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Temperament

Temperament (lat. temperamentum = das rechte Maßhalten, von temperare = mäßigen) heißt die bleibende Art oder Disposition des menschlichen Gemüts, Eindrücke der Außenwelt zu erfassen, zu. verarbeiten und zu erwidern. Man zählt gewöhnlich vier Temperamente auf, das sanguinische, cholerische, phlegmatische und melancholische. Die ältere Psychologie nannte Temperament die Gemütsart des Menschen, sofern sie durch körperliche Konstitution und Komplexion bedingt ist. Temperament war für sie also der im Leibe befindliche beharrliche Grund des verschiedenen Grades des Auftretens und der Schnelligkeit der Seelenzustände. Ansätze zur Temperamentslehre, welche Lotze (1817-1881) als ein interessantes Zeugnis von Verknüpfung guter Beobachtung mit unhaltbaren Theorien bezeichnet, finden sich schon bei Empedokles (um 490-430), der für jedes Glied des Körpers eine besondere Mischung der Elementarteilchen annimmt. Platon (427-347) leitet die verschiedenen Arten des Fiebers von der unregelmäßigen Verteilung und Beschaffenheit der Galle ab (Tim. 86). Der Arzt Hippokrates (460-377 v. Chr.) legte der Temperamentslehre vier Hauptsäfte des Leibes zugrunde, worin ihm Galenus (131 bis 200 n. Chr.) beistimmte. Hiernach sollte die gelbe Galle dem Feuer (warm und trocken) entsprechen, die schwarze der Erde (kalt und trocken), der Schleim dem Wasser (kalt und feucht) und das Blut der Luft (warm und feucht), so daß sich aus dem Überwiegen des einen dieser Säfte oder der Mischung von je zweien von ihnen acht Temperamente oder eigentlich Intemperamente (dyskrasiai) ergaben, denen als neuntes das ideale Temperament (eukraton) mit möglichst wenig gelber Galle und sehr vielem Blut gegenübergestellt wurde. Auch bei den Arabern des Mittelalters findet sich dieselbe Einteilung, doch noch um neun Temperamente vermehrt, die sie vom Einfluß der Planeten ableiten. Paracelsus (1493-1641) setzte an die Stelle der Säfte die drei Prinzipiale Salz, Schwefel und Merkur. Haller (1708-1777) leitete die Temperamente aus der Stärke, Reizbarkeit und Empfindlichkeit der Nervenfibern ab. Platner (1744-1818) ging bei der Erklärung der Temperamente von der quantitativen und qualitativen Verschiedenheit der geistigen und tierischen Natur im Menschen aus und stellte zunächst vier Temperamente auf: 1. das attische Temperament, das mehr Geistigkeit als Tierheit besitzt, 2. das lydische, das mehr Tierheit als Geistigkeit enthält, 3. das phrygische, die Kraftlosigkeit der geistigen und tierischen Natur, 4. das römische, die kraftvolle Geistigkeit und Tierheit im Menschen. Dazu zählt Platner noch acht andere Temperamente auf: a) das ätherische, den Hang zu einer Art des Vergnügens, welches bei einer geringen Teilnehmung der Seele und des Körpers Lebhaftigkeit erweckt und zugleich durch Feinheit beschäftigt; b) das böotische, den Hang zu einer Art des Vergnügens, welches bei geringer Teilnehmung der Seele eine starke und grobe Tätigkeit erweckt; c) das feurige Temperament, den Hang zu einer Art des Vergnügens, welches bei geringer Teilnehmung der Seele und des Körpers eine starke und zugleich lebhafte Tätigkeit erweckt; d) das hektische, welches auf gleich schwacher Tätigkeit des Leibes und der Seele beruht und die Unruhe in beiden zu lindern sucht; e) das männliche Temperament, welches bei gleicher Teilnehmung beider Organe starke, aber nicht lebhafte Tätigkeit anwendet; f) das melancholische, welches der Hang zu demjenigen Vergnügen ist, das bei geringer Teilnehmung des Körpers mehr still entzückt als ergötzt; g) das phlegmatische, welches Abwesenheit aller Anstrengungen und Behaglichkeit sucht; h) das sanguinische, das bei weniger Teilnehmung beider Organe eine lebhafte, jedoch nicht angestrengte Tätigkeit will. (Vgl. Aphorismen II, §§ 825-866.) – Heinroth (1773-1843) leitet die Temperamente aus dem Überwiegen einzelner Systeme im Körper ab, des lymphatischen (phlegmatisch), des venös-bilösen (melancholisch) und des arteriellen (sanguinisch). Kant (1724-1804) stellte den Temperamenten des Gefühls die der Tätigkeit gegenüber, da jedes mit Erregbarkeit der Lebenskraft (intensio) oder mit Abspannung (remissio) verbunden sein kann. Jene seien das sanguinische und melancholische, diese das cholerische und phlegmatische. Herbart (1776-1841) sah dieselben als die physiologisch zu erklärenden Dispositionen in Ansehung der Gefühle und Affekte an, wünschte aber, man hätte gar kein Temperament. C. G. Carus (1789-1869) fügte den vier bekannten Temperamenten, die sich auf das Verhältnis von Fühlen und Wollen gründen, noch zwei des Erkennens hinzu: das physische und elementare. Rosenkranz (1806-1879) betrachtete das sanguinische (Gegenwart) als das unterste, das cholerische und melancholische (Zukunft und Vergangenheit) als das mittlere, das phlegmatische als das oberste, da es sich nach allen Seiten hin gleichmäßig aufschließe. Schleiermacher (1768-1843) bezeichnete das sanguinische und melancholische Temperament nach dem Gegensatze der Erregbarkeit und Beharrlichkeit als passive, das cholerische und phlegmatische als aktive Temperamente. Jessen (geb. 1793) stellt zwei Arten auf: das irritable (reizbare) und das phlegmatische (träge), innerhalb deren er vier Unterarten annimmt: das fröhliche (sanguinische), leidende (melancholische), zornige (cholerische) und furchtsame. Oken (1779 bis 1851) parallelisiert das Phlegma mit den Fischen, das sanguinische Temperament mit den Vögeln, das melancholische mit den Amphibien und das cholerische mit den Säugetieren, Lotze (1817-1881), der das melancholische lieber das sentimentale nennt, parallelisiert die Temperamente mit den Altersstufen. Wundt (geb. 1832) leitet die Vierteilung der Temperamente aus den Gegensätzen: Stärke und Schwäche, Schnelligkeit und Langsamkeit des Wechsels der Gefühle ab. Danach gibt es Starke Schwache Schnelle: das cholerische das sanguinische Langsame: das melancholische das phlegmatische Temperament.

Überblickt man diese große Zahl von Einteilungen, so drängt sich die Vermutung auf, daß keine derselben der wirklichen Mannigfaltigkeit des Lebens entspricht. Denn selbst wenn es nur vier Grundarten des Temperaments gäbe, so hat doch kein Mensch ein einfaches, sondern jeder ein durch Vererbung vielfach kompliziertes Temperament. Dazu kommt, daß sich bei den meisten Menschen das Temperament mit der Entwicklung ändert und daß sie für die verschiedenen Vorstellungskreise eine verschiedene Erregbarkeit haben. Daher muß die Temperamentsmischung jedes einzelnen Menschen erst durch Beobachtung festgestellt werden. Vgl. Henle, Anthropologische Vorträge, 1. Heft. Braunschweig 1876. Kant, Anthropologie § 86, S. 255.