Haschisch in Marseille
Vorbemerkung: Eines der ersten Zeichen, daß der Haschisch zu wirken beginnt, »ist ein dumpfes Ahnungs- und Beklommenheitsgefühl; etwas Fremdes, Unentrinnbares naht ... Bilder und Bilderreihen, längst versunkene Erinnerungen treten auf, ganze Szenen und Situationen werden gegenwärtig, sie erregen zuerst Interesse, zuweilen Genuß, schließlich, wenn es kein Abwenden von ihnen gibt, Ermüdung und Pein. Von allem, was geschieht, auch von dem, was er sagt und tut, wird der Mensch überrascht und überwältigt. Sein Lachen, all seine Äußerungen stoßen ihm zu wie Geschehnisse von außen. Er gelangt auch zu Erlebnissen, die der Eingebung, der Erleuchtung nahekommen ... Der Raum kann sich weiten, der Boden abschüssig werden, atmosphärische Sensationen treten auf: Dunst, Undurchsichtigkeit, Schwere der Luft; Farben werden heller, leuchtender; Gegenstände schöner oder auch klobig und bedrohlich ... All dies vollzieht sich nicht in kontinuierlicher Entwicklung, vielmehr ist das Typische ein fortwährender Wechsel von traumhaftem und wachem Zustand, ein ständiges, schließlich erschöpfendes Hin- und Hergeworfenwerden zwischen völlig verschiedenen Bewußtseinswelten; mitten im Satz kann dieses Versinken oder Auftauchen erfolgen ... Von alledem berichtet uns der Berauschte in einer Form, die meist sehr erheblich von der Norm abweicht. Die Zusammenhänge werden wegen des oft plötzlichen Abreißens jeder Erinnerung an Vorhergegangenes schwierig, das Denken gestaltet sich nicht zum Wort, die Situation kann von so bezwingender Heiterkeit werden, daß der Haschischesser minutenlang zu nichts fähig ist als zum Lachen... Die Erinnerung an den Rausch ist überraschend scharf.« – »Es ist merkwürdig, daß die Haschischvergiftung bisher noch nicht experimentell bearbeitet wurde. Die vorzüglichste Schilderung des Haschisch-Rausches stammt von Baudelaire (Paradis artificiels).« Aus Joel und Fränkel: »Der Haschisch-Rausch«, Klinische Wochenschrift 1926, V, 37.
Marseille, 29. Juli. Um sieben Uhr abends nach langem Zögern Haschisch genommen. Ich war am Tage in Aix gewesen. Mit der unbedingten Gewißheit, in dieser Stadt von Hunderttausenden, wo niemand mich kennt, nicht gestört werden zu können, liege ich auf dem Bett. Und doch stört mich ein kleines Kind, das weint. Ich denke, es ist schon eine Dreiviertelstunde verstrichen. Aber nun sind es doch erst zwanzig Minuten... So liege ich auf dem Bett; las und rauchte. Mir gegenüber immer dieser Blick in den ventre von Marseille. Die Straße, die ich so oft sah, ist wie ein Schnitt, den ein Messer gezogen hat.
Ich verließ endlich das Hotel, mir schien die Wirkung auszubleiben oder so schwach werden zu sollen, daß die Vorsicht des Daheimbleibens unterlassen werden mochte. Erste Station das Café Ecke Cannebière und Cours Belsunce. Vom Hafen gesehen das rechte, also nicht mein gewöhnliches. Nun? Nur das gewisse Wohlwollen, die Erwartung, Leute einem freundlich entgegenkommen zu sehen. Das Gefühl der Einsamkeit verliert sich recht rasch. Mein Stock fängt an, mir besondere Freude zu machen. Man wird so zart: fürchtet, ein Schatten, der aufs Papier fällt, könnte ihm schaden. – Der Ekel schwindet. Man liest die Tafeln auf den Pissoirs. Ich würde mich nicht wundern, wenn der und der auf mich zukäme. Da sie es aber nicht tun, macht es mir auch nichts. Es ist mir hier jedoch zu laut.
