Kurze Schatten <II>
[Geheimzeichen]
Geheimzeichen. Man überliefert mündlich ein Wort von Schuler. In jeder Erkenntnis müsse, so sagte er, ein Quentchen Widersinn enthalten sein, wie die antiken Teppichmuster oder Ornamentfriese von ihrem regelmäßigen Verlauf immer irgendwo eine geringfügige Abweichung erkennen ließen. Mit andern Worten: Nicht der Fortgang von Erkenntnis zu Erkenntnis ist entscheidend, sondern der Sprung in jeder einzelnen Erkenntnis selbst. Er ist die unscheinbare Echtheitsmarke, die sie von aller Serienware unterscheidet, die nach Schablone angefertigt ist.
[Ein Wort von Casanova]
Ein Wort von Casanova. »Sie wußte«, sagt Casanova von einer Kupplerin, »daß ich nicht die Kraft haben würde, zu gehen, ohne ihr etwas zu geben.« Seltsames Wort. Welch einer Kraft bedurfte es, die Kupplerin um ihren Lohn zu prellen? Oder, genauer, welche Schwäche ist es, auf welche sie sich stets verlassen kann? Es ist die Scham. Die Kupplerin ist käuflich; nicht die Scham des Kunden, welcher sie bemüht. Der sucht, von ihr erfüllt, sich ein Versteck und findet das verborgenste: im Gelde. Die Frechheit wirft die erste Münze auf den Tisch; die Scham zahlt hundert drauf, sie zu bedecken.
[Der Baum und die Sprache]
Der Baum und die Sprache. Ich stieg eine Böschung hinan und legte mich unter einen Baum. Der Baum war eine Pappel oder eine Erle. Warum ich seine Gattung nicht behalten habe? Weil, während ich ins Laubwerk sah und seiner Bewegung folgte, mit einmal in mir die Sprache dergestalt von ihm ergriffen wurde, daß sie augenblicklich die uralte Vermählung mit dem Baum in meinem Beisein noch einmal vollzog. Die Äste und mit ihnen auch der Wipfel wogen sich erwägend oder bogen sich ablehnend; die Zweige zeigten sich zuneigend oder hochfahrend; das Laub sträubte sich gegen einen rauhen Luftzug, erschauerte vor ihm oder kam ihm entgegen; der Stamm verfügte über seinen guten Grund, auf dem er fußte; und ein Blatt warf seinen Schatten auf das andre. Ein leiser Wind spielte zur Hochzeit auf und trug alsbald die schnell entsprossenen Kinder dieses Betts als Bilderrede unter alle Welt.
[Das Spiel]
Das Spiel. Das Spiel, wie jede andre Leidenschaft, gibt sein Gesicht darinnen zu erkennen, wie der Funke im leiblichen Bereich von einem Zentrum zum andern überspringt, bald dies bald jenes Organ mobil macht und in ihm das ganze Dasein sammelt und begrenzt. Da ist die Frist, welche der Rechten eingeräumt ist, eh das Kügelchen ins Fach gefallen ist. Sie streicht gleich einem Flugzeug über die Kolonnen, die Saaten der Jetons in ihren Furchen verbreitend. Diese Frist ankündigend, der Augenblick, der einzig dem Ohr vorbehalten ist, in dem die Kugel den Wirbel eben antritt und der Spieler lauscht, wie Fortuna ihre Bässe stimmt. Im Spiel, das sich an alle Sinne wendet, den atavistischen der Hellsicht nicht ausgeschlossen, kommt auch die Reihe an das Auge. Alle Zahlen blinzeln ihm zu. Weil es jedoch die Sprache der Winke am entschiedensten verlernt hat, so führt es die, die ihm vertrauen, am meisten in die Irre. Dafür sind freilich sie es, die dem Spiel die tiefste Devotion bezeigen dürfen. Noch eine Weile bleibt der Einsatz, der verloren ist, vor ihnen liegen. Das Reglement hält sie zurück. Allein nicht anders als einen Liebenden die Ungunst der von ihm Verehrten. Deren Hand sieht er in dem Bereich der seinen; dennoch wird er nichts unternehmen, sie zu fassen. Das Spiel hat leidenschaftlich ihm Ergebene, die es um seiner selbst und keineswegs um dessentwillen lieben, was es gibt. Ja wenn es ihnen alles nimmt, so suchen sie bei sich selbst die Schuld. Sie sagen dann: »Ich habe schlecht gespielt.« Und diese Liebe trägt in solchem Maß den Lohn für ihren Eifer in sich selbst, daß die Verluste lieblich sind, nur weil sie mit ihnen ihren Opfermut beweisen. So ein untadeliger Kavalier des Glücks ist der Fürst von Ligne gewesen, der in den Jahren nach Napoleons Sturz in den Pariser Klubs zu sehen und berühmt der Haltung wegen war, mit welcher er die außerordentlichsten Verluste hinnahm. Sie war tagaus, tagein die nämliche. Die rechte Hand, die immerfort die großen Einsätze auf den Tisch geworfen hatte, hing schlaff herab. Die Linke aber lag unbeweglich, waagerecht, in die Weste hineingeschoben, auf der rechten Brust. Später, durch seinen Kammerdiener, wurde laut, daß diese Brust drei Narben aufwies – den genauen Abdruck der Nägel der drei Finger, welche dort immer so regungslos gelegen hatten.
