, entspricht dieser Ritt, der lang genug für das Leben ist, »... bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf.« So geht die Phantasie vom seligen Reiter in Erfüllung, der der Vergangenheit auf leerer, fröhlicher Reise entgegenbraust und seinem Renner keine Last mehr ist. Unselig aber der Reiter, der an seine Mähre gekettet ist, weil er das Zukunftsziel sich vorgesetzt hat – und sei es auch das nächste: der Kohlenkeller. Unselig auch sein Tier, unselig beide: der Kübel und der Reiter. »Als Kübelreiter, die Hand oben am Griff, dem einfachsten Zaumzeug, drehe ich mich beschwerlich die Treppe hinab; unten aber steigt mein Kübel auf, prächtig, prächtig; Kamele, niedrig am Boden hingelagert, steigen, sich schüttelnd unter dem Stock des Führers, nicht schöner auf.« Hoffnungsloser öffnet sich keine Gegend als »die Regionen der Eisgebirge«, in denen der Kübelreiter sich auf Nimmerwiedersehen verliert. Aus »den untersten Regionen des Todes« bläst der Wind, der ihm günstig ist – derselbe, der bei Kafka so oft aus der Vorwelt weht, und von dem auch der Kahn des Jägers Gracchus sich treiben läßt. »überall«, sagt Plutarch, »wird bei Mysterien und Opfern, sowohl unter Griechen als unter Barbaren, gelehrt, ... daß es zwei besondere Grundwesen und einander entgegengesetzte Kräfte geben müsse, von denen das eine rechter Hand und geradeaus führt, das andere aber umlenkt und wieder zurücktreibt.« Umkehr ist die Richtung des Studiums, die das Dasein in Schrift verwandelt. Ihr Lehrmeister ist jener Bucephalus, der »neue Advokat«, der ohne den gewaltigen Alexander – und das heißt: des vorwärtsstürmenden Eroberers ledig – den Weg zurück nimmt. »Frei, unbedrückt die Seiten von den Lenden des Reiters, bei stiller Lampe, fern dem Getöse der Alexanderschlacht, liest und wendet er die Blätter unserer alten Bücher.« – Diese Geschichte ist vor einiger Zeit durch Werner Kraft zum Gegenstand der Deutung gemacht worden. Nachdem der Interpret mit Sorgfalt jeder Einzelheit des Textes sich gewidmet hat, bemerkt er: »Nirgendwo in der Literatur gibt es eine so gewaltige, so durchschlagende Kritik des Mythos in seinem ganzen Umfang, wie hier.« Das Wort »Gerechtigkeit« – so meint der Ausleger – braucht Kafka nicht; trotzdem sei es die Gerechtigkeit, von der aus die Kritik am Mythos statt hat. – Sind wir aber so weit einmal gegangen, so geraten wir in Gefahr, Kafka zu verfehlen, indem wir hier haltmachen. Ist es denn wirklich das Recht, das so, im Namen der Gerechtigkeit, gegen den Mythos aufgeboten werden könnte? Nein, als Rechtsgelehrter bleibt der Bucephalus seinem Ursprung treu. Nur scheint er – darin dürfte im Sinne Kafkas das Neue für den Bucephalus und für die Advokatur liegen – nicht zu praktizieren. Das Recht, das nicht mehr praktiziert und nur studiert wird, das ist die Pforte der Gerechtigkeit.

Die Pforte der Gerechtigkeit ist das Studium. Und doch wagt Kafka nicht, an dieses Studium die Verheißungen zu knüpfen, welche die Überlieferung an das der Thora geschlossen hat. Seine Gehilfen sind Gemeindediener, denen das Bethaus, seine Studenten Schüler, denen die Schrift abhanden kam. Nun hält sie nichts mehr auf der »leeren fröhlichen Fahrt«. Kafka aber hat das Gesetz der seinen gefunden; ein einziges Mal zumindest, als es ihm glückte, ihre atemraubende Schnelligkeit einem epischen Paßschritt anzugleichen, wie er ihn wohl sein Lebtag gesucht hat. Er hat es einer Niederschrift anvertraut, die nicht nur darum seine vollendetste wurde, weil sie eine Auslegung ist.

»Sancho Pansa, der sich übrigens dessen nie gerühmt hat, gelang es im Laufe der Jahre, durch Beistellung einer Menge Ritter- und Räuberromane in den Abend- und Nachtstunden seinen Teufel, dem er später den Namen Don Quixote gab, derart von sich abzulenken, daß dieser dann haltlos die verrücktesten Taten aufführte, die aber mangels eines vorbestimmten Gegenstandes, der eben Sancho Pansa hätte sein sollen, niemandem schadeten. Sancho Pansa, ein freier Mann, folgte gleichmütig, vielleicht aus einem gewissen Verantwortlichkeitsgefühl dem Don Quixote auf seinen Zügen und hatte davon eine große und nützliche Unterhaltung bis an sein Ende.«

Gesetzter Narr und unbeholfener Gehilfe, hat Sancho Pansa seinen Reiter voran geschickt. Bucephalus hat den seinigen überlebt. Ob Mensch, ob Pferd ist nicht mehr so wichtig, wenn nur die Last vom Rücken genommen ist.