Entstehung des Ich
Wir können uns in der Tat nicht nur das Wesen des Ichs, sondern auch seine Entstehung recht gut unter dem Bilde der Verwaltung und der Geschichte eines Einheitsstaates, wie z. B. des französischen, vorstellen. Eine vollständige Trennung in lauter selbständige Atome hat es niemals gegeben, weil dem Staate doch immer der Zusammenhang der Familie vorausging, dem individuellen Ich immer die ererbte Angliederung der Embryozellen an die Keimzelle. Dennoch können wir es uns in unserer Sprache nicht anders vorstellen, als daß im neugeborenen Kinde der äußerste Grad von Dezentralisation herrsche, weil ja zwischen den Gliedmaßen, die sich reflektorisch bewegen, und dem nur gewissermaßen im Groben fertigen Kindergehirn so wenig ein Depeschenaustausch stattfindet, wie spater (unbildlich gesprochen) beim Erwachsenen zwischen dem Zentrum des Bewußtseins und den Nerven der Herzmuskeln. Die Entwicklung des Ichgefühls bildet, wie mir scheint, eine beachtenswerte Parallele zu den angeborenen, den instinktiven Fertigkeiten der Tiere und der langsam erworbenen Vernunft oder Sprache des Kindes. Wir können uns sehr gut vorstellen, daß in einem Bienenstock das Ich bei der Königin allein vorhanden sei (irrtümlich), sogar daß die einzelnen Arbeiterinnen und Drohnen in der Königin ihr Ich, ihre Seele erblicken; und daß die Verbindung zwischen der Königin und den differenzierten Bienen ihres Stockes angeboren sei; im Menschenkinde ist nur die Tendenz angeboren, sich eine Zentralstelle zu schaffen für alle einzelnen Teile. Das Ichgefühl ist der Instinkt, die Einheit des Körpers zu erwerben, die Herrschaft über den Körper zu erobern. Wie aber der absolute Monarch nicht unaufhörlich regiert, wie er für gewöhnlich seinen persönlichen Bedürfnissen nachgeht und an das Ganze nicht denkt, wie er gleich einem eingeübten Kutscher nur in Augenblicken der Gefahr die Zügel fest in die Hand nimmt, so ist auch das regierende Ich viel seltener bei Bewußtsein, als man glaubt. Das Ichgefühl wird nicht nur täglich auf viele Stunden durch den Schlaf unterbrochen, sondern es ist auch sonst immer latent, wenn die Aufmerksamkeit nicht durch irgend eine Gefahr auf die Einheit des Ganzen gelenkt wird. Ich verstehe unter Gefahr alles, was irgendwie, wenn auch noch so leise, die einheitlichen Interessen verletzen könnte. Der gemeinsam empfundene Schmerz aller Körperteile hat das Ichgefühl hervorgerufen; jede Drohung eines Schmerzes weckt dann das Ich wieder auf, für welches der bewußtlose Schlaf der natürliche Zustand ist.