[Die Ferne und die Bilder]
Die Ferne und die Bilder. Ob sich nicht das Gefallen an der Bilderwelt aus einem düstern Trotz gegen das Wissen nährt? Ich sehe in die Landschaft hinaus: Da liegt das Meer in seiner Bucht spiegelglatt; Wälder ziehen als unbewegliche, stumme Masse an der Kuppe des Berges herauf; droben verfallene Schloßruinen, wie sie schon vor Jahrhunderten gestanden haben; der Himmel strahlt wolkenlos, in ewiger Bläue. So will der Träumer es. Daß dieses Meer in Milliarden und aber Milliarden Wellen sich hebt und senkt, die Wälder von den Wurzeln bis ins letzte Blatt mit jedem neuen Augenblick erzittern, in den Steinen der Schloßruine ein ununterbrochenes Stürzen und Rieseln waltet, im Himmel Gase, ehe sie Wolken bilden, unsichtbar streitend durcheinanderwallen – das alles muß er vergessen, um den Bildern sich zu überlassen. An ihnen hat er Ruhe, Ewigkeit. Jede Vogelschwinge, die ihn streift, jeder Windstoß, der ihn durchschauert, jede Nähe, die ihn trifft, straft ihn Lügen. Aber jede Ferne baut seinen Traum wieder auf, an jede Wolkenwand steht er gelehnt, an jedem erleuchteten Fenster entglimmt er von neuem. Und am vollkommensten erscheint er, wenn es ihm gelingt, der Bewegung selber ihren Stachel zu nehmen, den Windstoß in ein Rauschen und das Huschen der Vögel in den Vogelzug zu wandeln. So der Natur im Rahmen abgeblaßter Bilder Einhalt zu gebieten, ist die Lust des Träumers. Sie unter neuem Anruf in Bann zu schlagen die Gabe der Dichter.
[Spurlos wohnen]
Spurlos wohnen. Betritt einer das bürgerliche Zimmer der achtziger Jahre, so ist bei aller »Gemütlichkeit«, welche es vielleicht ausstrahlt, der Eindruck »Hier hast du nichts zu suchen« der stärkste. Hier hast du nichts zu suchen – denn hier ist kein Fleck, auf dem nicht der Bewohner seine Spur schon hinterlassen hätte: auf den Gesimsen durch die Nippsachen, auf den Polstersesseln durch Deckchen mit dem Monogramm, vor den Fensterscheiben durch Transparente und vor dem Kamin durch einen Ofenschirm. Ein schönes Wort von Brecht hilft von hier fort; weit fort. »Verwisch die Spuren!« Hier, im bürgerlichen Zimmer, ist das entgegengesetzte Verhalten zur Gewohnheit geworden. Und umgekehrt nötigt das Interieur seine Bewohner, sich ein Höchstmaß von Gewohnheiten zuzulegen. Sie sind im Bilde des »möblierten Herrn« versammelt, wie er den Wirtinnen vor Augen steht. Das Wohnen war in diesen Plüschgelassen nichts andres als das Nachziehen einer Spur, die von Gewohnheiten gestiftet wurde. Sogar der Zorn, der beim geringsten Schaden dort die Geschädigte befiel, war vielleicht nur die Reaktion des Menschen, welchem man »die Spur von seinen Erdetagen« ausgewischt hat. Die Spur, die er auf Polstern und in Sesseln, die seine Anverwandten in den Photos, die seine Habe in Futteralen und Etuis zurückgelassen hatte und die diese Räume manchmal so übervölkert scheinen ließen wie die Urnenhallen. Das haben nun die neuen Architekten mit ihrem Glas und ihrem Stahl erreicht: Sie schufen Räume, in denen es nicht leicht ist, eine Spur zu hinterlassen. »Nach dem Gesagten«, schrieb bereits vor zwanzig Jahren Scheerbart, »können wir wohl von einer ›Glaskultur‹ sprechen. Das neue Glas-Milieu wird den Menschen vollkommen umwandeln. Und es ist nun nur zu wünschen, daß die neue Glaskultur nicht allzu viele Gegner findet.«
[Kurze Schatten]
Kurze Schatten. Wenn es gegen Mittag geht, sind die Schatten nur noch die schwarzen, scharfen Ränder am Fuß der Dinge und in Bereitschaft, lautlos, unversehens, in ihren Bau, in ihr Geheimnis sich zurückzuziehen. Dann ist, in ihrer gedrängten, geduckten Fülle, die Stunde Zarathustras gekommen, des Denkers im »Lebensmittag«, im »Sommergarten«. Denn die Erkenntnis umreißt wie die Sonne auf der Höhe ihrer Bahn die Dinge am strengsten.