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Selbstbildnisse des Träumenden

Der Enkel

Man hatte eine Fahrt zur Großmutter beschlossen. Sie ging in einer Droschke vor sich. Es war Abend. Durch die Scheiben des Kutschenschlags sah ich in einigen Häusern des alten Westens Licht. Ich sagte mir: das ist das Licht aus jener Zeit; dasselbe. Aber nicht lange, da erinnerte eine geweißte, in eine alte Häuserfront gebrochene Fassade, die noch unvollendet war, an Gegenwart. Die Droschke überquerte an der Kreuzung mit der Steglitzerstraße die Potsdamer. Als sie nun drüben auf der Seite den Weg fortsetzte, fragte ich mich plötzlich: wie war das früher? als die Großmutter noch lebte? waren da nicht Glöckchen am Pferdejoch? Ich muß doch hören, ob es sie nicht mehr gibt. Im gleichen Augenblicke schärfte ich mein Ohr und in der Tat vernahm ich Glöckchen. Gleichzeitig schien der Wagen nicht mehr zu rollen sondern über Schnee zu gleiten. Schnee lag jetzt auf der Straße. Die Häuser rückten mit ihren sonderbar geformten Dächern oben eng aneinander, so daß zwischen ihnen nur eine kleine Spanne Himmel zu sehen war. Man sah von Dächern abgedeckt Gewölk, das die Gestalt von Kreisringen hatte. Ich dachte, auf diese Wolken hinzuweisen und erstaunte, sie vor mir selber »Mond« nennen zu hören. Im Appartement der Großmutter ergab sich, daß alles zur Bewirtung Nötige von uns mitgebracht worden war. Auf einem hocherhobenen Tablett wurden Kaffee und Kuchen durch den Korridor getragen. Inzwischen war mir klar geworden, daß es auf das Schlafzimmer der Großmutter zuging, und ich war enttäuscht, daß sie nicht auf sein sollte. Auch darein war ich bald geneigt, mich zu ergeben. Es war ja so viel Zeit seither vergangen. Als ich dann in das Schlafzimmer trat, lag dort im Bett ein frühreifes Mädchen in seiner blauen Robe, die nicht mehr frisch war. Es war nicht zugedeckt und schien sich's in dem breiten Bett ziemlich bequem zu machen. Ich ging hinaus und sah nun im Korridor sechs oder noch mehr Kinderbetten nebeneinander stehen. In jedem dieser Betten saß ein Baby, das wie ein Erwachsener gekleidet war. Mir blieb nichts übrig, als im Innern diese Geschöpfe der Familie zuzurechnen. Das machte mich ganz ratlos und ich erwachte.

Der Seher

Oberhalb einer Großstadt. Römische Arena. Des Nachts. Ein Wagenrennen findet statt, es handelt sich – wie ein dunkles Bewußtsein mir sagte – um Christus. Die Meta steht im Mittelpunkt des Traumbildes. Vom Platze der Arena fiel der Hügel steil zur Stadt herunter. Ich begegne an seinem Fuße einer rollenden Elektrischen, auf deren hinterer Plattform im roten, brandigen Gewande der Verdammten erblicke ich eine nahe Bekannte. Der Wagen saust fort, und vor mir steht plötzlich ihr Freund. Die satanischen Züge seines unbeschreiblich schönen Gesichts treten in einem verhaltenen Lächeln heraus. In den Händen, die er erhebt, hält er ein Stäbchen, und mit den Worten: »Ich weiß, daß du der Prophet Daniel bist«, zerbricht er es über meinem Haupt. In diesem Augenblick wurde ich blind. Nun gingen wir miteinander in der Stadt weiter bergab; wir waren bald in einer Straße, auf deren rechter Seite Häuser waren, links freies Feld und an ihrem Ende ein Tor. Darauf schritten wir zu. Ein Gespenst erschien im Fenster des Erdgeschosses von einem Haus, das wir zur Rechten hatten. Und wie wir weitergingen, begleitete es uns im Innern aller Häuser. Es ging durch alle Mauern und blieb immer auf gleicher Höhe mit uns. Ich sah das, trotzdem ich blind war. Ich fühlte, daß mein Freund unter den Blicken des Gespenstes litt. Da wechselten wir unsere Plätze: ich wollte nächst der Häuserreihe sein und ihn schützen. Als wir ans Tor kamen, wachte ich auf.

