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XXV. VORLESUNG

Die Angst

Meine Damen und Herren! Was ich Ihnen in der letzten Vorlesung über die allgemeine Nervosität gesagt habe, werden Sie sicherlich als die unvollständigste und unzulänglichste meiner Mitteilungen erkannt haben. Ich weiß das, und ich denke mir, nichts anderes wird Sie mehr verwundert haben, als daß darin von der Angst nicht die Rede war, über die doch die meisten Nervösen klagen, die sie selbst als ihr schrecklichstes Leiden bezeichnen und die wirklich die großartigste Intensität bei ihnen erreichen und die tollsten Maßnahmen zur Folge haben kann. Aber darin wenigstens wollte ich Sie nicht verkürzen; ich habe mir im Gegenteil vorgenommen, das Problem der Angst bei den Nervösen besonders scharf einzustellen und es ausführlich vor Ihnen zu erörtern.

Die Angst selbst brauche ich Ihnen ja nicht vorzustellen; jeder von uns hat diese Empfindung, oder richtiger gesagt, diesen Affektzustand irgendeinmal aus eigenem kennengelernt. Aber ich meine, man hat sich nie ernsthaft genug gefragt, warum gerade die Nervösen soviel mehr und soviel stärkere Angst haben als die anderen. Vielleicht hielt man es für selbstverständlich; man verwendet ja gewöhnlich die Worte „nervös“ und „ängstlich“ so füreinander, als ob sie dasselbe bedeuten würden. Dazu hat man aber kein Recht; es gibt ängstliche Menschen, die sonst gar nicht nervös sind, und außerdem Nervöse, die an vielen Symptomen leiden, unter denen aber die Neigung zur Angst nicht aufgefunden wird.

Wie immer das sein mag, es steht fest, daß das Angstproblem ein Knotenpunkt ist, an welchem die verschiedensten und wichtigsten Fragen zusammentreffen, ein Rätsel, dessen Lösung eine Fülle von Licht über unser ganzes Seelenleben ergießen müßte. Ich werde nicht behaupten, daß ich Ihnen diese volle Lösung geben kann, aber Sie werden gewiß erwarten, daß die Psychoanalyse auch dieses Thema ganz anders angreifen wird als die Medizin der Schulen. Dort scheint man sich vor allem dafür zu interessieren, auf welchen anatomischen Wegen der Angstzustand zustande gebracht wird. Es heißt, die Medulla oblongata sei gereizt, und der Kranke erfährt, daß er an einer Neurose des Nervus vagus leidet. Die Medulla oblongata ist ein sehr ernsthaftes und schönes Objekt. Ich erinnere mich ganz genau, wieviel Zeit und Mühe ich vor Jahren ihrem Studium gewidmet habe. Aber heute muß ich sagen, ich weiß nichts, was mir für das psychologische Verständnis der Angst gleichgültiger sein könnte als die Kenntnis des Nervenweges, auf dem ihre Erregungen ablaufen.

Von der Angst kann man zunächst eine ganze Weile handeln, ohne der Nervosität überhaupt zu gedenken. Sie verstehen mich ohne weiteres, wenn ich diese Angst als Realangst bezeichne im Gegensatz zu einer neurotischen. Die Realangst erscheint uns nun als etwas sehr Rationelles und Begreifliches. Wir werden von ihr aussagen, sie ist eine Reaktion auf die Wahrnehmung einer äußeren Gefahr, d. h. einer erwarteten, vorhergesehenen Schädigung, sie ist mit dem Fluchtreflex verbunden, und man darf sie als Äußerung des Selbsterhaltungstriebes ansehen. Bei welchen Gelegenheiten, d. h. vor welchen Objekten und in welchen Situationen die Angst auftritt, wird natürlich zum großen Teil von dem Stande unseres Wissens und von unserem Machtgefühl gegen die Außenwelt abhängen. Wir finden es ganz begreiflich, daß der Wilde sich vor einer Kanone fürchtet und bei einer Sonnenfinsternis ängstigt, während der Weiße, der das Instrument handhaben und das Ereignis vorhersagen kann, unter diesen Bedingungen angstfrei bleibt. Ein andermal ist es gerade das Mehrwissen, was die Angst befördert, weil es die Gefahr frühzeitig erkennen läßt. So wird der Wilde vor einer Fährte im Walde erschrecken, die dem Unkundigen nichts sagt, ihm aber die Nähe eines reißenden Tieres verrät, und der erfahrene Schiffer mit Entsetzen ein Wölkchen am Himmel betrachten, das dem Passagier unscheinbar dünkt, während es ihm das Herannahen des Orkans verkündet.

Bei weiterer Überlegung muß man sich sagen, daß das Urteil über die Realangst, sie sei rationell und zweckmäßig, einer gründlichen Revision bedarf. Das einzig zweckmäßige Verhalten bei drohender Gefahr wäre nämlich die kühle Abschätzung der eigenen Kräfte im Vergleich zur Größe der Drohung und darauf die Entscheidung, ob die Flucht oder die Verteidigung, möglicherweise selbst der Angriff, größere Aussicht auf einen guten Ausgang verspricht. In diesem Zusammenhang ist aber für die Angst überhaupt keine Stelle; alles, was geschieht, würde ebensowohl und wahrscheinlich besser vollzogen werden, wenn es nicht zur Angstentwicklung käme. Sie sehen ja auch, wenn die Angst übermäßig stark ausfällt, dann erweist sie sich als äußerst unzweckmäßig, sie lähmt dann jede Aktion, auch die der Flucht. Für gewöhnlich besteht die Reaktion auf die Gefahr aus einer Vermengung von Angstaffekt und Abwehraktion. Das geschreckte Tier ängstigt sich und flieht, aber das Zweckmäßige daran ist die „Flucht“, nicht das „sich ängstigen“.

