Paris, die Stadt im Spiegel
Liebeserklärungen der Dichter und Künstler an die »Hauptstadt der Welt«
Unter allen Städten ist keine, die sich inniger mit dem Buche verband als Paris. Wenn Giraudoux recht hat und es das höchste menschlicher Freiheitsgefühle ist, schlendernd dem Lauf eines Flusses zu folgen, führt hier noch der vollendetste Müßiggang, die beglückteste Freiheit also, zum Buch und ins Buch hinein. Denn über die kahlen Seine-Quais hat sich seit Jahrhunderten der Efeu gelehrter Blätter gelegt: Paris ist ein großer Bibliotheksaal, der von der Seine durchströmt wird.
Kein Monument in dieser Stadt, an dem sich nicht ein Meisterwerk der Dichtung inspiriert hätte. Notre Dame – wir denken an den Roman von Victor Hugo. Eiffelturm – Cocteaus »Vermählte auf dem Eiffeltürme«, mit Giraudoux' »Gebet auf dem Eiffelturm« sind wir schon auf den schwindelnden Höhen der neuesten Literatur. Die Oper: Mit Leroux' berühmtem Kriminalroman »Das Phantom der Oper« sind wir in den Souterrains dieses Baues und der Literatur zugleich. Der Triumphbogen spannt sich mit Raynals »Grab des unbekannten Soldaten« um die Erde. So unauslöschlich hat sich diese Stadt ins Schrifttum eingezeichnet, weil in ihr selbst ein Geist wirkt, der den Büchern verwandt ist. Hat sie nicht, wie ein routinierter Romancier, von langer Hand die fesselndsten Motive ihres Aufbaues vorbereitet? Da sind die großen Heerstraßen, die von der Porte Maillot, der Porte de Vincennes, der Porte de Versailles den Truppen ehemals den Zugang auf Paris zu sichern hatten. Und eines Morgens, über Nacht, besaß Paris die besten Autostraßen unter allen Städten Europas. Da ist der Eiffelturm – ein reines freies Monument der Technik in sportlichem Geiste – und eines Tages über Nacht, eine europäische Radiostation. Und die unabsehbaren leeren Plätze: sind sie nicht feierliche Seiten, Vollbilder in den Bänden der Weltgeschichte? In roten Ziffern leuchtet das Jahr 1789 auf der Place de Grèves. Von dem Gewinkel der Dächer umgeben auf jener Place des Vosges, wo er den Tod fand: Henri II. Mit verwischten Zügen eine unentzifferbare Schrift auf jener Place Maubert, ehemals der Zugang zum finsteren Paris. Bei der Wechselwirkung zwischen Stadt und Buch ist einer dieser Plätze in die Bibliotheken hineingewandert: auf den berühmten Didot-Drucken des vorigen Jahrhunderts steht als Signet die Place du Panthéon.
Wenn das literarische Spektrum der Stadt von dem geschliffenen prismatischen Verstände auseinandergefaltet wird, so sehen, je weiter wir uns von der Mitte den Rändern nähern, die Bücher um so seltsamer aus. Es gibt ein ultraviolettes und ein ultrarotes Wissen um diese Stadt, die sich beide nicht mehr in die Form des Buches zwängen lassen: Photo und Stadtplan, – das genaueste Wissen vom Einzelnen und vom Ganzen. Wir haben von diesen äußersten Rändern des Blickfeldes die schönsten Proben. Wer je in einer fremden Stadt an einer Straßenecke bei schlechtem Wetter mit einem der großen papierenen Pläne hantieren mußte, die bei jedem Windzuge wie Segel schwellen, an jeder Kante reißen und bald nur noch ein Häufchen schmutziger Blätter sind, mit denen man sich quält, erfährt aus dem Studium des Plan Taride, was ein Stadtplan sein kann. Und was die Stadt ist. Denn ganze Viertel erschließen ihr Geheimnis in ihren Straßennamen. An dem großen Platz vor der Gare St. Lazare hat man halb Frankreich und halb Europa um sich. Namen wie Havre, Anjou, Provence, Rouen, Londres, Amsterdam, Constantinople ziehen sich durch die grauen Straßen wie durch graue Seide changierende Bänder. Das ist das sogenannte Viertel Europe. So kann man Stück für