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Abteilung I.
 
Über die verschiedenen Arten der Philosophie.

 

     Neben dem Vorteile, dass man nach sorgfältiger Untersuchung sich des unsichersten und lästigsten Teiles der Gelehrsamkeit entledigt, gehen aus einer sorgfältigen Untersuchung der Kräfte und Fähigkeiten der menschlichen Natur auch viele positive Vorteile hervor. Die geistigen Tätigkeiten haben das Merkwürdige, dass sie, obgleich am innigsten uns gegenwärtig, doch in Dunkelheit gehüllt scheinen, wenn das Nachdenken sich auf sie richtet. Das Auge kann nicht leicht die Linien und Grenzen erkennen, welche sie sondern und unterscheiden. Diese Gegenstände sind zu fein, um immer denselben Anblick und dieselbe Lage zu bieten; sie müssen augenblicklich erfasst werden, mittelst einer höhern Einsicht, welche Naturgabe ist und durch Übung und Nachdenken sich steigert. Es ist deshalb schon eine beträchtliche Aufgabe der Wissenschaft, die verschiedenen Tätigkeiten der Seele kennen zu lernen, die einen von den andern zu sondern, sie in die passenden Abteilungen zu bringen und die anscheinende Verwirrung zu lösen, in welcher sie sich befinden, wenn sie zum Gegenstande der Untersuchung und des Nachdenkens gemacht werden. Dieses Ordnen und Unterscheiden, was in Bezug auf äußere Dinge und Gegenstände der Sinne kein Verdienst ist, steigt im Werte, wenn es sich auf diese Tätigkeiten der Seele richtet, und zwar im Verhältnis zur Schwierigkeit und Mühe, welche der Ausführung anhaftet. Sollte man auch nicht über diese geistige Geographie und Abgrenzung der verschiedenen Teile und Kräfte der Seele hinauskommen, so gewährt schon dies Genugtuung. Je selbstverständlicher solche Wissenschaft erscheinen mag (aber sie ist es durchaus nicht), desto größere Schande trifft die, welche sie nicht kennen, und doch auf Gelehrsamkeit und Philosophie Anspruch machen.

     Auch bleibt kein Raum für den Vorwurf, dass diese Wissenschaft unsicher und schimärisch sei; man müsste denn an einer Zweifelsucht festhalten, welche alles Nachdenken und selbst alles Handeln zerstört. Man kann nicht bestreiten, dass die Seele mit gewissen Kräften und Fähigkeiten ausgestattet ist; dass diese Kräfte sich von einander unterscheiden; dass das für die unmittelbare Wahrnehmung wirklich Verschiedene durch Nachdenken gesondert werden kann, und dass daher Wahrheit und Irrtum an allen Fragen dieses Gebietes haftet, und zwar eine solche Wahrheit und ein solcher Irrtum, die nicht jenseits des Bereichs des menschlichen Verstandes liegen. Es gibt viele naheliegende Unterscheidungen dieser Art, wie zwischen Wollen und Verstand, Phantasie und Leidenschaften, welche von jedem menschlichen Wesen begriffen werden. Die feinen und philosophischen Unterscheidungen sind nicht weniger wirklich und gewiss, wenn sie auch schwerer zu fassen sind. Einzelne, namentlich neuerliche Erfolge bei diesen Untersuchungen können einen bessern Begriff von der Gewissheit und Festigkeit in diesem Gebiet der Erkenntnis gewähren. Sollte es denn die allein würdige Aufgabe für einen Philosophen sein, das wahre System der Planeten festzustellen und die Ordnung und die Stellung dieser fernen Körper zu ermitteln? Sollte man die Männer nicht beachten, welche mit so viel Erfolg die Gebiete der Seele erforschen, wobei doch Jedermann so innig beteiligt ist?

