Kurze Schatten 〈I〉
Platonische Liebe
Wesen und Typus einer Liebe zeichnen am strengsten im Schicksal sich ab, welches sie dem Namen – dem Vornamen – bereitet. Die Ehe, die der Frau den ursprünglichen Nachnamen nimmt, um den des Mannes an seine Stelle zu setzen, läßt doch auch – und dies gilt von fast jeder Geschlechtsnähe – ihren Vornamen nicht unangetastet. Sie umhüllt, umstellt ihn mit Kosenamen, unter denen er oft jahre-, jahrzehntelang nicht mehr zum Vorschein kommt. Der Ehe in diesem weiten Sinne entgegengesetzt, und nur so – im Schicksal des Namens, nicht in dem des Leibes – wahrhaft bestimmbar, ist die platonische Liebe in ihrem einzig echten, einzig erheblichen Sinn: als die Liebe, die nicht am Namen ihre Lust büßt, sondern die Geliebte im Namen liebt, im Namen besitzt und im Namen auf Händen trägt. Daß sie den Namen, den Vornamen der Geliebten unangetastet wahrt und behütet, das allein ist der wahre Ausdruck der Spannung, der Fernenneigung, die Platonische Liebe heißt. Dieser Liebe geht wie Strahlen aus einem Glutkern das Dasein der Geliebten aus ihrem Namen, ja noch das Werk des Liebenden aus ihm hervor. So ist die Divina Commedia nichts als die Aura um den Namen Beatrice; die gewaltigste Darstellung dessen, daß alle Kräfte und Gestalten des Kosmos aus dem heil der Liebe entstiegenen Namen hervorgehen.
Einmal ist keinmal
Das hat die überraschendsten Evidenzen im Erotischen. Solange man um eine Frau mit dem beständigen Zweifel an der Erhörung wirbt, kann die Erfüllung nur im Zusammenhang dieser Zweifel, nämlich als Erlösung, Entscheidung kommen. Kaum aber hat sie in dieser Form sich verwirklicht, so kann eine neue, unerträgliche Sehnsucht nach der nackten, bloßen Erfüllung an sich im Nu an ihre Stelle treten. Die erste Erfüllung geht in der Erinnerung mehr oder weniger in der Entscheidung, also in ihrer Funktion dem Zweifel gegenüber auf, sie wird abstrakt. So kann dies Einmal zu keinem Mal, gemessen an der nackten absoluten Erfüllung werden. Umgekehrt, kann sie sich aber auch erotisch als nackte absolute entwerten. So, wenn uns ein banales Abenteuer in der Erinnerung allzu nahe auf den Leib gerückt, brutal und plötzlich vorkommt und wir dies erste Mal annullieren und Keinmal nennen, weil wir die Fluchtlinien der Erwartung suchen, um zu erfahren, wie die Frau als ihr Schnittpunkt sich vor uns aufhebt. Im Don Juan, dem Glückskind der Liebe, ist es das Geheimnis, wie er blitzhaft in all seinen Abenteuern Entscheidung und süßestes Werben zugleich heraufführt, die Erwartung, im Rausche, nachholt und die Entscheidung, im Werben, vorwegnimmt. Dies Ein-für-Allemal des Genusses, diese Verschränkung der Zeiten, kann nur musikalisch zum Ausdruck kommen. Don Juan fordert Musik als Brennglas der Liebe.
Armut hat immer das Nachsehen
Daß keine Galaloge so unerschwinglich ist wie das Eintrittsbillett in Gottes freie Natur, daß selbst sie, von der wir doch lernten, daß sie so gern sich Vagabunden und Bettlern, Lumpen und Stromern schenkt, ihr trostreichstes, stillstes und lauterstes Antlitz dem Reichen verwahrt, wenn sie durch die großen tiefliegenden Fenster in seine kühlen, schattigen Säle dringt, – das ist die unerbittliche Wahrheit, die die italienische Villa den lehrt, der zum ersten Male durch ihre Pforten trat, um einen Blick auf See und Gebirge zu werfen, vor dem, was er dort draußen gesehen hat, verblaßt wie das Kodakbildchen vor dem Werk eines Lionardo. Ja, ihm hängt die Landschaft im Fensterrahmen, nur ihm hat Gottes Meisterhand sie signiert.