Stück die Straßen auf der Karte, kann freilich auch »Straße für Straße, Haus für Haus« die Stadt in dem riesigen Werke durchgehen, in dem um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts Lefeuve, der Hofhistoriograph Napoleons III., alles Wissenswerte gesammelt hat. Das Werk gibt schon im Titel einen Begriff von dem, was einer zu gewärtigen hat, der dieser Literatur sich nähert, der auch nur versuchen würde, die hundert Seiten unter dem Stichwort »Paris« durchzustudieren, die der Katalog der Kaiserlichen Bibliothek enthält. Der aber wurde schon im Jahre 1867 abgeschlossen. Der irrt, der hier nur wissenschaftliches Schrifttum, Archivarisches, Topographisches oder Geschichtliches anzutreffen erwartet. Nicht der kleinste Teil dieser Büchermasse sind Liebeserklärungen an die »Hauptstadt der Welt«. Und daß sie meist von Fremden stammen, ist nichts Neues. Fast immer sind die leidenschaftlichsten Galane dieser Stadt von draußen gekommen. Und ihre Kette spannt sich um die ganze Erde. Da ist Nguyen-Trong-Hiêp, der 1897 in Hanoi sein Preisgedicht auf die französische Hauptstadt erscheinen ließ. Da ist, um nur die jüngste zu nennen, die rumänische Prinzessin Bibesco, deren reizende »Catherine-Paris« den galizischen Schlössern, der polnischen Hocharistokratie, ihrem Gatten, dem Grafen Leopolski, entflieht, um die Heimat ihrer Wahl zurückzugewinnen. In Wahrheit scheint es sich in diesem Leopolski um den Fürsten Adam Chartoryski zu handeln. Und in Polen hat das Buch nicht viel Liebe gefunden... Nicht alle Anbeter aber haben der Stadt ihre Verehrung als Roman oder als Gedicht zu Füßen gelegt: Erst kürzlich hat Mario von Bucovich in der Photographie seiner Neigung einen schönen, glaubhaften Ausdruck gegeben, und Morand hat ihm in einem Vorwort zu diesem Album das Recht auf seine Liebe bestätigt.
In tausend Augen, tausend Objektiven spiegelt sich die Stadt. Denn nicht nur Himmel und Atmosphäre, nicht nur Lichtreklamen auf den abendlichen Boulevards haben aus Paris die »Ville Lumière« gemacht. – Paris ist die Spiegelstadt: Spiegelglatt der Asphalt seiner Autostraßen. Vor allen Bistros gläserne Verschläge: die Frauen sehen sich hier noch mehr als anderswo. Aus diesen Spiegeln ist die Schönheit der Pariserin getreten. Bevor der Mann sie erblickt, haben sie schon zehn Spiegel geprüft. Ein Überfluß von Spiegeln umfängt auch den Mann, zumal im Café (um es innen heller zu machen und all den winzigen Gehegen und Ställchen, in die Pariser Lokale zerfallen, eine erfreuliche Weite zu geben). Spiegel sind das geistige Element dieser Stadt, ihr Wappenschild, in das sich noch immer die Embleme sämtlicher Dichterschulen eingezeichnet haben.
Wie Spiegel jeden Reflex prompt, nur symmetrisch verschoben, zurückgeben, tut dies auch die Schlagworttechnik der Komödien von Marivaux: Spiegel werfen das bewegte Draußen, die Straße, in das Interieur eines Caféhauses, wie ein Hugo, ein Vigny es liebten, Milieus einzufangen und ihre Erzählungen vor einen »historischen Hintergrund« zu stellen.
Die Spiegel, die trüb und ungepflegt in den Kneipen hängen, sind das Sinnbild von Zolas Naturalismus; wie sie einander in unabsehbarer Reihe spiegeln, ein Gegenstück zu der unendlichen Erinnerung der Erinnerung, in die sich unter der Feder von Marcel Proust sein eigenes Leben verwandelt hat. Jene neueste Photosammlung »Paris« schließt mit dem Bilde der Seine. Sie ist der große, immer wache Spiegel von Paris. Tagtäglich wirft es seine festen Bauten und seine Wolkenträume als Bilder in diesen Fluß. Er nimmt die Opfergaben gnädig an, und er bricht sie zum Zeichen seiner Gunst in tausend Stücke.