Der Liebhaber

Mit der Freundin war ich unterwegs, es war ein Mittelding zwischen Bergwanderung und Spaziergang, das wir unternommen hatten, und nun näherten wir uns dem Gipfel. Seltsamerweise wollte ich das an einem sehr hohen, schräg in den Himmel stoßenden Pfahl erkennen, der, an der überhängenden Felswand aufragend, sie überschnitt. Als wir dann oben waren, war das gar kein Gipfel, sondern eher ein Hochplateau, über das eine breite, beiderseits von altertümlichen ziemlich hohen Häusern gebildete Straße sich zog. Nun waren wir mit einmal nicht mehr zu Fuß, sondern saßen in einem Wagen, der durch diese Straße fuhr, nebeneinander, auf dem rückwärtigen Sitz, wie mir scheint; vielleicht änderte auch, während wir in ihm saßen, der Wagen die Fahrtrichtung. Da beugte ich mich zur Geliebten, um sie zu küssen. Sie bot mir nicht den Mund, sondern die Wange. Und während ich sie küßte, bemerkte ich, daß diese Wange aus Elfenbein und ihrer ganzen Länge nach von schwarzen, kunstvoll ausgespachtelten Riefen durchzogen war, die mich durch ihre Schönheit ergriffen.

Der Wissende

Ich sehe mich im Warenhaus Wertheim vor einem flachen Schächtelchen mit Holzfiguren, zum Beispiel einem Schäfchen, genau wie die Tiere der Arche Noah gebildet. Nur war dies Schäfchen noch viel flacher und aus rohem unbemalten Holz. Dies Spielzeug zog mich an. Als ich es mir von der Verkäuferin zeigen lasse, ergibt sich, daß es nach der Art der Wunderplättchen konstruiert ist, die sich in manchen Zauberkästen finden: mit buntem Band umwundene kleine Tafeln, die, locker, eine von der anderen fallen, bald sämtlich blau, bald sämtlich rot, je nachdem man die Bänder hat spielen lassen. Mein Gefallen an diesem flachen Wunderholz ist nach dieser Wahrnehmung nur gewachsen. Ich frage die Verkäuferin nach dem Preis und erstaune sehr, daß es mehr als sieben Mark kosten sollte. Dann will ich auf den Kauf verzichten, so schwer es mir fällt. Wie ich mich aber abwende trifft mein letzter Blick auf etwas Unerwartetes. Die Konstruktion hat sich verwandelt. Die flache Tafel steigt steil als schiefe Ebene aufwärts; an ihrem Ende aber ist ein Tor. Ein Spiegel füllt es aus. In diesem Spiegel sehe ich, was auf der schiefen Ebene, die eine Straße ist, sich abspielt: Zwei Kinder laufen auf der linken Seite. Sonst ist sie leer. Dies alles unter Glas. Die Häuser aber und die Kinder auf dieser Straße sind bunt. Nun kann ich nicht mehr länger widerstehen; ich zahle den Preis und stecke das Erstandene zu mir. Abends will ich es Freunden zeigen. Aber in Berlin sind Unruhen. Die Menge droht das Cafe zu stürmen, in dem wir zusammen gekommen sind; in fieberhafter Beratung werden alle anderen Cafés durchmustert, keines scheint Schutz zu gewähren. So gehen wir, als Expedition, in die Wüste. Dort ist es Nacht; die Zelte sind aufgeschlagen; Löwen sind in der Nähe. Ich habe meine Kostbarkeit, die ich um alles in der Welt zeigen will, nicht vergessen. Aber die Gelegenheit will nicht kommen. Afrika fesselt alle zu sehr. Und ich erwache, ehe ich das Geheimnis, das sich inzwischen mir erst ganz erschlossen hat, verraten kann: den Dreitakt, in dem das Spielzeug auseinander fällt. Die erste Tafel: jene bunte Straße mit den beiden Kindern. Die zweite: ein Gespinst von feinsten Rädchen, Kolben und Zylindern, Walzen und Transmissionen, alle hölzern, in einer Fläche ineinander spielend, ohne Mensch noch Laut. Und endlich die dritte Tafel: der Anblick der neuen Ordnung in Sowjetrußland.