Nun kommen die Zeit- und Raumansprüche zur Geltung, die der Haschischesser macht. Die sind ja bekanntlich absolut königlich. Versailles ist dem, der Haschisch gegessen hat, nicht zu groß, und die Ewigkeit dauert ihm nicht zu lange. Und auf dem Hintergrunde dieser immensen Dimensionen des inneren Erlebens, der absoluten Dauer und der unermeßlichen Raumwelt, verweilt nun ein wundervoller, seliger Humor desto lieber bei den Kontingenzen der Raum- und Zeitwelt. Ich empfinde diesen Humor unendlich, wenn ich im Restaurant Basso erfahre, die warme Küche würde gleich geschlossen, während ich mich eben niedergelassen habe, um mich in die Ewigkeit hineinzutafeln. Nachher nichtsdestoweniger das Gefühl, daß ja dies alles hell, besucht, belebt ist und auch bleiben wird. Ich muß notieren, wie ich meinen Platz fand. Mir kam es auf den Blick auf den vieux port an, den man von den oberen Etagen aus hat. Im Vorbeigehen, unten, erspähte ich einen freien Tisch auf den Balkons des zweiten Stockwerks. Schließlich kam ich doch nur bis zum ersten. Die meisten Tische am Fenster waren besetzt. Da ging ich auf einen ganz großen zu, der eben erst frei geworden war. Im Augenblick des Platznehmens aber schien mir das Mißverhältnis: mich an einem so großen Tisch zu placieren, so beschämend, daß ich quer durch das ganze Stockwerk auf das entgegengesetzte Ende zuging, um an einem kleineren Platz zu nehmen, der eben dort mir erst sichtbar geworden war.
Aber das Essen war später. Erst die kleine Bar am Hafen. Ich war schon grade wieder im Begriffe, ratlos kehrt zu machen, denn auch von dort schien ein Konzert und zwar ein Bläserchor zu kommen. Gerade daß ich mir noch Rechenschaft davon geben konnte, das sei nichts anderes als das Geheul der Autohupen. Auf dem Wege zum vieux port schon diese wundervolle Leichtigkeit und Bestimmtheit im Schritt, die den steinigen, unartikulierten Erdboden des großen Platzes, über den ich ging, mir zum Boden einer Landstraße machte, über die ich, rüstiger Wanderer, bei Nacht dahinzog. Denn die Cannebière vermied ich um diese Zeit noch, meiner regulierenden Funktionen nicht ganz sicher. In jener kleinen Hafenbar begann dann der Haschisch seinen eigentlich kanonischen Zauber mit einer primitiven Schärfe spielen zu lassen, mit der ich ihn vordem wohl noch kaum erlebte. Nämlich er machte mich zum Physiognomiker, zumindest zum Betrachter von Physiognomien, und ich erlebte etwas in meiner Erfahrung ganz Einziges: ich verbiß mich förmlich in die Gesichter, die ich da um mich hatte und die zum Teil von remarkabler Roheit oder Häßlichkeit waren. Gesichter, die ich gemeinhin aus einem doppelten Grunde gemieden hätte: weder hätte ich gewünscht, ihre Blicke auf mich zu ziehen, noch hätte ich ihre Brutalität ertragen. Es war ein ziemlich weit vorgeschobener Posten, diese Hafenkneipe. (Ich glaube, der äußerste, der mir ohne Gefahr noch zugänglich war und den ich hier, im Rausche, mit derselben Sicherheit ermessen hatte, mit der man, tief ermüdet, ein Glas mit Wasser so genau randvoll und daß kein Tropfen überfließt, zu füllen weiß, wie man mit frischen Sinnen es niemals zustande bringt.) Immer noch weit genug entfernt von der Rue Bouterie, aber doch saß da kein Bourgeois; höchstens neben dem eigentlichen Hafenproletariat ein paar Kleinbürgerfamilien aus der Nachbarschaft. Ich begriff nun auf einmal, wie einem Maler – ist es