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Ichgefühl eine Täuschung

Der sprachliche Ausdruck, daß das Individuum sein Ich langsam durch Erfahrung erst erobere, führt aber wieder einmal zu einem unvorstellbaren Begriff. Denn Individuum und Ich sind ein und dasselbe. Es wäre sinnlos, zu sagen: das Individuum erobert sich seine Individualität. Hier aber verläßt uns mit dem Worte auch der Gedanke. Nehmen wir nicht mit der alten Psychologie in jedem Menschen eine einheitliche Zentralseele an, die den Körper beherrscht, — und diese Annahme enthält für uns ganz theologische, unkontrollierbare, unbewiesene und unfaßbare Begriffe — so müssen wir mit der Möglichkeit rechnen, daß auch das Ichgefühl nur eine Täuschung sei, in uns entstanden als Reflex irgend einer uns gänzlich unbekannten Lebenseinheit, wie unsere Gesichtsund Gehörseindrücke, kurz alle Sinneseindrücke, am Ende aller Enden nur normale Sinnestäuschungen sind, Reflexe von irgend welchen Tatsachen, die wir heute als Bewegungen erklären. (Vergl. S. 339 f.) Meister Eckhart hat es längst gelehrt: die Seele weiß sich selber nicht. Und frei von jeder Mystik hat uns Mach (Anal. d. Empf.) gelehrt: die Beständigkeit des Ich bestehe nur in der Kontinuität, das Ich sei eine denk-ökonomische Einheit, habe nur praktische Bedeutung, sei nicht das Primäre. Ich verzichte auf die Sprache der Mystik und des Materialismus, sehe diesem Problem starr ins Gesicht und erblicke die Möglichkeit, die subjektive Gewißheit: das Ichgefühl ist eine Täuschung, ist die Täuschung der Täuschungen1.

Ist aber das Ichgefühl, ist die Individualität eine Lebenstäuschung, dann bebt der Boden, auf welchem wir stehen, und die letzte Hoffnung auf eine Spur von Welterkenntnis bricht zusammen. Was wir irgend von der Welt wissen können, war uns zu einer übersichtlichen Summe der vom Individuum ererbten und erworbenen Erfahrungen zusammengeschmolzen; unsere Kenntnis von der objektiven Welt war zu einem subjektiven Bilde unserer Zufallssinne geworden. Jetzt schwindet auch das Subjekt, es versinkt hinter dem Objekt, und wir sehen keinen Unterschied mehr zwischen dem philosophischen Streben menschlicher Jahrtausende und dem Traumdasein einer Amöbe. Auch der Begriff der Individualität ist zu einer sprachlichen Abstraktion ohne vorstellbaren Inhalt geworden.

Wir werden mit unserer armen Menschensprache die Frage der Individualität nicht lösen. Und die Natur wird uns nicht zu Hilfe kommen, auch nicht mit dein Experimente, an das Diderot (in seinem Briefe Sur les sourds et muets) halb scherzhaft gedacht hat. "Un monstre à deux têtes, emmanchées sur un même col, nous apprendrait peut-être quelque nouvelle. Il faut donc attendre que la nature qui combine tout, et qui amène avec les siècles les phénomènes les plus extraordinaires, nous donne un dicéphale qui se contemple lui-même, et dont une des têtes fasse des observations sur l'autre." Beinahe 150 Jahre vor G. Born.


  1. Ich habe schon S. 653 darauf hingewiesen, wie der scheinbare Widerspruch (in der Lehre: daß die Erinnerung allein das principium individuationis sei) gelöst werden könne durch die Erfahrung, daß Gesamtindividuen wie Staaten und Völker, Familien und Regimenter ihre gemeinsame Erinnerung, also ein Ichgefühl besitzen. Nun möchte ich es wagen, das Ichgefühl des menschlichen Individuums noch näher mit dem offenbaren Ichgefühl der Bienen- und Ameisenstaaten zu vergleichen. Wir sehen, daß die einzelne Biene oder Ameise sich weit stärker von den Zwecken ihres Staates leiten läßt als von egozentrischen Gefühlen; das Ichgefühl des "Regiments" scheint lebhafter als das des einzelnen Tierchens. Der Bienenschwarm, der Ameisenstaat (Menschen nennen ihn einen "Haufen") ist das Individuum. Wäre es nun undenkbar, daß auch der Mensch ein solches Gesamtindividuum wäre? Ein Zellenstaat, nicht nur im metaphorischen Sinne dieses bekannten Ausdrucks? Daß die unzähligen Blutkörperchen sich den Menschenleib bauen, wie die Bienen ihren Stock? Ich sehe deutlich die Gegeninstanzen, die Unähnlichkeiten: Daß nämlich die Bildungen des menschlichen Baues organisch bleiben. Die Bildungen des Bienenstocks sind mechanisch. Der Bienenstock hat kein Herz. Aber ich sehe auch die Ähnlichkeiten: Entstehen und Vergehen der Blutkörperchen, ihre kurze Lebensdauer von 3—4 Wochen, ihre individuellen amöboiden Bewegungen, ihre verschiedenen Arten (darunter die Phagozyten), endlich die Möglichkeit der Transfusion. (Vergl. Landois: 1. Physiol. 11. Aufl., 1905, S. 188 f., 2. Art. .Transfusion" in Eulenburgs Realenzyklopädie, wo die Lehre "die Seele wohnt im Blute" weit zurück verfolgt wird.) Ich sehe, wie bei einer Verwundung oder sonstigen Schädigung zahllose Blutkörperchen mit Selbstaufopferung herbeistürzen, den verletzten Bau auszubessern, — ganz so wie Ameisen zerstörte Teile ihres Baues ausbessern. Ich weiß, daß diese Vergleichung eben nur den Wert eines bildlichen Gesichtspunktes hat. Le moi c'est l'état. — Ganz anders als Transfusion lehrt auch Transplantation die Unbestimmtheit des Individualbegriffs. W. Roux kam schon 1895 (Ges. Abhandl. L 404) zu dem Satze: "Es gibt keine Individuen im strikten Sinne." Und in der Schule der Entwicklungsinechanik ist es G. Born gelungen, zwei (auch drei) Froschlarven lebensfähig zu komponieren, physiologisch und zentral. "Unum vivum ex duobus ovis." (Archiv f. Entwicklungsmech. IV. 610.)