"scheinen"
In einem Werke von Regnaud (Origine et Philosophie du Langage, S. 191 u. s. w.) finden wir auf beinahe zwanzig Seiten eine kurze und sehr erweiterungsfähige Zusammenstellung der Bedeutungswandlungen, welche die — wie man zu sagen pflegt — synonymen Ausdrücke für "scheinen", "glänzen" nach verschiedenen Richtungen hin genommen haben. Wir finden da in einer Unterabteilung nicht weniger als fünf sogenannte Wurzeln, welche von der Bedeutung des Leuchtens, Scheinens, Brennens zu der Bedeutung des Sehens oder Erkenn ens führen. Die Richtigkeit dieser Sprachforschungen vorausgesetzt, entstehen da die Worte aisothanomai und scire so, daß ihr alter Stamm das aktive Brennen bedeutete, daß aus diesen aktiven Verben die des Scheinens entstanden; das beobachtende Subjekt, das von den leuchtenden Gegenständen beschienen wurde, konnte sie dann sehen, konnte erkennen, konnte "wissen", was es gesehen hatte. Das deutsche Wort "scheinen" (im Sinne von glänzen) scheint einen ähnlichen Zusammenhang zu haben. Man bringt es wenigstens mit Sanskrit- und Zendworten zusammen, welche in den germanischen Sprachen zu schön (ansehnlich, glänzend, englisch: sheen) und scheinen, im Griechischen und Lateinischen zu gignôskô, nosco führten; "novi", die Perfektform von noscere (gnoscere) entspricht in Form und Bedeutung genau unserem "ich weiß". In diese Gruppe von Bedeutungswandlungen gehört offenbar der sogenannte Stamm vid, welcher uns in einigen Sprachen als "sehen" begrüßt, welcher sich so vielfach zum "gesehen haben" oder "wissen" entwickelt hat, und welcher in alter Zeit zugleich das aktive Scheinen der leuchtenden Körper und das passive Beschienenwerden der sehenden Subjekte umfaßt zu haben scheint. Schwer zu verfolgende Fäden mögen von diesen Stämmen sogar zu unseren Ausdrücken für sprechen herüberführen, wenn wir unser "sagen" mit dem Sanskritworte in Verbindung bringen dürfen, das in verschiedenen Ableitungen sowohl scheinen, als sehen, als sagen bedeuten kann. Der gemeinsame Mittelbegriff wäre da überall "Zeichen".
Halten wir also einstweilen fest, daß mit großer Wahrscheinlichkeit unser "wissen" auch sprachlich ein Gesehenhaben ist, und daß vielleicht das "Sehen" auch sprachlich ein Beschienenwerden ist. Alle Rätsel unserer Erkenntnistheorie werden da auf einmal durch die Geschichte eines Wortes angeregt, die uns doch von ganz unbefangenen, einer philosophischen Deutung fremden Forschern geboten worden ist. Die Leser des zweiten Bandes werden erfahren, daß ich den Lieblingsideen der vergleichenden Sprachwissenschaft skeptisch gegenüberstehe, daß ich die Begriffe der Sprachverwandtschaft, der Wurzeln, der indogermanischen Ursprache für chimärisch halte. Daß ich der Etymologie nicht über den streng historischen Weg traue. Solche Untersuchungen, wie über die Gruppe "wissen", wären trotzdem nicht wertlos, wenn sie nur Möglichkeiten böten. Wo aber die Proportion "ich weiß — ich habe gesehen" zweifellos ist, wo weiter die Umwandlung von "scheinen" su "sehen" wahrscheinlich ist, da darf die Erkenntnistheorie bei der Sprachgeschichte in die Schule gehen.
Wir sind also, wieder ganz unbefangen und absichtslos, bei Aktivum und Passivum angelangt, also bei Beziehungsformen des Verbums, die jeder Schuljunge lernt, trotzdem sie in unseren modernen Sprachen eigentlich gar nicht existieren und wir für diese Beziehungen trotz tausendjähriger Arbeit der Grammatiker keine rechte Begriffsbezeichnung haben. Wir haben aus der lateinischen Grammatik wohl die Ausdrücke Aktivum und Passivum übernommen, besitzen aber, wenn wir ehrlich sein wollen, für diese beiden Dinge keinen oberen Begriff. Die gelehrte Grammatik bringt das Aktivum und Passivum unter dem "Genus" des Verbums unter; die Franzosen sagen dafür voix; weder Deutsche noch Franzosen können sich etwas dabei denken.