nicht Rembrandt geschehen und vielen anderen? – die Häßlichkeit als das wahre Reservoir der Schönheit, besser als ihr Schatzbehälter, als das zerrissene Gebirge mit dem ganzen inwendigen Golde des Schönen, erscheinen konnte, das aus Falten, Blicken, Zügen herausblitzte. Besonders erinnere ich mich an ein grenzenlos tierisches und gemeines Männerantlitz, aus dem mich plötzlich die »Falte des Verzichts« erschütternd traf. Männergesichter waren es vor allem, die es mir angetan hatten. Es fing nun das lang ausgehaltene Spiel an, daß in jedem Antlitz mir ein Bekannter auftauchte; oft wußte ich seinen Namen, oft wieder nicht; die Täuschung schwand, wie im Traume Täuschungen schwinden, nämlich nicht beschämt und kompromittiert, sondern friedlich und freundlich wie ein Wesen, das seine Schuldigkeit getan hat. Unter diesen Umständen konnte von Einsamkeit keine Rede mehr sein. War ich mir selbst Gesellschaft? Das wohl denn doch nicht so unverstellt. Ich weiß auch nicht, ob es mich dann so hätte beglücken können. Sondern wohl eher dieses: ich wurde mir selber der gewiegteste, zarteste, unverschämteste Kuppler und führte mir die Dinge mit der zweideutigen Sicherheit dessen zu, der die Wünsche seines Auftraggebers aus dem Grunde kennt und studiert hat. – Dann begann es eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis der Kellner wieder erschien. Vielmehr ich konnte sein Erscheinen nicht abwarten. Ich trat in den Barraum ein und bezahlte am Tisch. Ob in solcher Kneipe Trinkgeld üblich, weiß ich nicht. Sonst aber hätte ich in jedem Fall etwas gegeben. Im Haschisch, gestern, war ich eher knauserig; aus Furcht, durch Extravaganzen aufzufallen, machte ich mich erst recht auffällig.
So auch bei Basso. Erst ließ ich ein Dutzend Austern kommen. Der Mann wollte auch den folgenden Gang gleich bestellt wissen. Ich bezeichnete irgend etwas Landläufiges. Er kam nun mit der Nachricht, das sei nicht mehr da. Da strich ich auf der Karte in der Nähe dieser Speise herum, schien eins nach dem anderen bestellen zu wollen, dann fiel mir der Name des Darüberstehenden ins Auge und so fort, bis ich endlich beim Obersten angelangt war. Das war aber nicht nur Verfressenheit, sondern eine ganz ausgesprochene Höflichkeit gegen die Speisen, die ich nicht durch eine Ablehnung beleidigen wollte. Kurz, ich blieb an einem pâté de Lyon hängen. Löwenpastete, dachte ich witzig lachend, als es sauber auf einem Teller vor mir lag, und dann verächtlich: Dies zarte Hasen- oder Hühnchenfleisch – was es nun sein mag. Meinem Löwenhunger wäre es nicht unangemessen erschienen, sich an einem Löwen zu sättigen. Im übrigen stand mir im stillen fest, ich würde, sowie ich bei Basso fertig sei (das war gegen halb elf), woandershin gehen und ein zweites Mal zu Abend essen.
Erst aber noch der Gang zu Basso. Ich strich am Kai entlang und las einen nach dem anderen die Namen der Boote, die dort festgemacht waren. Dabei überkam mich eine unbegreifliche Fröhlichkeit, und ich lächelte der Reihe nach allen Vornamen Frankreichs ins Gesicht. Mir schien die Liebe, die diesen Booten mit ihrem Namen versprochen war, wunderbar schön und rührend. Nur an einem »Aero II«, das mich an Luftkrieg erinnerte, ging ich unleutselig vorüber, genau wie ich zuletzt auch in der Bar, aus welcher ich gekommen war, über gewisse, allzu entstellte Mienen mit den Blicken hatte hinweggehen müssen.