Man fühlt sich also versucht zu behaupten, daß die Angstentwicklung niemals etwas Zweckmäßiges ist. Vielleicht verhilft es zu besserer Einsicht, wenn man sich die Angstsituation sorgfältiger zerlegt. Das erste an ihr ist die Bereitschaft auf die Gefahr, die sich in gesteigerter sensorischer Aufmerksamkeit und motorischer Spannung äußert. Diese Erwartungsbereitschaft ist unbedenklich als vorteilhaft anzuerkennen, ja ihr Wegfall mag für ernste Folgen verantwortlich gemacht werden. Aus ihr geht nun einerseits die motorische Aktion hervor, zunächst Flucht, auf einer höheren Stufe tätige Abwehr, anderseits das, was wir als den Angstzustand empfinden. Je mehr sich die Angstentwicklung auf einen bloßen Ansatz, auf ein Signal einschränkt, desto ungestörter vollzieht sich die Umsetzung der Angstbereitschaft in Aktion, desto zweckmäßiger gestaltet sich der ganze Ablauf. Die Angstbereitschaft scheint mir also das Zweckmäßige, die Angstentwicklung das Zweckwidrige an dem, was wir Angst heißen, zu sein.

Ich vermeide es, auf die Frage näher einzugehen, ob unser Sprachgebrauch mit Angst, Furcht, Schreck das Nämliche oder deutlich Verschiedenes bezeichnen will. Ich meine nur, Angst bezieht sich auf den Zustand und sieht vom Objekt ab, während Furcht die Aufmerksamkeit gerade auf das Objekt richtet. Schreck scheint hingegen einen besonderen Sinn zu haben, nämlich die Wirkung einer Gefahr hervorzuheben, welche nicht von einer Angstbereitschaft empfangen wird. So daß man sagen könnte, der Mensch schütze sich durch die Angst vor dem Schreck. Die gewisse Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit im Gebrauche des Wortes „Angst“ wird Ihnen nicht entgangen sein. Zumeist versteht man unter Angst den subjektiven Zustand, in den man durch die Wahrnehmung der „Angstentwicklung“ gerät, und heißt diesen einen Affekt. Was ist nun im dynamischen Sinne ein Affekt? Jedenfalls etwas sehr Zusammengesetztes. Ein Affekt umschließt erstens bestimmte motorische Innervationen oder Abfuhren, zweitens gewisse Empfindungen, und zwar von zweierlei Art, die Wahrnehmungen der stattgehabten motorischen Aktionen und die direkten Lust- und Unlustempfindungen, die dem Affekt, wie man sagt, den Grundton geben. Ich glaube aber nicht, daß mit dieser Aufzählung das Wesen des Affektes getroffen ist. Bei einigen Affekten glaubt man tiefer zu blicken und zu erkennen, daß der Kern, welcher das genannte Ensemble zusammenhält, die Wiederholung eines bestimmten bedeutungsvollen Erlebnisses ist. Dies Erlebnis könnte nur ein sehr frühzeitiger Eindruck von sehr allgemeiner Natur sein, der in die Vorgeschichte nicht des Individuums, sondern der Art zu verlegen ist. Um mich verständlicher zu machen, der Affektzustand wäre ebenso gebaut wie ein hysterischer Anfall, wie dieser der Niederschlag einer Reminiszenz. Der hysterische Anfall ist also vergleichbar einem neugebildeten individuellen Affekt, der normale Affekt dem Ausdruck einer generellen, zur Erbschaft gewordenen Hysterie.

Nehmen Sie nicht an, daß dasjenige, was ich Ihnen hier über die Affekte gesagt habe, ein anerkanntes Gut der Normalpsychologie ist. Es sind im Gegenteil Auffassungen, die auf dem Boden der Psychoanalyse erwachsen und nur dort heimisch sind. Was Sie in der Psychologie über die Affekte erfahren können, z. B. die James-Langesche Theorie, ist für uns Psychoanalytiker geradezu unverständlich und undiskutierbar. Für sehr gesichert halten wir aber unser Wissen um die Affekte auch nicht; es ist ein erster Versuch, sich auf diesem dunkeln Gebiet zu orientieren. Ich setze nun fort: Beim Angstaffekt glauben wir zu wissen, welchen frühzeitigen Eindruck er als Wiederholung wiederbringt. Wir sagen uns, es ist der Geburtsakt, bei welchem jene Gruppierung von Unlustempfindungen, Abfuhrregungen und Körpersensationen zustande kommt, die das Vorbild für die Wirkung einer Lebensgefahr geworden ist und seither als Angstzustand von uns wiederholt wird. Die enorme Reizsteigerung durch die Unterbrechung der Bluterneuerung (der inneren Atmung) war damals die Ursache des Angsterlebnisses, die erste Angst also eine toxische. Der Name Angst — angustiae, Enge — betont den Charakter der Beengung im Atmen, die damals als Folge der realen Situation vorhanden war und heute im Affekt fast regelmäßig wiederhergestellt wird. Wir werden es auch als beziehungsreich erkennen, daß jener erste Angstzustand aus der Trennung von der Mutter hervorging. Natürlich sind wir der Überzeugung, die Disposition zur Wiederholung des ersten Angstzustandes sei durch die Reihe unzählbarer Generationen dem Organismus so gründlich einverleibt, daß ein einzelnes Individuum dem Angstaffekt nicht entgehen kann, auch wenn es wie der sagenhafte Macduff „aus seiner Mutter Leib geschnitten wurde“, den Geburtsakt selbst also nicht erfahren hat. Was bei anderen als Säugetieren das Vorbild des Angstzustandes geworden ist, können wir nicht sagen. Dafür wissen wir auch nicht, welcher Empfindungskomplex bei diesen Geschöpfen unserer Angst äquivalent ist.

