Abteilung I.
Über die verschiedenen Arten der Philosophie.
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Die Moral-Philosophie oder die Wissenschaft der menschlichen Natur kann auf zwei verschiedene Weisen behandelt werden, von denen jede ihren besonderen Wert hat und zur Unterhaltung, Belehrung und Verbesserung der Menschheit beitragen kann. Nach der einen ist der Mensch zum Handeln geboren und wird in seinen Maßregeln durch Geschmack und Gefühl bestimmt; er verfolgt den einen Gegenstand und vermeidet den anderen nach dem Werte, den diese Gegenstände zu haben scheinen, und nach dem Lichte, in dem sie sich darstellen. Da die Tugend anerkanntermaßen das Wertvollste von Allen ist, so malen die Philosophen dieser Gattung sie in den lieblichsten Farben, entlehnen von der Dicht- und Redekunst deren Mittel und behandeln ihren Gegenstand in jener leichten und fasslichen Weise, welche die Phantasie anregt und das Interesse erweckt. Sie wählen die treffendsten Bemerkungen und Beispiele aus dem täglichen Leben und bringen die unterschiedenen Charaktere in den richtigen Gegensatz. Sie locken durch die Aussichten auf Ruhm und Glück in die Pfade der Tugend und erhalten darin durch gesunde Grundsätze und glänzende Beispiele. Sie lassen den Unterschied zwischen Tugend und Laster fühlen; sie erwecken und regeln die Empfindungen, und indem sie so in dem Herzen die Gesinnung für Rechtschaffenheit und wahre Ehre wach rufen, glauben sie den Endzweck ihrer Anstrengungen ganz erreicht zu haben.
Die Philosophen der zweiten Gattung betrachten den Menschen mehr in dem Lichte eines denkenden als handelnden Wesens; sie suchen mehr seinen Verstand zu bilden, als seine Sitten zu bessern. Die menschliche Natur gilt ihnen als ein Gegenstand philosophischer Prüfung; sie untersuchen sie mit ängstlicher Sorgfalt, um die Grundsätze zu entdecken, welche unsern Verstand leiten, unsere Empfindungen erwecken und uns zum Lob oder Tadel der Dinge, der Handlungen und des Benehmens veranlassen. Sie halten es für eine Schmach der Wissenschaft, dass die Philosophie noch nicht die Grundlagen der Moral, des Denkens und Urteilens unzweifelhaft festgestellt hat; dass sie von Wahrheit und Irrtum, von Tugend und Laster, von Schönheit und Hässlichkeit fortwährend spricht, ohne die Quelle dieser Unterschiede bezeichnen zu können. Sie unternehmen diese schwierige Aufgabe und lassen sich durch keine Hindernisse abschrecken. Von besondern Fällen gehen sie zu allgemeinen Sätzen fort und ruhen nicht, bis sie die obersten Grundsätze erreicht haben, welche in jeder Wissenschaft die Grenze der menschlichen Erkenntnis bilden. Ihre Untersuchungen erscheinen dem gewöhnlichen Leser trocken, ja unverständlich; aber ihr Streben geht auf die Beistimmung der Kenner und Weisen, und sie halten sich für die Anstrengungen eines ganzen Lebens genügend entschädigt, wenn sie einige verborgene Wahrheiten entdecken, welche zur Belehrung der kommenden Geschlechter beitragen.
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