Oben bei Basso begannen dann, wenn ich hinunter sah, die alten Spiele. Der Platz vorm Hafen war meine Palette, auf der die Phantasie die Ortsgegebenheiten mischte, so und anders probierte ohne Rechenschaft von sich zu fordern, so wie ein Maler, der auf der Palette träumt. Ich zögerte, dem Wein zuzusprechen. Es war eine halbe Flasche Cassis. Ein Stück Eis schwamm im Glase. Doch vertrug er sich trefflich mit meiner Droge. Ich hatte meinen Platz der geöffneten Scheibe wegen gewählt, durch die ich auf den dunklen Platz hinunterblicken konnte. Und wenn ich dies nun hin und wieder tat, bemerkte ich, daß er die Neigung hatte, mit jedem, der ihn betrat, sich zu verändern, gleich als bilde er ihm eine Figur, die, wohlverstanden, nichts mit dem zu tun hat, wie er ihn sieht, sondern eher mit dem Blick, welchen die großen Porträtisten des siebzehnten Jahrhunderts je nach dem Charakter der Standesperson, die sie vor eine Säulengalerie oder ein Fenster stellen, aus dieser Galerie, diesem Fenster herausheben. Später notierte ich im Herunterschauen: »Vom Jahrhundert zu Jahrhundert werden die Dinge fremder.«
Ich muß hier dies allgemein anmerken: Die Einsamkeit solchen Rausches hat ihre Schattenseiten. Nur vom Physischen zu sprechen, so gab es einen Augenblick dort in der Hafenkneipe, wo ein heftiger Druck aufs Zwerchfell sich Erleichterung in einem Summen suchte. Und kein Zweifel, daß wirklich Schönes, Einleuchtendes unerweckt bleibt. Aber andererseits wirkt Einsamkeit dann wieder als ein Filter. Was man am nächsten Tage niederschreibt, ist mehr als eine Aufzählung von Impressionen; der Rausch setzt sich in der Nacht mit schönen prismatischen Rändern gegen den Alltag ab; er bildet eine Art Figur und ist andenklicher. Ich möchte sagen: er schrumpft und bildet eine Blumenform.
Man müßte, um den Rätseln des Rauschglücks näher zu kommen, über den Ariadne-Faden nachdenken. Welche Lust in dem bloßen Akt, einen Knäuel abzurollen. Und diese Lust ganz tief verwandt mit der Rauschlust wie mit der Schaffenslust. Wir gehen vorwärts; wir entdecken dabei aber nicht nur die Windungen der Höhle, in die wir uns vorwagen, sondern genießen dieses Entdeckerglück nur auf dem Grunde jener anderen rhythmischen Seligkeit, die da im Abspulen eines Knäuels besteht. Eine solche Gewißheit vom kunstreich gewundenen Knäuel, das wir abspulen – ist das nicht das Glück jeder, zumindest prosaförmigen, Produktivität? Und im Haschisch sind wir genießende Prosawesen höchster Potenz.
An ein sehr versunkenes Glücksempfinden, das nachher auf einem Seitenplatz der Cannebière auftrat, wo die Rue Paradis in Anlagen mündet, ist schwerer heranzukommen als an alles bisherige. Ich finde glücklicherweise auf meiner Zeitung den Satz: »Mit dem Löffel muß man das Gleiche aus der Wirklichkeit schöpfen.« Mehrere Wochen vorher hatte ich einen anderen von Johannes V. Jensen notiert, der scheinbar Ähnliches sagte: »Richard war ein junger Mann, der Sinn für alles Gleichartige in der Welt hatte.« Dieser Satz hatte mir sehr gefallen. Er ermöglicht mir jetzt, den politisch-rationalen Sinn, den er für mich besaß, mit dem individuell-magischen meiner gestrigen Erfahrung zu konfrontieren. Während der Satz bei Jensen für mich darauf hinauskam, daß die Dinge so sind, wie wir ja wissen, durchtechnisiert, rationalisiert, und das Besondere steckt heute nur noch in Nüancen, war die neue Einsicht durchaus anders. Ich sah nämlich nur Nüancen: diese jedoch waren gleich. Ich vertiefte mich in das Pflaster vor mir, das durch eine Art Salbe, mit der ich gleichsam darüber hinfuhr, als eben dieses Selbe und Nämliche auch das Pariser Pflaster sein konnte. Man redet oft davon: Steine für Brot. Hier diese Steine waren das Brot meiner Phantasie, die plötzlich heißhungrig darauf geworden war, das Gleiche aller Orte und Länder zu kosten. Und dennoch dachte ich mit ungeheurem Stolz daran, hier in Marseille im Haschischrausche zu sitzen; wer hier wohl noch meinen Rausch teile, an diesem Abend, wie wenige. Wie ich nicht fähig sei, kommendes Unglück, kommende Einsamkeit zu fürchten, immer bliebe der Haschisch. In diesem Stadium spielte die Musik von einem Nachtlokal, das nebenan lag und welcher ich gefolgt war, eine Rolle. G. fuhr in einer Droschke an mir vorüber. Es war ein Husch, genau wie vorher aus dem Schatten der Boote sich plötzlich in Gestalt eines Hafenbummlers und Gelegenheitsmachers U. gelöst hatte. Aber es gab nicht nur Bekannte. Hier im Stadium der tiefen Versunkenheit zogen zwei Figuren – Spießer, Strolche, was weiß ich – als »Dante und Petrarca« an mir vorüber. »Alle Menschen sind Brüder.« So begann eine Gedankenkette, die ich nicht mehr zu verfolgen weiß. Aber ihr letztes Glied war bestimmt viel unbanaler geformt als ihr erstes und führte vielleicht auf Tierbilder hinaus.