Es wird Sie vielleicht interessieren zu hören, wie man auf eine solche Idee kommen kann, wie daß der Geburtsakt die Quelle und das Vorbild des Angstaffektes ist. Die Spekulation hat den geringsten Anteil daran; ich habe vielmehr bei dem naiven Denken des Volkes eine Anleihe gemacht. Als wir vor langen Jahren junge Spitalärzte um den Mittagstisch im Wirtshause saßen, erzählte ein Assistent der geburtshilflichen Klinik, was für lustige Geschichte sich bei der letzten Hebammenprüfung zugetragen. Eine Kandidatin wurde gefragt, was es bedeute, wenn sich bei der Geburt Mekonium (Kindspech, Exkremente) im abgehenden Wasser zeigen, und sie antwortete prompt: Daß das Kind Angst habe. Sie wurde ausgelacht und war durchgefallen. Aber ich nahm im stillen ihre Partei und begann zu ahnen, daß das arme Weib aus dem Volke unbeirrten Sinnes einen wichtigen Zusammenhang bloßgelegt hatte.

Übergehen wir nun zur neurotischen Angst, welche neue Erscheinungsformen und Verhältnisse zeigt uns die Angst bei den Nervösen? Da ist viel zu beschreiben. Wir finden erstens eine allgemeine Ängstlichkeit, eine sozusagen frei flottierende Angst, die bereit ist, sich an jeden irgendwie passenden Vorstellungsinhalt anzuhängen, die das Urteil beeinflußt, die Erwartungen auswählt, auf jede Gelegenheit lauert, um sich rechtfertigen zu lassen. Wir heißen diesen Zustand „Erwartungsangst“ oder „ängstliche Erwartung“. Personen, die von dieser Art Angst geplagt werden, sehen von allen Möglichkeiten immer die schrecklichste voraus, deuten jeden Zufall als Anzeige eines Unheils, nützen jede Unsicherheit im schlimmen Sinne aus. Die Neigung zu solcher Unheilserwartung findet sich als Charakterzug bei vielen Menschen, die man sonst nicht als krank bezeichnen kann, man schilt sie überängstlich oder pessimistisch; ein auffälliges Maß von Erwartungsangst gehört aber regelmäßig einer nervösen Affektion an, die ich als „Angstneurose“ benannt habe und zu den Aktualneurosen rechne.

Eine zweite Form der Angst ist im Gegensatze zu der eben beschriebenen vielmehr psychisch gebunden und an gewisse Objekte oder Situationen geknüpft. Es ist die Angst der überaus mannigfaltigen und oft sehr sonderbaren „Phobien“. Stanley Hall, der angesehene amerikanische Psychologe, hat sich erst kürzlich die Mühe genommen, uns die ganze Reihe dieser Phobien in prunkender griechischer Namengebung vorzuführen. Das klingt wie die Aufzählung der zehn ägyptischen Plagen, nur daß ihre Anzahl weit über die Zehn hinausgeht. Hören Sie, was alles Objekt oder Inhalt einer Phobie werden kann: Finsternis, freie Luft, offene Plätze, Katzen, Spinnen, Raupen, Schlangen, Mäuse, Gewitter, scharfe Spitzen, Blut, geschlossene Räume, Menschengedränge, Einsamkeit, Überschreiten von Brücken, See- und Eisenbahnfahrt usw. Bei einem ersten Versuch der Orientierung in diesem Gewimmel liegt es nahe, drei Gruppen zu unterscheiden. Manche der gefürchteten Objekte und Situationen haben auch für uns Normale etwas Unheimliches, eine Beziehung zur Gefahr, und diese Phobien erscheinen uns darum nicht unbegreiflich, wiewohl in ihrer Stärke sehr übertrieben. So empfinden die meisten von uns ein widerwärtiges Gefühl beim Zusammentreffen mit einer Schlange. Die Schlangenphobie, kann man sagen, ist eine allgemein menschliche, und Ch. Darwin hat sehr eindrucksvoll beschrieben, wie er sich der Angst vor einer auf ihn losfahrenden Schlange nicht erwehren konnte, wiewohl er sich durch eine dicke Glasscheibe vor ihr geschützt wußte. Zu einer zweiten Gruppe stellen wir die Fälle, in denen noch eine Beziehung zu einer Gefahr besteht, wobei wir aber gewöhnt sind, diese Gefahr geringzuschätzen und sie nicht voranzustellen. Hierher gehören die meisten Situationsphobien. Wir wissen, daß es auf der Eisenbahnfahrt eine Chance des Verunglückens mehr gibt, als wenn wir zu Hause bleiben, nämlich die des Eisenbahnzusammenstoßes, wissen auch, daß ein Schiff untergehen kann, wobei man dann in der Regel ertrinkt, aber wir denken nicht an diese Gefahren und reisen angstfrei mit Eisenbahn und Schiff. Es ist auch nicht zu leugnen, daß man in den Fluß stürzen würde, wenn die Brücke in dem Moment einstürzte, in dem man sie passiert, aber das geschieht so überaus selten, daß es als Gefahr gar nicht in Betracht kommt. Auch die Einsamkeit hat ihre Gefahren, und wir vermeiden sie auch unter gewissen Umständen; es ist aber nicht die Rede davon, daß wir sie unter irgendwelcher Bedingung auch nur einen Moment lang nicht vertragen. Ähnliches gilt für das Menschengedränge, für den geschlossenen Raum, das Gewitter u. dgl. Was uns an diesen Phobien der Neurotiker befremdet, ist überhaupt nicht so sehr der Inhalt als die Intensität derselben. Die Angst der Phobien ist geradezu inappellabel! Und manchmal bekommen wir den Eindruck, als ängstigten sich die Neurotiker gar nicht vor denselben Dingen und Situationen, die unter gewissen Umständen auch bei uns Angst hervorrufen können und die sie mit denselben Namen belegen.

