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Gefühle

Das Wort Empfindung hat eine lustige Geschichte hinter sich. Vor hundert Jahren bezeichnete es irgend etwas sehr Hohes, wonach der Wert des Menschen gemessen wurde; man mußte ein Mensch von Empfindung sein, ein sentimentaler Mensch, wollte man nicht hinter seiner Zeit zurückbleiben. Heute wird das Wort "sentimental" in ähnlichem Sinne augewandt, um etwas Minderwertiges anzuzeigen.

Der wissenschaftliche Sprachgebrauch in Deutschland unterscheidet erst seit Kant, oder etwa seit Tetens, zwischen Empfindungen und Gefühlen. Unter Empfindungen will man verstehen: die durch einen Reiz hervorgerufenen, nach Qualitäten und Stärkegraden geschiedenen — ja was? welches Substantiv nehmen wir für die Definition? — also: Bewußtseinsinhalte. Ein noch genauerer Sprachgebrauch beschränkt das Wort Empfindungen auf die einfachen und einfachsten "Bewußtseinsinhalte". Unter Gefühl versteht man dann gern den Nebenton von Lust oder Unlust, der — wie sich immer klarer herausstellt — mit jeder Lebensäußerung des Menschen also auch mit jeder Empfindung verbunden ist. Alle diese Begriffe sind noch heute schwankend, wie jeder Übersetzungsversuch in eine der Sprachen lehren kann, die als Kultursprachen ebenfalls eine psychologische Wissenschaft besitzen. Wirklich fast jede Sprache hat ihre eigene Psychologie, was ein wenig mißtrauisch machen könnte gegen die Allgemeingültigkeit psychologischer Gesetze.

Nach diesem jetzt in Deutschland üblichen Sprachgebrauche der Psychologie liegt es nahe, in den Gefühlen (wie eben an der zweiten Stelle der Bedeutungsschwankungen geschehen) die subjektive, in den Empfindungen die objektive Abteilung unseres Bewußtseins zu erblicken. Und doch ist der krasse Materialismus des Altertums, der die Empfindungen in der Seele durch materielle Teilchen der Außenwelt oder durch ihre Bilderchen entstehen ließ, durch den verfeinerten Materialismus so weit überwunden worden, daß keine Erkenntnistheorie mehr das subjektive Element auch der Empfindungen übersehen kann. Hat doch schon vor sechshundert Jahren der tapfere Nominalist Occam die Subjektivität aller Sensationen (worunter er wahrscheinlich Empfindungen und Gefühle verstand) ausgesprochen: "Sensationes sunt subjektive in anima sensitiva." Ich weiß wohl, daß der Begriff "subjektiv" wiederum für jene Zeit recht ungenau war. Aber in diesem Zusammenhange ist ein Mißverständnis unmöglich. Und wenn Occam seiner Erklärung noch die Worte anfügt "mediate vel immediate", so trifft er unsere Meinung noch besser. Alle Daten unserer Gefühle, insbesondere alle Gefühlstöne aller Empfindungen sind unmittelbar subjektiv; aber auch unsere Empfindungen, aus denen wir ein objektives Weltbild aufzubauen glauben, wie sich die wirkliche Wirklichkeitswelt aus noch objektiveren Atomen oder Energien, den ganz handgreiflichen und darum eben ganz unfaßbaren Dingen-an-sich, aufgebaut haben soll, — alle unsere Empfindungen von Farben, Tönen, Gewichten, Gerüchen u. s. w. sind mittelbar subjektiv, weil sie Mitteilungen unserer Zufallssinne sind, Mitteilungen also von Werkzeugen, die sich für die Not der Organismen, im Interesse der Organismen entwickelt haben.

Die Subjektivität unseres Weltbildes entsteht nun notwendig dadurch, daß einerseits die Empfindungen schon den subjektiven Zufallssinnen entstammen, anderseits die anerkannt subjektiven Gefühlstöne der Empfindungen sich an den Wahrnehmungen, Vorstellungen oder Erinnerungen erhalten und so bei allen Assoziationen mitklingen, aus denen sich unser Denken oder Sprechen zusammensetzt. Ich muß nur wieder einmal beklagen, daß mir für diesen Gedanken ein fester Sprachgebrauch der Worte nicht zur Verfügung steht. Denn ich kann nicht leugnen, daß die subjektiven Qualitäten und Stärkegrade der Empfindungen den Menschen im ganzen und großen gemeinsam sind, daß "der" Mensch das Maß aller Dinge ist, weil unsere Zufallssinne sich durch Vererbung mitgeteilt haben, und daß diese Gemeinsamkeit in einem gewissen Sinne wieder Objektivität heißt. Gemeinsam im großen und ganzen sind aber den Menschen auch die subjektiven Gefühlstöne der Empfindungen; und so läßt uns die Sprache immer im Stich, wenn wir nicht durch Bildung einer eigenen Sprache auf jede Verständigung verzichten wollen.

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