Zu nahe
Im Traum am linken Seine-Ufer vor Notre Dame. Da stand ich, aber da war nichts, was Notre Dame glich. Ein Backsteinbau ragte nur mit den letzten Staffeln seines Massivs über eine hohe Verschalung von Holz. Ich aber stand, überwältigt, doch eben vor Notre Dame. Und was mich überwältigte war Sehnsucht. Sehnsucht nach eben dem Paris, in dem ich hier im Traume mich fand. Woher also diese Sehnsucht? Und woher dieser ihr ganz entstellter, unkenntlicher Gegenstand? – Das macht: im Traume war ich ihm zu nah gekommen. Die unerhörte Sehnsucht, welche hier, im Herzen des Ersehnten mich befallen hatte, war nicht, die aus der Ferne zum Bilde drängt. Es war die selige, die schon die Schwelle des Bildes und Besitzes überschritten hat und nur noch von der Kraft des Namens weiß, aus welchem das Geliebte lebt, sich wandelt, altert, sich verjüngt und, bildlos, Zuflucht aller Bilder ist.
Pläne verschweigen
Wenige Arten des Aberglaubens sind so verbreitet wie der, der die Leute abhält, von ihren wichtigsten Absichten und Projekten miteinander zu reden. Nicht nur durch alle Schichten der Gesellschaft geht dies Verhalten hindurch, auch alle Arten menschlicher Motive, von dem banalsten bis zum untergründigsten herab scheinen daran Anteil zu haben. Ja das Nächstliegende sieht so platt und verständig aus, daß mancher denken wird, es sei kein Grund von Aberglauben zu reden. Nichts sei begreiflicher, als daß ein Mensch, dem etwas fehlgeschlagen sei, den Mißerfolg für sich zu behalten trachte und, um sich diese Möglichkeit zu sichern, von seinem Vorhaben schweigt. Aber das ist doch mehr die oberste Schicht seiner Bestimmungsgründe, der Firnis des Banalen, der die tieferen verkleidet. Darunter steckt die zweite in Gestalt des dumpfen Wissens um die Schwächung der Tatkraft durch die motorische Entladung, die motorische Ersatzbefriedigung im Reden. Man hat diesen zerstörenden Charakter der Rede, von dem die simpelste Erfahrung weiß, nur selten so ernst genommen, wie er es verdient. Bedenkt man, wie fast alle entscheidenden Pläne mit einem Namen verbunden, ja an ihn gebunden sind, so leuchtet ein, wie teuer die Lust zu stehen kommt, ihn im Munde zu führen. Kein Zweifel aber, daß dieser zweiten Schicht eine dritte folgt. Es ist die Vorstellung, auf der Unwissenheit der andern, besonders der Freunde, wie auf den Stufen eines Thrones in die Höhe zu steigen. Und damit nicht genug, jene letzte und bitterste, in deren Tiefe Leopardi mit den Worten dringt, daß »Eingeständnis eigenen Leides nicht Mitleid, sondern Vergnügen hervorruft, und daß es nicht nur bei Feinden, sondern bei allen Menschen, die davon erfahren, keine Trauer, sondern Freude erweckt, denn das ist ja eine Bestätigung, daß der Betroffene weniger und man selber mehr wert ist.« Wie viele Menschen wären aber imstande, sich selbst zu glauben, wenn schon der Verstand Leopardis Einsicht ihnen zuraunen würde? Wie viele würden nicht, angewidert von der Bitternis solcher Erkenntnis, sie ausspeien? Da tritt nun Aberglauben ein, die pharmazeutische Verdichtung bitterster Ingredienzen, die keiner einzeln und getrennt zu schmecken imstande wäre. Viel lieber gehorcht der Mensch in Volksbrauch und Sprichwort dem Dunklen und Rätselhaften, als daß er in der Sprache des gesunden Menschenverstandes die ganze Härte und das ganze Leid des Lebens sich predigen ließe.
Woran einer seine Stärke erkennt
An seinen Niederlagen. Wo wir erfolglos durch unsere Schwäche waren, da verachten wir uns und schämen uns ihrer. Worin wir aber stark sind, da verachten wir unsere Niederlage, da beschämen wir unser Mißgeschick. Durch Sieg und Glück erkennten wir unsere Stärke?! Wer weiß denn nicht, wie nichts so sehr uns unsere tiefsten Schwächen offenbart wie grade sie? Wer hat nicht schon nach einem Sieg im Kampf oder in der Liebe wie von einem Wonneschauer der Schwäche die Frage über sich dahingehen fühlen: Und das ich? Das mir, dem Schwächsten? Anders die Serien von Niederlagen, in denen wir alle Finten des Aufstehens lernen und in Beschämung wie in Drachenblut baden. Es sei der Ruhm, der Alkohol, das Geld, die Liebe – wo einer seine Stärke hat, kennt er keine Ehre, keine Furcht vor Blamage und keine Haltung. Aufdringlicher kann kein Schacherjude vor seinem Kunden sich aufführen als Casanova vor der Charpillon. Solche Menschen hausen in ihrer Stärke. Ein besonderes und schreckliches Hausen freilich, das ist der Preis jeder Stärke. Dasein in einem Tank. hausen wir drinnen, sind wir dumm und unnahbar, fallen in alle Gräben, stürzen über alle Hindernisse, wühlen Schmutz auf und schänden die Erde. Aber nur wo wir so besudelt sind, sind wir unbezwinglich.
