Abteilung II.
Über den Ursprung der Vorstellungen.
Obgleich indes unsere Gedanken diese unbegrenzte Freiheit zu besitzen scheinen, zeigen sie sich doch bei näherer Untersuchung in Wahrheit in sehr enge Grenzen eingeschlossen. All die schöpferische Kraft der Seele ist nichts weiter, als die Fähigkeit, den durch die Sinne und die Erfahrung gewonnenen Stoff zu verbinden, zu umstellen, zu vermehren oder zu vermindern. Wenn wir uns ein goldenes Gebirge vorstellen, so verbinden wir nur zwei bereits vorhandene Vorstellungen, Gold und Gebirge, die uns von früher bekannt sind. Ein tugendhaftes Pferd kann man sich denken, weil man die Tugend aus seinen eigenen Gefühlen kennt; man verbindet sie mit der Gestalt und dem Aussehen eines Pferdes, was ein bekanntes Tier ist. Kurz, aller Stoff des Denkens ist von äußeren oder inneren Wahrnehmungen abgeleitet; nur die Mischung und Verbindung gehört dem Geist und dem Willen; oder, um mich philosophisch auszudrücken, alle unsere Vorstellungen oder früheren Empfindungen sind Nachbilder unserer Eindrücke oder lebhafteren Empfindungen.
Zum Beweise dessen werden hoffentlich die zwei nachstehenden Gründe ausreichen. Erstlich finden wir bei der Trennung unserer Gedanken und Vorstellungen, wenn sie auch noch so verwickelt und erhaben sind, immer, dass sie sich in solche einfache Vorstellungen auflösen, welche das Abbild eines früheren Gefühls oder Empfindens sind. Selbst die Vorstellungen, welche bei dem ersten Blick am weitesten von diesem Ursprung entfernt scheinen, zeigen sich bei näherer Untersuchung als daraus abgeleitet. Die Vorstellung von Gott, welche ein allwissendes, weises und gutes Wesen bezeichnet, bildet sich aus den Vorstellungen von unseren geistigen Tätigkeiten und aus der Steigerung dieser Eigenschaften der Güte und Weisheit ins Grenzenlose. Man mag diese Untersuchung noch so weit fortführen; immer wird man finden, dass jede Vorstellung bei ihrer Prüfung sich als das Abbild einer gleichen Empfindung darstellt. Die Gegner, welche diesen Satz nicht allgemein und ohne Ausnahme zulassen wollen, haben eine, und zwar leichte Art, ihn zu widerlegen; sie mögen eine Vorstellung beibringen, welche nach ihrer Meinung nicht aus dieser Quelle geschöpft ist. Dann wird es mir zur Verteidigung meiner Ansicht obliegen, den Eindruck oder die lebhaftere Erregung darzulegen, welche ihr zu Grunde liegt.
Wenn zweitens ein Mensch wegen eines Fehlers im Organe für eine Art von Empfindung nicht empfänglich ist, so ergibt sich, dass er dann auch ebenso wenig die Vorstellung davon fassen kann. Ein Blinder kann keine Vorstellung von Farben, ein Tauber kann keine von Tönen sich bilden. Wenn Jeder den ihm fehlenden Sinn zurück erhält, so ist mit der Öffnung dieses neuen Kanals für seine Empfindungen auch ein Kanal für seine Vorstellungen eröffnet, und es ist ihm leicht, die betreffenden Bestimmungen sich vorzustellen.
Ebenso verhält es sich, wenn der Gegenstand der Empfindung noch niemals an das Organ gebracht worden ist. Ein Lappländer oder Neger hat keinen Begriff von dem Weingeschmack. Dasselbe gilt, wenn auch in geringerem Grade, wenn Jemand eine seiner Gattung eigentümliche Empfindung oder Leidenschaft nie gefühlt hat oder deren unfähig ist; obgleich solche Fälle geistiger Gebrechen selten oder niemals vorkommen. Ein gutmütiger Mensch kann sich keine Vorstellung von eingewurzelter Grausamkeit und Rache machen, und ein selbstsüchtiges Herz kann sich nicht leicht die höchsten Opfer der Freundschaft und des Edelmuts vorstellen. Man gibt zu, dass andere Wesen Empfindungen von Dingen haben mögen, von denen wir keine Vorstellung haben, weil uns diese nie auf dem Wege zugeführt worden sind, durch den allein eine Vorstellung in die Seele eintreten kann, d.h. durch wirkliches Fühlen und Empfinden.