Es erübrigt uns eine dritte Gruppe von Phobien, denen unser Verständnis überhaupt nicht mehr nachkommt. Wenn ein starker, erwachsener Mann vor Angst nicht durch eine Straße oder über einen Platz der ihm so wohlvertrauten Heimatstadt gehen kann, wenn eine gesunde, gut entwickelte Frau in eine besinnungslose Angst verfällt, weil eine Katze an ihren Kleidersaum gestreift hat oder ein Mäuschen durchs Zimmer gehuscht ist, wie sollen wir da die Verbindung mit der Gefahr herstellen, die offenbar doch für die Phobischen besteht? Bei den hierher gehörigen Tierphobien kann es sich nicht um die Steigerung allgemein menschlicher Antipathien handeln, denn es gibt wie zur Demonstration des Gegensatzes zahlreiche Menschen, die an keiner Katze vorbeigehen können, ohne sie zu locken und zu streicheln. Die von den Frauen so gefürchtete Maus ist gleichzeitig ein Zärtlichkeitsname erster Ordnung; manches Mädchen, das sich mit Befriedigung von seinem Geliebten so nennen hört, schreit doch entsetzt auf, wenn es das niedliche Tierchen dieses Namens erblickt. Für den Mann mit Straßen- oder Platzangst drängt sich uns die einzige Erklärung auf, daß er sich benehme wie ein kleines Kind. Ein Kind wird durch die Erziehung direkt angehalten, solche Situationen als gefährlich zu vermeiden, und unser Agoraphobiker ist wirklich vor seiner Angst geschützt, wenn man ihn über den Platz begleitet.

Die beiden hier beschriebenen Formen der Angst, die frei flottierende Erwartungsangst und die an Phobien gebundene, sind unabhängig voneinander. Die eine ist nicht etwa eine höhere Stufe der anderen, sie kommen auch nur ausnahmsweise und dann wie zufällig miteinander vor. Die stärkste allgemeine Ängstlichkeit braucht sich nicht in Phobien zu äußern; Personen, deren ganzes Leben durch eine Agoraphobie eingeschränkt wird, können von der pessimistischen Erwartungsangst völlig frei sein. Manche der Phobien, z. B. Platzangst, Eisenbahnangst, werden nachweisbar erst in reiferen Jahren erworben, andere, wie Angst vor Dunkelheit, Gewitter, Tieren, scheinen von Anfang an bestanden zu haben. Die der ersteren Art haben die Bedeutung von schweren Krankheiten; die letzteren erscheinen eher wie Sonderbarkeiten, Launen. Wer eine von diesen letzteren zeigt, bei dem darf man in der Regel noch andere, ähnliche vermuten. Ich muß hinzufügen, daß wir diese Phobien sämtlich zur Angsthysterie rechnen, d. h. also sie als eine der bekannten Konversionshysterie sehr verwandte Affektion betrachten.

Die dritte der Formen neurotischer Angst stellt uns vor das Rätsel, daß wir den Zusammenhang zwischen Angst und drohender Gefahr völlig aus den Augen verlieren. Diese Angst tritt z. B. bei der Hysterie auf als Begleitung der hysterischen Symptome, oder unter beliebigen Bedingungen der Aufregung, wo wir zwar eine Affektäußerung erwarten würden, aber gerade den Angstaffekt am wenigsten, oder losgelöst von allen Bedingungen, für uns und den Kranken gleich unverständlich, als freier Angstanfall. Von einer Gefahr oder einem Anlaß, der durch Übertreibung dazu erhoben werden könnte, ist dann weit und breit keine Rede. Bei diesen spontanen Anfällen erfahren wir dann, daß der Komplex, den wir als Angstzustand bezeichnen, einer Aufsplitterung fähig ist. Das Ganze des Anfalles kann durch ein einzelnes, intensiv ausgebildetes Symptom vertreten werden, durch ein Zittern, einen Schwindel, eine Herzpalpitation, eine Atemnot, und das Gemeingefühl, an dem wir die Angst erkennen, kann dabei fehlen oder undeutlich geworden sein. Und doch sind diese Zustände, die wir als „Angstäquivalente“ beschreiben, in allen klinischen und ätiologischen Beziehungen der Angst gleichzustellen.

Nun erheben sich zwei Fragen. Kann man die neurotische Angst, bei welcher die Gefahr keine oder eine so geringe Rolle spielt, in Zusammenhang mit der Realangst bringen, welche durchwegs eine Reaktion auf die Gefahr ist? Und wie läßt sich die neurotische Angst verstehen? Wir werden doch zunächst die Erwartung festhalten wollen: wo Angst ist, muß auch etwas vorhanden sein, vor dem man sich ängstigt.

Für das Verständnis der neurotischen Angst ergeben sich nun aus der klinischen Beobachtung mehrere Hinweise, deren Bedeutung ich vor Ihnen erörtern will.

a) Es ist nicht schwer festzustellen, daß die Erwartungsangst oder allgemeine Ängstlichkeit in enger Abhängigkeit von bestimmten Vorgängen im Sexualleben, sagen wir: von gewissen Verwendungen der Libido, steht. Der einfachste und lehrreichste Fall dieser Art ergibt sich bei Personen, die sich der sogenannten frustranen Erregung aussetzen, d. h. bei denen heftige sexuelle Erregungen keine genügende Abfuhr erfahren, nicht zu einem befriedigenden Abschluß geführt werden. Also z. B. bei Männern während des Brautstandes und bei Frauen, deren Männer ungenügend potent sind oder die den Geschlechtsakt aus Vorsicht verkürzt oder verkümmert ausführen. Unter diesen Umständen schwindet die libidinöse Erregung und an ihrer Stelle tritt Angst auf, sowohl in der Form der Erwartungsangst als auch in Anfällen und Anfallsäquivalenten. Die vorsichtige Unterbrechung des Geschlechtsaktes wird, wenn sie als sexuelles Regime geübt wird, so regelmäßig Ursache der Angstneurose bei Männern, besonders aber bei Frauen, daß es sich in der ärztlichen Praxis empfiehlt, bei derartigen Fällen in erster Linie nach dieser Ätiologie zu forschen. Man kann dann auch ungezählte Male die Erfahrung machen, daß die Angstneurose erlischt, wenn der sexuelle Mißbrauch abgestellt wird.