Vom Glauben an die Dinge, die man uns weissagt
Den Zustand zu erforschen, in dem sich einer befindet, der an die dunklen Mächte appelliert, ist einer der sichersten und kürzesten Wege zur Erkenntnis und Kritik dieser Mächte selbst. Denn jedes Wunder hat zwei Seiten, eine an dem, der es tut, und eine an dem, der es hinnimmt. Und nicht selten ist die zweite aufschlußreicher als die erste, weil sie deren Geheimnis schon in sich einschließt. Hat einer sich sein graphologisches oder chiromantisches Lebensbild entwerfen, sein Horoskop stellen lassen, so wollen wir für diesmal nur so viel fragen: Was geht mit ihm vor? Man möchte meinen, zunächst einmal geht es an ein Vergleichen und Prüfen. Mehr oder minder skeptisch wird er Behauptung auf Behauptung durchmustern. In Wahrheit nichts von alledem. Eher das Gegenteil. Vor allem eine Neugier auf das Ergebnis, so brennend, als hätte er hier Auskunft über einen zu erwarten, der ihm sehr wichtig, aber völlig unbekannt ist. Der Brennstoff zu diesem Feuer ist Eitelkeit. Bald ist es ein Flammenmeer, denn nun ist er auf seinen Namen gestoßen. Ist aber die Exponierung des Namens schon an sich eine der stärksten Einwirkungen, die auf seinen Träger gedacht werden können (die Amerikaner haben es praktisch verwendet, indem sie Smith und Brown von ihren Lichtreklamen anreden lassen), so verbindet sie in der Wahrsagung sich selbstverständlich mit dem Inhalt des Gesagten. Damit steht es aber folgendermaßen: Das sogenannte innere Bild vom eigenen Wesen, das wir in uns tragen, ist von Minute zu Minute pure Improvisation. Es richtet sich, wenn man so sagen darf, ganz nach den Masken, die ihm vorgehalten werden. Die Welt ist ein Arsenal solcher Masken. Nur der verkümmerte, verödete Mensch sucht es als Verstellung im eigenen Innern. Denn wir selber sind zumeist arm daran. Darum macht nichts uns so glücklich, als wenn einer mit einem Kasten exotischer Masken auf uns zutritt und nun die selteneren Exemplare, die Maske des Mörders, des Finanzmagnaten, des Weltumseglers an uns heranhält. Durch sie hindurchzublicken verzaubert uns. Wir sehen die Konstellationen, die Augenblicke, in denen wir eigentlich das eine oder das andere oder dies alles auf einmal wirklich gewesen sind. Dies Maskenspiel ersehnen wir alle als Rausch und hiervon leben noch heute die Kartenleger, die Chiromanten und Astrologen. Sie wissen in eine jener lautlosen Schicksalspausen uns zurückzuversetzen, denen man es erst später anmerkt, daß sie den Keim zu einem ganz andern Schicksalsverlauf enthalten haben, als dem, der uns zuteil geworden ist. Daß so das Schicksal aussetzt wie ein Herz – das spüren wir in jenen scheinbar so dürftigen, scheinbar so schiefen Wesensbildern unserer selbst, die uns der Charlatan entgegenhält, mit tiefem, glückseligem Schrecken. Und wir beeilen uns um so mehr, ihm Recht zu geben, je durstiger wir die Schatten nie gelebter Leben in uns aufsteigen fühlen.
Kurze Schatten
Wenn es gegen Mittag geht, sind die Schatten nur noch die schwarzen, scharfen Ränder am Fuß der Dinge und in Bereitschaft, lautlos, unversehens, in ihren Bau, in ihr Geheimnis sich zurückzuziehen. Dann ist, in ihrer gedrängten, geduckten Fülle, die Stunde Zarathustras gekommen, des Denkers im »Lebensmittag«, im »Sommergarten«. Denn die Erkenntnis umreißt wie die Sonne auf der Höhe ihrer Bahn die Dinge am strengsten.