"Ich"
Das Wort Selbstbewußtsein ist einmal vorhanden. An dieser Tatsache wird dadurch nichts geändert, daß wir wissen, es sei ein neues Wort und nicht so sehr durch Übersetzung als durch Nachbildung von einer Sprache in die andere übergegangen. Selbstbewußtsein, conscientia, ist vor allem wohl zu unterscheiden von der Aufgabe der Selbsterkenntnis, an der sich schon die Griechen mühten. Selbsterkenntnis ist eine ethische Aufgabe, Selbstbewußtsein ist ein erkenntnistheoretisches Problem. Da helfen uns die Wortfolgen von Aristoteles, Augustinus und Thomas nicht. Auch nicht Spinozas Einschränkung: "Mens se ipsam non cognoscit, nisi quatenus corporis affectionum ideas percipit". (Eth. II, pr. 23.) Wie immer in solchen Fällen wollen wir versuchen, das Wort dadurch besser zu verstehen, daß wir fragen, nicht wie es in Lehrbüchern der Philosophie definiert werde, sondern was wirklich redende Menschen damit bezeichnen wollen.
Wenn wir nun von dem Worte Selbstbewußtsein die ethischen Nebenbegriffe entfernen, die die Sprachgeschichte höchst interessanter weise daran geknüpft hat, so bleibt ihm kein anderer Inhalt als der des sogenannten Ichgefühls. Ob wir sagen, ein Mensch sei aus einer Ohnmacht wieder zum Bewußtsein gekommen oder ein Kind habe das Bewußtsein seiner selbst erlangt, immer meinen wir, der Mensch oder das Kind fühle sein Ich. Dieses abstrakte, großgeschriebene Ich ist aber, wenn man die Flunkereien vom absoluten Ich auf sich beruhen läßt, nur ein zusammenfassender Ausdruck, und ein recht unglücklicher Ausdruck für die menschlichen Individuen, insofern jedes von ihnen ein empirisches Ich ist, d. h. stetige Erinnerungen an die eigenen Erfahrungen besitzt.
Dieses empirische Ich wieder ist ein bloßes Wort, durch welches nicht mehr und nicht weniger als die Einheit des individuellen Gedächtnisses bezeichnet wird. Wenn wir mit einem Hauptpunkte dieser Untersuchung recht haben, wenn ein menschliches Denken ohne Sprechen nicht möglich ist, dann stehen wir nun vor der überraschenden Beobachtung, daß diese Einheit des individuellen Gedächtnisses, d. h. die einheitliche Beziehung aller Sinneseindrücke auf unseren eigenen Leib, früher da ist als sein sprachlicher Ausdruck, daß alle Kinder ihr Ich früher fühlen, als sie Ich sagen können, früher, als sie (was auf dasselbe hinausläuft) von sich selbst mit ihrem Eigennamen reden. Das Ich ist überall nur der selbstverständliche und darum überflüssige Ausdruck für das individuelle Interesse. Es liegt jedem Urteil, das jemals ausgesprochen wurde, zu Grunde. So wie das Kind, wenn es zum erstenmal "trinken" sagen kann, gar nicht über sich hinausdenkt und "ich will trinken" meint, so liegt auch in dem Urteil "der Himmel ist blau" unweigerlich der Gedanke: "ich sehe den Himmel blau". Wenn man einem solchen Urteile allgemeine objektive Wahrheit zuspricht, so will das nur sagen, daß es Sinneseindrücke gibt, die den Menschen gemeinsam sind, und für die sie deshalb ein gemeinsames Wort benutzen. Als die Menschheit in Urzeit das Wort "ich" erfand, fand sie nichts Neues; viel kühner und wichtiger war der Schritt zum "du". Die Philosophie des prachtvollen, tapferen Fichte, — der zum großen Führer der Deutschen geboren war, aber nicht zum Vollender Kants, — die Wissenschaftslehre, die im Ich das Prinzip nicht nur alles Denkens, sondern auch alles Seins erblickt und diesem Ich darum nur ein völlig leeres Du oder Nichtich gegenüberstellen kann, trägt zur Welterkenntnis nur eine monströse Banalität bei. Sie hat ihr System aus einem der unwesentlichsten Worte der Sprache herausdestilliert und mußte darum wesenlos werden. Nicht ohne Ironie kann man daneben betrachten, wie das Wörtchen "ich", welches in den alten Sprachen noch selten und naiv gebraucht wurde, in modernen Sprachen durch den banalsten Gebrauch vor jeder ersten Person des Zeitwortes so ganz tonlos und gleichgültig geworden ist. Die alten Sprachen kannten nur ein Wort, das dem französischen "moi" entsprach; sie hatten kein Wort für "je". In ähnlicher Weise sind in den modernen Sprachen bedeutungsvolle Worte zu tonlosen Artikeln heruntergesunken; und Fichte hätte sein System ebenso gut auf den Gegensatz des Artikels und des Nichtartikels, des "der" und des "nicht-der" begründen können.
Die Grundbedeutung von "ich" haben die Etymologen nicht erforscht. Wenn eine sicherlich gewagte Hypothese richtig wäre, daß nämlich das Wort "ich" irgend einmal mit dem Zahlwort eins (Sanskrit êka) identisch war wie das Pronomen du mit dem Zahlwort zwei (duo), so hätte das Zahlwort eins allerdings sich im Laufe unabmeßbarer Zeiten in zwei auseinandergehenden Richtungen fortbewegt. Es wäre dann in unserem tonlosen, alltäglichen "ich" zu dem allgemeinsten Ausdruck für die Einheit aller individuellen Interessen und Beziehungen geworden, das allgemeinste Wort für die Selbstverständlichkeit, daß wir von der Welt nur wissen, was uns selbst etwas angeht; es wäre in dem unbestimmten Artikel "ein" zugleich der allgemeinste Ausdruck geworden für diejenigen Individuen außer uns, von denen wir sagen wollen, daß sie uns persönlich nichts angehen. Daß meine Hypothese, ego und êka in Zusammenhang zu bringen, unbeweisbar und darum gewagt ist, das weiß ich; nicht aber wegen der Schwierigkeiten ist sie abzuweisen, die ihr die Lautgesetze bereiten. Sie bereiten der wissenschaftlich zugelassenen "Verwandtschaft" aham — ego — ich ebenso große Schwierigkeiten.
Von dem langen Wege, auf welchem die Menschen zu einem sprachlichen Ausdruck für ihr sogenanntes Selbstbewußtseil) gelangten, kann uns die Vergleichung mit der Kindersprache einige Vorstellung geben.