Die Tatsache eines Zusammenhanges zwischen sexueller Zurückhaltung und Angstzuständen wird, soviel ich weiß, auch von Ärzten, die der Psychoanalyse fernestehen, nicht mehr bestritten. Allein ich kann mir wohl denken, daß der Versuch nicht unterlassen wird, die Beziehung umzukehren, indem man die Auffassung vertritt, es handle sich dabei um Personen, die von vornherein zur Ängstlichkeit neigen und darum auch in sexuellen Dingen Zurückhaltung üben. Dagegen spricht aber mit Entschiedenheit das Verhalten der Frauen, deren Sexualbetätigung ja wesentlich passiver Natur ist, d. h. durch die Behandlung von Seiten des Mannes bestimmt wird. Je temperamentvoller, also je geneigter zum Sexualverkehr und befähigter zur Befriedigung eine Frau ist, desto sicherer wird sie auf die Impotenz des Mannes oder auf den Coitus interruptus mit Angsterscheinungen reagieren, während solche Mißhandlung bei anästhetischen oder wenig libidinösen Frauen eine weit geringere Rolle spielt.

Dieselbe Bedeutung für die Entstehung von Angstzuständen hat die jetzt von den Ärzten so warm empfohlene sexuelle Abstinenz natürlich nur dann, wenn die Libido, der die befriedigende Abfuhr versagt wird, entsprechend stark und nicht zum größten Teil durch Sublimierung erledigt ist. Die Entscheidung über den Krankheitserfolg liegt ja immer bei den quantitativen Faktoren. Auch wo nicht Krankheit sondern Charaktergestaltung in Betracht kommt, erkennt man leicht, daß sexuelle Einschränkung mit einer gewissen Ängstlichkeit und Bedenklichkeit Hand in Hand geht, während Unerschrockenheit und kecker Wagemut ein freies Gewährenlassen der sexuellen Bedürftigkeit mit sich bringen. So sehr sich diese Beziehungen durch mannigfache Kultureinflüsse abändern und komplizieren lassen, so bleibt es doch für den Durchschnitt der Menschen bestehen, daß die Angst mit der sexuellen Beschränkung zusammengehörig ist.

Ich habe Ihnen noch lange nicht alle Beobachtungen mitgeteilt, die für die behauptete genetische Beziehung zwischen Libido und Angst sprechen. Dazu gehört z. B. noch der Einfluß gewisser Lebensphasen auf die Angsterkrankungen, denen man, wie der Pubertät und der Zeit der Menopause, eine erhebliche Steigerung in der Produktion der Libido zuschreiben darf. In manchen Zuständen von Aufregung kann man auch die Vermengung von Libido und Angst und die endliche Ersetzung der Libido durch die Angst direkt beobachten. Der Eindruck, den man von all diesen Tatsachen empfängt, ist ein zweifacher, erstens daß es sich um eine Anhäufung von Libido handelt, die von ihrer normalen Verwendung abgehalten wird, zweitens, daß man sich dabei durchaus auf dem Gebiete somatischer Vorgänge befindet. Wie aus der Libido die Angst entsteht, ist zunächst nicht ersichtlich; man stellt nur fest, daß Libido vermißt und an ihrer Statt Angst beobachtet wird.

b) Einen zweiten Fingerzeig entnehmen wir aus der Analyse der Psychoneurosen, speziell der Hysterie. Wir haben gehört, daß bei dieser Affektion häufig Angst in Begleitung der Symptome auftritt, aber auch ungebundene Angst, die sich als Anfall oder als Dauerzustand äußert. Die Kranken wissen nicht zu sagen, wovor sie sich ängstigen, und verknüpfen sie durch eine unverkennbare sekundäre Bearbeitung mit den nächstliegenden Phobien, wie: Sterben, Verrücktwerden, Schlaganfall. Wenn wir die Situation, aus welcher die Angst oder von Angst begleitete Symptome hervorgegangen sind, der Analyse unterziehen, so können wir in der Regel angeben, welcher normale psychische Ablauf unterblieben ist und sich durch das Angstphänomen ersetzt hat. Drücken wir uns anders aus: Wir konstruieren den unbewußten Vorgang so, als ob er keine Verdrängung erfahren und sich ungehindert zum Bewußtsein fortgesetzt hätte. Dieser Vorgang wäre auch von einem bestimmten Affekt begleitet gewesen, und nun erfahren wir zu unserer Überraschung, daß dieser den normalen Ablauf begleitende Affekt nach der Verdrängung in jedem Falle durch Angst ersetzt wird, gleichgültig, was seine eigene Qualität ist. Wenn wir also einen hysterischen Angstzustand vor uns haben, so kann sein unbewußtes Korrelat eine Regung von ähnlichem Charakter sein, also von Angst, Scham, Verlegenheit, ebensowohl eine positiv libidinöse Erregung oder eine feindselig aggressive, wie Wut und Ärger. Die Angst ist also die allgemein gangbare Münze, gegen welche alle Affektregungen eingetauscht werden oder werden können, wenn der dazugehörige Vorstellungsinhalt der Verdrängung unterlegen ist.

c) Eine dritte Erfahrung machen wir bei den Kranken mit Zwangshandlungen, die in bemerkenswerter Weise von der Angst verschont zu sein scheinen. Wenn wir sie an der Ausführung ihrer Zwangshandlung, ihres Waschens, ihres Zeremoniells zu hindern versuchen, oder wenn sie selbst den Versuch wagen, einen ihrer Zwänge aufzugeben, so werden sie durch eine entsetzliche Angst zur Gefügigkeit gegen den Zwang genötigt. Wir verstehen, daß die Angst durch die Zwangshandlung gedeckt war und daß diese nur ausgeführt wurde, um die Angst zu ersparen. Es wird also bei der Zwangsneurose die Angst, die sich sonst einstellen müßte, durch Symptombildung ersetzt, und wenn wir uns zur Hysterie wenden, finden wir bei dieser Neurose eine ähnliche Beziehung: als Erfolg des Verdrängungsvorganges entweder reine Angstentwicklung oder Angst mit Symptombildung oder vollkommenere Symptombildung ohne Angst. Es schiene also in einem abstrakten Sinne nicht unrichtig zu sagen, daß Symptome überhaupt nur gebildet werden, um der sonst unvermeidlichen Angstentwicklung zu entgehen. Durch diese Auffassung wird die Angst gleichsam in den Mittelpunkt unseres Interesses für die Neurosenprobleme gerückt.