»Barnabe« stand auf einer Elektrischen, die vor dem Platze, an dem ich saß, kurz hielt. Und mir schien die traurig-wüste Geschichte von Barnabas kein schlechtes Fahrtziel für eine Tram ins Weichbild von Marseille. Sehr schön war, was sich um die Tür des Tanzlokals herum begab. Ab und zu trat ein Chinese in blauseidenen Hosen und rosa leuchtender Seidenjacke heraus. Das war der Türsteher. Mädchen machten sich in der Öffnung sichtbar. Ich war sehr wunschlos gestimmt. Lustig war es, einen jungen Mann mit einem Mädchen in weißem Kleide daherkommen zu sehen und sofort denken zu müssen: »Da ist sie ihm nun von drinnen im Hemde entflohen, und er holt sie sich wieder zurück. Na ja.« Es schmeichelte mir der Gedanke, hier in einem Zentrum aller Ausschweifung zu sitzen, und mit »hier« war nicht etwa die Stadt, sondern der kleine, nicht sehr ereignisreiche Fleck gemeint, auf dem ich mich befand. Aber die Ereignisse kamen eben so zustande, daß die Erscheinung mich mit einem Zauberstab berührte und ich in einen Traum von ihr versank. Die Menschen und Dinge verhalten sich in solchen Stunden wie jene Holundermark- Requisiten und Holundermark-Männchen im verglasten Stanniolkasten, die durch das Reiben des Glases elektrisch geworden sind und nun bei jeder Bewegung in die ungewöhnlichste Beziehung zueinander treten müssen.
Die Musik, die inzwischen immer wieder aufklang und abnahm, nannte ich die strohernen Ruten des Jazz. Ich habe vergessen, mit welcher Begründung ich mir gestattete, ihren Takt mit dem Fuß zu markieren. Das geht gegen meine Erziehung, und es geschah nicht ohne eine inwendige Auseinandersetzung. Es gab Zeiten, in denen die Intensität der akustischen Eindrücke alle anderen verdrängte. Vor allem in der kleinen Bar ging plötzlich alles, und zwar im Lärm von Stimmen, nicht von Straßen, unter. An diesem Stimmenlärm war nun das Eigentümlichste, daß er ganz und gar nach Dialekt klang. Die Marseiller sprachen mir plötzlich sozusagen nicht gut genug Französisch. Sie waren auf der Dialektstufe stehen geblieben. Das Entfremdungsphänomen, das hierin liegen mag und das Kraus mit dem schönen Wort formuliert hat: »Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner blickt es zurück«, scheint auch aufs Optische sich zu erstrecken. Jedenfalls finde ich unter meinen Aufzeichnungen die verwunderte Notiz: »Wie die Dinge den Blicken standhalten.«
Es klang dann ab, als ich über die Cannebière ging und endlich einbog, um in einem kleinen Café des Cours Belsunce noch etwas Eis zu essen. Das war nicht weit von dem andern, ersten Café des Abends, in dem plötzlich das Liebesglück, mit welchem die Betrachtung einiger im Wind gewellter Fransen mich beschenkte, mich davon überzeugte, daß der Haschisch ans Werk gegangen sei. Und wenn ich dieses Zustands mich erinnere, möchte ich glauben, daß der Haschisch die Natur zu überreden weiß, jene Verschwendung des eignen Daseins, das die Liebe kennt, uns – minder eigennützig – freizugeben. Wenn nämlich in den Zeiten, da wir lieben, unser Dasein der Natur wie goldene Münzen durch die Finger geht, die sie nicht halten kann und fahren läßt, um so das Neugeborene zu erhandeln, so wirft sie nun, ohne irgend etwas zu hoffen oder erwarten zu dürfen, uns mit vollen Händen dem Dasein hin.