     Weshalb sollte man nicht hoffen, dass die Philosophie bei sorgfältiger Pflege, und ermutigt durch die öffentliche Aufmerksamkeit, in ihren Untersuchungen immer weiter kommen und endlich gleichsam die verborgenen Springfedern und Kräfte entdecken werde, welche die menschliche Seele in ihrer Tätigkeit stützen und leiten? Die Astronomen hatten sich lange begnügt, aus den sichtbaren Erscheinungen die wahre Bewegung, Ordnung und Größe der Himmelskörper zu beweisen, bis sich endlich ein Philosoph erhob, welcher durch ein glückliches Nachdenken auch die Gesetze und Kräfte bestimmte, durch welche der Lauf der Planeten geleitet und in Ordnung gehalten wird. Das Gleiche ist in andern Gebieten der Natur vollbracht worden. Und man hat keinen Grund, an einen gleichen Erfolg bei den Untersuchungen der Kräfte und der Einrichtung der Seele zu verzweifeln, wenn mit gleicher Fähigkeit und Vorsicht vorgegangen wird. Es ist wahrscheinlich, dass die eine Kraft und der eine Vorgang in der Seele von dem andern abhängt, welche wieder auf allgemeinere zurückgeführt werden können, und vor, ja selbst nach einem sorgfältigen Versuch wird es schwer sein, genau zu bestimmen, wie weit man mit solchen Untersuchungen gelangen könne. Sicherlich werden solche Versuche tagtäglich, selbst von denen gemacht, welche am nachlässigsten philosophieren, und nichts ist notwendiger für den Eintritt in ein solches unternehmen, als die höchste Sorgfalt und Aufmerksamkeit, damit, wenn das Ziel im Bereich des menschlichen Verstandes liegt, es endlich erreicht werde, und wo nicht, mit Zuversicht und Sicherheit aufgegeben werden könne.

     Diese letzte Ansicht ist sicherlich nicht wünschenswert und darf nicht zu voreilig angenommen werden. Denn wie viel müsste von der Schönheit und dem Werte dieser Art der Philosophie nachgelassen werden, wenn man dies zugeben wollte. In der Moral suchte man bisher gegenüber der großen Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der Handlungen, welche Billigung oder Missbilligung hervorrufen, nach irgend einem allgemeinen Grundsatz, von dem dieser Unterschied der Urteile sich ableitete. Und obgleich man aus Liebhaberei für Prinzipien dies oft zu weit getrieben hat, so verdient es doch sicherlich Entschuldigung, wenn gewisse allgemeine Regeln gesucht werden, auf die sich alle Laster und Tugenden mit Grund zurückführen lassen. Ähnliches hat man in der Kunst, in der Logik, in der Staatswissenschaft versucht, und zwar nicht ohne Erfolg, obgleich vielleicht nur längere Zeit, größere Sorgfalt und ausharrenderer Fleiß diese Wissenschaften ihrer Vollkommenheit näher bringen kann. Wollte man mit einem Male all diese Unternehmen zurückstellen, so wäre dies sicherlich voreiliger, unüberlegter und eigenwilliger, als die dreisteste und absprechendste Philosophie, welche je ihre rohen Gebote und Grundsätze den Menschen aufzudringen versucht hat.

     Wenn aber diese Untersuchungen der menschlichen Natur zu hoch und unverständlich erscheinen, so darf man dies doch nicht als einen Grund für ihre Unwahrheit geltend machen. Es scheint vielmehr natürlich, dass das nicht so augenfällig und leicht sein kann, was bisher so vielen weisen und gründlichen Philosophen entschlüpft ist. Trotz aller Mühe, welche diese Untersuchungen uns kosten sollten, werden wir uns sowohl in Bezug auf Nutzen, wie Annehmlichkeit, für hinreichend belohnt halten, wenn wir damit den Vorrat von Kenntnissen über Gegenstände von so unsäglicher Wichtigkeit etwas vermehren könnten.

     Trotz alledem bleibt das tiefere Denken, in welchem solche Untersuchungen sich bewegen, keine Empfehlung, sondern eher ein Nachteil für sie. Vielleicht kann diese Schwierigkeit durch Sorgfalt und Geschick und durch Vermeidung aller überflüssigen Ausführlichkeit überwunden werden. Und so habe ich in der folgenden Untersuchung einiges Licht über Dinge zu verbreiten gesucht, deren Unsicherheit den Weisen, und deren Dunkelheit den Unwissenden bisher zurückgeschreckt hat. Wohl mir, wenn es mir gelingt, die Trennung der beiden Arten zu philosophieren dadurch zu beseitigen, dass ich die Gründlichkeit mit der Klarheit, und die Wahrheit mit der Neuheit versöhne.

     Noch glücklicher würde es mich machen, wenn ich durch solche leichtere Weise der Behandlung die Grundlagen jener dunklen Philosophie erschüttern könnte, welche bisher nur dem Aberglauben als Schutz und dem Unsinn und Irrtum als Deckmantel gedient hat.

 


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Seite zuletzt aktualisiert: 01.10.2004