Zum Hauptinhalt springen

Ignorabismus

Das unglückliche Wort Du Bois-Reymonds mag dadurch entstanden sein, daß der deutsche Redner eine ruhigere und bescheidenere Äußerung Tyndalls in seiner bombastischen Weise übertrumpfen wollte. Tyndall hat (am 19. August 1868) über Ziel und Grenze des wissenschaftlichen Materialismus gesprochen und gesagt, es entspreche einem bestimmten Bewußtseinszustande gewiß ein bestimmter physikalischer Zustand des Gehirns, diese Bemerkung sei aber weniger eine logische Schlußfolgerung als vielmehr eine empirische Assoziation. Man dürfe Gehirn und Bewußtsein nicht vergleichen, etwa mit dem Verhältnisse zwischen einem elektrischen Strom und der durch ihn bewirkten Ablenkung der Magnetnadel. Den Übergang vom elektrischen Strome zur Magnetnadel könne man sich vorstellen, den Übergang von der Molekularbewegung des Gehirns zum Bewußtsein könne man sich nicht vorstellen. "Der Übergang von der Mechanik des Gehirns zu der entsprechenden Tatsache des Bewußtseins ist undenkbar. Zugegeben, daß ein bestimmter Gedanke und ein bestimmter molekularer Vorgang gleichzeitig im Gehirn stattfinden, so besitzen wir doch nicht das geistige Organ, und anscheinend auch nicht einmal die Anlage zu einem solchen, welches uns befähigte, durch irgend einen Denkprozeß vom einen zum anderen überzugehen. Sie treten zusammen auf, allein wir wissen nicht warum. Wären unsere Seele und unsere Sinne so entwickelt, gekräftigt und erleuchtet, daß wir die Molekeln des Gehirns selbst sehen und fühlen könnten; wären wir fähig, allen ihren Bewegungen, ihrer Gruppierung und ihren elektrischen Entladungen, falls es solche hierbei gibt, zu folgen; und wären wir auf das genaueste bekannt mit dem entsprechenden Zustand von Gedanken und Gefühlen, so wären wir doch so weit entfernt, als je von der Lösung des Rätsels."

Du Bois-Reymond hat in seinem Vortrage "Über die Grenzen des Naturerkennens" (14. August 1872) diesen bescheidenen Verzicht ohne Bescheidung rhetorisch formuliert. Wortabergläubischer als die meisten Physiologen von geringerem Rufe unterscheidet er prinzipiell zwischen Lebenserscheinungen und Bewußtseinserscheinungen. Das Leben sei materialistisch erklärbar, wenn nicht jetzt, so doch in Zukunft. "Der traumlos Schlafende ist begreiflich, soweit wie die Welt, ehe es Bewußtsein gab." Außer den Rätseln, welche am entgegengesetzten Ende das Wesen von Materie und Kraft umhüllen, sei das Bewußtsein allein unbegreiflich. Gegen den Schluß seines Vertrags erwähnt er zwar Fechners Panpsychismus; aber er hat zu der vierten Möglichkeit in der Aufgabe des Uhrengleichnisses kein rechtes Verhältnis. Das Leben ist ihm eine wohlbekannte Erscheinung, das dereinst noch alle seine Geheimnisse sich wird abfragen lassen; das Bewußtsein wird sich unserer Erkenntnis immer entziehen. Das gute Leben! Das böse Bewußtsein! Du Bois-Reymond begnügt sich nicht einmal mit der Behauptung "das werden wir niemals wissen"; er faßt den Gedanken so monumental wie möglich in das eine lateinische Wort: Ignorabimus.

An diesem Worte verrät sich so deutlich, wie weit entfernt unsere Gelehrten von der schreiend notwendigen, erkenntnistheoretischen und sprachkritischen Einsicht sind, daß ich der Verführung nicht widerstehen kann, mit einer kleinen Untersuchung über das "Wissen" scheinbar abzuschweifen. Ich möchte dadurch zu einer, wie ich glaube, fast heiteren Analyse des Wortes "Ignorabimus" gelangen, muß aber dafür Anschauungen berühren, deren Prinzipien erst in den sprachwissenschaftlichen und grammatischen Teilen dieses Werkes gegeben werden können.