Aus den Beobachtungen an der Angstneurose hatten wir geschlossen, daß die Ablenkung der Libido von ihrer normalen Verwendung, welche die Angst entstehen läßt, auf dem Boden der somatischen Vorgänge erfolgt. Aus den Analysen der Hysterie und der Zwangsneurose ergibt sich der Zusatz, daß die nämliche Ablenkung mit demselben Ergebnis auch die Wirkung einer Verweigerung der psychischen Instanzen sein kann. Soviel wissen wir also über die Entstehung der neurotischen Angst; es klingt noch ziemlich unbestimmt. Ich sehe aber vorläufig keinen Weg, der weiterführen würde. Die zweite Aufgabe, die wir uns gestellt haben, die Herstellung einer Verbindung zwischen der neurotischen Angst, die abnorm verwendete Libido ist, und der Realangst, welche einer Reaktion auf die Gefahr entspricht, scheint noch schwieriger lösbar. Man möchte glauben, es handle sich da um ganz disparate Dinge, und doch haben wir kein Mittel, Realangst und neurotische Angst in der Empfindung voneinander zu unterscheiden.

Die gesuchte Verbindung stellt sich endlich her, wenn wir den oft behaupteten Gegensatz zwischen Ich und Libido zur Voraussetzung nehmen. Wie wir wissen, ist die Angstentwicklung die Reaktion des Ichs auf die Gefahr und das Signal für die Einleitung der Flucht; da liegt uns denn die Auffassung nahe, daß bei der neurotischen Angst das Ich einen ebensolchen Fluchtversuch vor dem Anspruch seiner Libido unternimmt, diese innere Gefahr so behandelt, als ob sie eine äußere wäre. Damit wäre die Erwartung erfüllt, daß dort, wo sich Angst zeigt, auch etwas vorhanden ist, wovor man sich ängstigt. Die Analogie ließe sich aber weiter fortführen. So wie der Fluchtversuch vor der äußeren Gefahr abgelöst wird durch Standhalten und zweckmäßige Maßnahmen zur Verteidigung, so weicht auch die neurotische Angstentwicklung der Symptombildung, welche eine Bindung der Angst herbeiführt.

Die Schwierigkeit des Verständnisses liegt jetzt an anderer Stelle. Die Angst, welche eine Flucht des Ichs vor seiner Libido bedeutet, soll doch aus dieser Libido selbst hervorgegangen sein. Das ist undurchsichtig und enthält die Mahnung, nicht zu vergessen, daß die Libido einer Person doch im Grunde zu ihr gehört und sich ihr nicht wie etwas Äußerliches entgegenstellen kann. Es ist die topische Dynamik der Angstentwicklung, die uns noch dunkel ist, was für seelische Energien dabei ausgegeben werden und von welchen psychischen Systemen her. Ich kann Ihnen nicht versprechen, auch diese Frage zu beantworten, aber wir wollen es nicht unterlassen, zwei andere Spuren zu verfolgen und uns dabei wieder der direkten Beobachtung und der analytischen Forschung zu bedienen, um unserer Spekulation zu Hilfe zu kommen. Wir wenden uns zur Entstehung der Angst beim Kinde und zur Herkunft der neurotischen Angst, welche an Phobien gebunden ist.

Die Ängstlichkeit der Kinder ist etwas sehr Gewöhnliches, und die Unterscheidung, ob sie neurotische oder Realangst ist, scheint recht schwierig. Ja, der Wert dieser Unterscheidung wird durch das Verhalten der Kinder in Frage gestellt. Denn einerseits verwundern wir uns nicht, wenn sich das Kind vor allen fremden Personen, neuen Situationen und Gegenständen ängstigt, und erklären uns diese Reaktion sehr leicht durch seine Schwäche und Unwissenheit. Wir schreiben also dem Kinde eine starke Neigung zur Realangst zu und würden es für ganz zweckmäßig ansehen, wenn es diese Ängstlichkeit als Erbschaft mitgebracht hätte. Das Kind würde hierin nur das Verhalten des Urmenschen und des heutigen Primitiven wiederholen, der infolge seiner Unwissenheit und Hilflosigkeit vor allem Neuen Angst hat und vor so viel Vertrautem, was uns heute keine Angst mehr einflößt. Auch entspräche es durchaus unserer Erwartung, wenn die Phobien des Kindes wenigstens zum Teil noch dieselben wären, die wir jenen Urzeiten der menschlichen Entwicklung zutrauen dürfen.

Anderseits können wir nicht übersehen, daß nicht alle Kinder in gleichem Maße ängstlich sind und daß gerade die Kinder, welche eine besondere Scheu vor allen möglichen Objekten und Situationen äußern, sich späterhin als Nervöse erweisen. Die neurotische Disposition verrät sich also auch durch eine ausgesprochene Neigung zur Realangst, die Ängstlichkeit erscheint als das Primäre, und man gelangt zum Schlusse, das Kind und später der Heranwachsende ängstigen sich vor der Höhe ihrer Libido, weil sie sich eben vor allem ängstigen. Die Entstehung der Angst aus der Libido wäre hiemit abgelehnt, und wenn man den Bedingungen der Realangst nachforschte, gelangte man konsequent zu der Auffassung, daß das Bewußtsein der eigenen Schwäche und Hilflosigkeit — Minderwertigkeit in der Terminologie von A. Adler — auch der letzte Grund der Neurose ist, wenn es sich aus der Kinderzeit ins reifere Leben fortsetzen kann.