Der Verschwiegene

Da ich im Traume wußte, nun müsse ich bald Italien verlassen, fuhr ich von Capri nach Positano hinüber. Mich beherrschte die Meinung, ein Teil dieser Landschaft sei nur für den erreichbar, der in einer verlassenen Gegend, die dafür ungeeignet war, rechts von der eigentlichen Landungsstelle anlege. Der Ort hatte im Traum nichts von dem wirklichen. Ich stieg weglos einen steilen Hang empor und traf auf eine verlassene Straße, die breit durch nordisch düstern, morschen Tannenwald sich zog. Die überquerte ich und sah zurück. Ein Reh, Hase oder dergleichen bewegte sich laufend längs dieser Straße von links nach rechts. Ich aber ging geradeaus und wußte den Ort Positano entfernt von dieser Einsamkeit, links, etwas unterhalb der Waldstelle. Da zeigte sich nach wenigen Schritten als alter, längst verlassener Teil desselben ein großer, grasüberwucherter Platz, auf dessen linker Längsseite eine hohe, altertümliche Kirche, auf dessen rechter Schmalseite als riesige Nische eine Art großer Kapelle oder Baptisterium stand. Vielleicht grenzten einige Bäume den Ort ab. Jedenfalls war da ein hohes Eisengitter, das den weiträumigen Platz, auf dem auch jene beiden Gebäude einen größeren Abstand hielten, umgab. An das trat ich heran und sah einen Löwen in Saltomortales sich über den Platz bewegen. Er schnellte niedrig über den Boden. Mit Schrecken gewahrte ich gleich darauf einen übergroßen Stier mit zwei gewaltigen Hörnern. Und kaum hatte ich die Gegenwart der beiden Tiere erfaßt, als sie auch schon durch eine Gatterlücke, die ich nicht bemerkt hatte, heraustraten. Im Nu waren eine Anzahl Geistlicher zur Stelle, sowie andere Personen, die unter ihrem Befehl sich in einer Reihe anordneten, um Weisungen entgegenzunehmen, wie sie im Sinne der Tiere lagen, deren Gefahr nun gebannt schien. Weiter erinnere ich mich an nichts, als daß ein Bruder vor mich hin trat und auf seine Frage, ob ich verschwiegen sei, ich mit sonorer Stimme, über deren Gelassenheit ich im Traum erstaunte, »Ja!« erwiderte.

Der Chronist

Der Kaiser stand vor Gericht. Es gab aber nur ein Podium, auf dem ein Tisch stand, und vor diesem Tisch wurden die Zeugen vernommen. Zeuge war gerade eine Frau mit ihrem Kind, einem Mädchen. Sie sollte bezeugen, wie der Kaiser sie durch seinen Krieg verelendet habe. Und um das zu bekräftigen, wies sie zwei Gegenstände vor. Das sei alles, was ihr geblieben wäre. Der erste dieser Gegenstände war ein Besen an einem langen Stiel. Damit halte sie immer noch ihre Wohnung sauber. Der zweite war ein Totenkopf. »Denn so arm hat mich der Kaiser gemacht, sagte sie, daß ich meinem Kind aus keinem anderen Gefäß zu trinken geben kann.«