Das klingt so einfach und bestechend, daß es ein Anrecht auf unsere Aufmerksamkeit hat. Es würde allerdings eine Verschiebung des Rätsels der Nervosität mit sich bringen. Der Fortbestand des Minderwertigkeitsgefühls — und damit der Angstbedingung und der Symptombildung — scheint so gut gesichert, daß es vielmehr einer Erklärung bedarf, wenn ausnahmsweise das, was wir als Gesundheit kennen, zustande kommen sollte. Was läßt aber eine sorgfältige Beobachtung der Ängstlichkeit der Kinder erkennen? Das kleine Kind ängstigt sich zu allererst vor fremden Personen; Situationen werden erst dadurch bedeutsam, daß sie Personen enthalten, und Gegenstände kommen überhaupt erst später in Betracht. Vor diesen Fremden ängstigt sich das Kind aber nicht etwa darum, weil es ihnen böse Absichten zutraut und seine Schwäche mit deren Stärke vergleicht, sie also als Gefahren für seine Existenz, Sicherheit und Schmerzfreiheit agnosziert. Ein derart mißtrauisches, von dem weltbeherrschenden Aggressionstrieb geschrecktes Kind ist eine recht verunglückte theoretische Konstruktion. Sondern das Kind erschrickt vor der fremden Gestalt, weil es auf den Anblick der vertrauten und geliebten Person, im Grunde der Mutter, eingestellt ist. Es ist seine Enttäuschung und Sehnsucht, welche sich in Angst umsetzt, also unverwendbar gewordene Libido, die derzeit nicht in Schwebe gehalten werden kann, sondern als Angst abgeführt wird. Es kann auch kaum zufällig sein, daß in dieser für die kindliche Angst vorbildlichen Situation die Bedingung des ersten Angstzustandes während des Geburtsaktes, nämlich die Trennung von der Mutter, wiederholt wird.

Die ersten Situationsphobien der Kinder sind die vor der Dunkelheit und der Einsamkeit; die erstere bleibt oft durchs Leben bestehen, beiden gemeinsam ist das Vermissen der geliebten Pflegeperson, der Mutter also. Ein Kind, das sich in der Dunkelheit ängstigte, hörte ich ins Nebenzimmer rufen: „Tante, sprich doch zu mir, ich fürchte mich.“ „Aber was hast Du davon? Du siehst mich ja nicht“; darauf das Kind: „Wenn jemand spricht, wird es heller.“ Die Sehnsucht in der Dunkelheit wird also zur Angst vor der Dunkelheit umgebildet. Weit entfernt, daß die neurotische Angst nur sekundär und ein Spezialfall der Realangst wäre, sehen wir vielmehr beim kleinen Kinde, daß sich etwas als Realangst gebärdet, was mit der neurotischen Angst den wesentlichen Zug der Entstehung aus unverwendeter Libido gemein hat. Von richtiger Realangst scheint das Kind wenig mitzubringen. In all den Situationen, die später die Bedingungen von Phobien werden können, auf Höhen, schmalen Stegen über dem Wasser, auf der Eisenbahnfahrt und im Schiff, zeigt das Kind keine Angst, und zwar um so weniger, je unwissender es ist. Es wäre sehr wünschenswert, wenn es mehr von solchen lebenschützenden Instinkten zur Erbschaft bekommen hätte; die Aufgabe der Überwachung, die es daran verhindern muß, sich einer Gefahr nach der anderen auszusetzen, wäre dadurch sehr erleichtert. In Wirklichkeit aber überschätzt das Kind anfänglich seine Kräfte und benimmt sich angstfrei, weil es die Gefahren nicht kennt. Es wird an den Rand des Wassers laufen, auf die Fensterbrüstung steigen, mit scharfen Gegenständen und mit dem Feuer spielen, kurz alles tun, was ihm Schaden bringen und seinen Pflegern Sorge bereiten muß. Es ist durchaus das Werk der Erziehung, wenn endlich die Realangst bei ihm erwacht, da man ihm nicht erlauben kann, die belehrende Erfahrung selbst zu machen.

Wenn es nun Kinder gibt, die dieser Erziehung zur Angst ein Stück weit entgegenkommen und die dann auch selbst Gefahren finden, vor denen man sie nicht gewarnt hat, so reicht für sie die Erklärung aus, daß sie ein größeres Maß von libidinöser Bedürftigkeit in ihrer Konstitution mitgebracht haben oder frühzeitig mit libidinöser Befriedigung verwöhnt worden sind. Kein Wunder, wenn sich unter diesen Kindern auch die späteren Nervösen befinden; wir wissen ja, die größte Erleichterung für die Entstehung einer Neurose liegt in der Unfähigkeit, eine ansehnlichere Libidostauung durch längere Zeit zu ertragen. Sie merken, daß hier auch das konstitutionelle Moment zu seinem Recht kommt, dem wir seine Rechte ja nie bestreiten wollen. Wir verwahren uns nur dagegen, wenn jemand über diesem Anspruch alle anderen vernachlässigt und das konstitutionelle Moment auch dort einführt, wo es nach den vereinten Ergebnissen von Beobachtung und Analyse nicht hingehört oder an die letzte Stelle zu rücken hat.

Lassen Sie uns aus den Beobachtungen über die Ängstlichkeit der Kinder die Summe ziehen: Die infantile Angst hat sehr wenig mit der Realangst zu schaffen, ist dagegen der neurotischen Angst der Erwachsenen nahe verwandt. Sie entsteht wie diese aus unverwendeter Libido und ersetzt das vermißte Liebesobjekt durch einen äußeren Gegenstand oder eine Situation.

Nun werden Sie es gerne hören, daß uns die Analyse der Phobien nicht mehr viel Neues zu lehren hat. Bei diesen geht nämlich dasselbe vor wie bei der Kinderangst; es wird unausgesetzt unverwendbare Libido in eine scheinbare Realangst umgewandelt und so eine winzige äußere Gefahr zur Vertretung der Libidoansprüche eingesetzt. Die Übereinstimmung hat nichts Befremdliches, denn die infantilen Phobien sind nicht nur das Vorbild für die späteren, die wir zur „Angsthysterie“ rechnen, sondern die direkte Vorbedingung und das Vorspiel derselben. Jede hysterische Phobie geht auf eine Kinderangst zurück und setzt sie fort, auch wenn sie einen anderen Inhalt hat und also anders benannt werden muß. Der Unterschied der beiden Affektionen liegt im Mechanismus. Beim Erwachsenen reicht es für die Verwandlung der Libido in Angst nicht mehr hin, daß die Libido als Sehnsucht augenblicklich unverwendbar geworden ist. Er hat es längst erlernt, solche Libido schwebend zu erhalten oder anders zu verwenden. Aber wenn die Libido einer psychischen Regung angehört, welche die Verdrängung erfahren hat, dann sind ähnliche Verhältnisse wiederhergestellt wie beim Kind, das noch keine Scheidung zwischen Bewußtem und Unbewußtem besitzt, und durch die Regression auf die infantile Phobie ist gleichsam der Paß eröffnet, über den sich die Verwandlung der Libido in Angst bequem vollziehen kann. Wir haben ja, wie Sie sich erinnern, viel von der Verdrängung gehandelt, aber dabei immer nur das Schicksal der zu verdrängenden Vorstellung verfolgt, natürlich weil dieses leichter zu erkennen und darzustellen war. Was mit dem Affekt geschieht, der an der verdrängten Vorstellung hing, das haben wir immer beiseite gelassen, und wir erfahren erst jetzt, daß es das nächste Schicksal dieses Affektes ist, in Angst verwandelt zu werden, in welcher Qualität immer er sich sonst bei normalem Ablauf gezeigt hätte. Diese Affektverwandlung ist aber das bei weitem wichtigere Stück des Verdrängungsvorganges. Es ist nicht so leicht davon zu reden, weil wir die Existenz unbewußter Affekte nicht in demselben Sinne behaupten können wie die unbewußter Vorstellungen. Eine Vorstellung bleibt bis auf einen Unterschied dasselbe, ob sie bewußt oder unbewußt ist; wir können angeben, was einer unbewußten Vorstellung entspricht. Ein Affekt aber ist ein Abfuhrvorgang, ganz anders zu beurteilen als eine Vorstellung; was ihm im Unbewußten entspricht, ist ohne tiefergehende Überlegungen und Klärung unserer Voraussetzungen über die psychischen Vorgänge nicht zu sagen. Das können wir hier nicht unternehmen. Wir wollen aber den Eindruck hochhalten, den wir nun gewonnen haben, daß die Angstentwicklung innig an das System des Unbewußten geknüpft ist.

Ich sagte, die Verwandlung in Angst, besser: die Abfuhr in der Form der Angst, sei das nächste Schicksal der von der Verdrängung betroffenen Libido. Ich muß hinzufügen: nicht das einzige oder endgültige. Es sind bei den Neurosen Prozesse im Gange, welche sich bemühen, diese Angstentwicklung zu binden, und denen dies auch auf verschiedenen Wegen gelingt. Bei den Phobien z. B. kann man deutlich zwei Phasen des neurotischen Vorganges unterscheiden. Die erste besorgt die Verdrängung und die Überführung der Libido in Angst, welche an eine äußere Gefahr gebunden wird. Die zweite besteht in dem Aufbau all jener Vorsichten und Sicherungen, durch welche eine Berührung mit dieser wie eine Äußerlichkeit behandelten Gefahr vermieden werden soll. Die Verdrängung entspricht einem Fluchtversuch des Ichs vor der als Gefahr empfundenen Libido. Die Phobie kann man einer Verschanzung gegen die äußere Gefahr vergleichen, die nun die gefürchtete Libido vertritt. Die Schwäche des Verteidigungssystems bei den Phobien liegt natürlich darin, daß die Festung, die sich nach außen hin so verstärkt hat, von innen her angreifbar geblieben ist. Die Projektion der Libidogefahr nach außen kann nie gut gelingen. Bei den anderen Neurosen sind darum andere Systeme der Verteidigung gegen die Möglichkeit der Angstentwicklung im Gebrauch. Das ist ein sehr interessantes Stück der Neurosenpsychologie, leider führt es uns zu weit und setzt gründlichere Spezialkenntnisse voraus. Ich will nur noch eines beifügen. Ich habe Ihnen doch bereits von der „Gegenbesetzung“ gesprochen, die das Ich bei einer Verdrängung aufwendet und dauernd unterhalten muß, damit die Verdrängung Bestand habe. Dieser Gegenbesetzung fällt die Aufgabe zu, die verschiedenen Formen der Verteidigung gegen die Angstentwicklung nach der Verdrängung durchzuführen.

Kehren wir zu den Phobien zurück. Ich darf nun sagen, Sie sehen ein, wie unzureichend es ist, wenn man an ihnen nur den Inhalt erklären will, sich für nichts anderes interessiert, als woher es kommt, daß dies oder jenes Objekt oder eine beliebige Situation zum Gegenstand der Phobie gemacht wird. Der Inhalt einer Phobie hat für diese ungefähr dieselbe Bedeutung wie die manifeste Traumfassade für den Traum. Es ist mit den notwendigen Einschränkungen zuzugeben, daß unter diesen Inhalten der Phobien sich manche befinden, die, wie Stanley Hall hervorhebt, durch phylogenetische Erbschaft zu Angstobjekten geeignet sind. Ja es stimmt dazu, daß viele dieser Angstdinge ihre Verbindung mit der Gefahr nur durch eine symbolische Beziehung herstellen können.

Wir haben uns so überzeugt, welche geradezu zentral zu nennende Stelle das Angstproblem in den Fragen der Neurosenpsychologie einnimmt. Wir haben einen starken Eindruck davon empfangen, wie die Angstentwicklung mit den Schicksalen der Libido und dem System des Unbewußten verknüpft ist. Nur einen Punkt empfanden wir als unverbunden, als eine Lücke in unserer Auffassung, die eine doch schwer bestreitbare Tatsache, daß die Realangst als eine Äußerung der Selbsterhaltungstriebe des Ichs gewertet werden muß.