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aufmerken

ist ein Begriff, mit dem die Psychologie immerhin etwas mehr anzufangen weiß als mit der substantivischen, also personifizierten Aufmerksamkeit. Wobei ich nur schwer meine alte Klage unterdrücken kann, daß es um die Sprache der Psychologie fast noch schlimmer bestellt ist als um andere wissenschaftliche Terminologien, daß ganz besonders in der Psychologie die Sprache zugleich Objekt und Werkzeug der Forschung ist, daß eine saubere Sprache in der Psychologie nicht möglich ist, wenn nicht eine reinigende Psychologie und Kritik der Sprache vorausgegangen ist.

Ich verweise zunächst auf das Kapitel Aufmerksamkeit und Gedächtnis in meiner Kr. d. Spr. (I, 541 f.); noch schärfer als dort möchte ich das Abstractum Aufmerksamkeit eliminieren und das Verbum aufmerken allein betrachten. An dem Substantiv Aufmerksamkeit mußten alle Definitionsversuche scheitern, weil niemand zu sagen vermochte, ob es ein Zustand oder eine Tätigkeit, ein Gefühl oder eine Leistung sei; weil nicht einmal der Oberbegriff feststand, unter dem man etwa diese Tätigkeit hätte einordnen können. Der Lehrer, der dem Schüler eine Zensur über den Grad seiner gewohnten Aufmerksamkeit erteilt, hat natürlich von diesen Schwierigkeiten keine Ahnung; der Lehrer weiß nicht, daß Aufmerksamkeit und Zerstreutheit die subjektive und die objektive Seite des gleichen Zustandes sind, daß man aus lauter Aufmerksamkeit für seine besonderen Interessen zerstreut sein kann für die allgemeinen Schulinteressen, daß Talent Aufmerksamkeit ist, aber nicht immer Aufmerksamkeit für die geforderten Interessen. Und fast ebenso, wie es dem Lehrer erging, wenn er leichtfertig die Zensur Aufmerksamkeit ausfüllte (wie es in meiner Jugend üblich war), so geht es auch den Psychologen, wenn sie das Vermögen Aufmerksamkeit in passive und aktive, in subjektive und objektive Aufmerksamkeit zerlegen wollen. Es gibt in der Wirklichkeitswelt keine Seele, und schon darum allein kann es keine Seelenvermögen geben; es gibt in der Wirklichkeitswelt überhaupt keine -heiten und -keiten, auch keine Aufmerksamkeit. Es gibt in der psychologischen Wirklichkeit nur eine besondere Arbeitsleistung, die wir nach mangelhafter Selbstbeobachtung aufmerken nennen; das ganz unklare Gefühl, das diese Arbeit zu begleiten pflegt, wird gewöhnlich unter dem Substantiv Aufmerksamkeit verstanden; wenn dieses Gefühl ausbleibt und wir dennoch aus den Folgen darauf schließen, daß wir aufgemerkt haben, daß wir ohne Aufmerksamkeit aufmerksam gewesen sind, dann redet die Wissenschaft von passiver Aufmerksamkeit.

Aufmerken ist so gewiß eine Arbeitsleistung, wie Sicherinnern eine ist; beide Tätigkeiten sind wirklich, insofern Verben überhaupt wirklich sind. Die begriffliche Schwierigkeit besteht nur darin, die Beziehungen aufzuhellen, die zwischen dem Aufmerken und dem Gedächtnisse, dem Willen und dem sogenannten Bewußtsein bestehen. Das Bewußtsein wird von der wissenschaftlichen wie von der populären Psychologie erst hinterher in die Arbeit des Aufmerkens hineingelegt wie in das Gefühl des Wollens; die Menschen haben seit Urzeiten aufgemerkt und gewollt, ohne jemals den spätgeprägten Scheinbegriff Bewußtsein nötig gehabt zu haben. Nicht so schlimm steht es um den Willensbegriff, wenn man nur den sogenannten freien Willen beiseite läßt. Aufmerken und Wollen sind Begleiterscheinungen von Arbeitsleistungen, wirkliche, schlecht zu beobachtende Empfindungen, die sehr leicht ineinander übergehen. Ich möchte eine früher gegebene physiologische Definition etwas verbessern: wenn ein Gegenstand der Umwelt mein Interesse erregt hat, so kann sich meine Arbeitsleistung darauf beschränken, ihn zu apperzipieren, ihn zu begreifen, oder ich kann den Willen empfinden, ihn zu ergreifen. Man denke z. B. daran, wie die Muskeln und Nerven des Sehapparates fein zusammenarbeiten müssen, damit das Kind einen Schmetterling auf den Fleck des deutlichsten Sehens bringen, ihn genau wahrnehmen, ihn als die gesuchte seltene Species erkennen, ihn begreifen könne; wie nachher die Muskeln und Nerven der Beine und Arme arbeiten müssen, will das Kind den Schmetterling als Beute ergreifen. Unser Aufmerken geht also auf die Gegenwart, Wollen auf die Zukunft; da aber auch das Aufmerken ebenfalls eine Tätigkeit ist, so werde ich dennoch sagen dürfen, daß die Anpassungsarbeit unseres Gedächtnisses in beiden Fällen mit einer Empfindung beginnt, welche wir Willen nennen, wenn diese Arbeit größere Muskelgruppen bewegen wird, die wir Aufmerksamkeit nennen, wenn diese Arbeit entweder nur kleinere Muskelgruppen bewegt oder gar nur vasomotorisch, vielleicht nur in den Nerven tätig ist. Unbewußt, wenn es nur eine unbewußte Aufmerksamkeit gäbe. Es läge nahe, aufmerken und wollen nach der bekannten Scheidung in sensorische und motorische Nerven zu trennen; aufmerken wäre dann die Überwindung des toten Punktes bei der Arbeitsleistung in den sensorischen Nervenbahnen, wollen wäre die Überwindung des toten Punktes in den motorischen Nervenbahnen. Ich bin auch mit dieser Erklärung nicht zufrieden; denn die Natur spottet der begrifflichen Scheidung; der Wille kann die Aufmerksamkeit steigern und die Aufmerksamkeit (auf die Moral, auf das Strafgesetz) kann den Willen beeinflussen.

Für die Beziehungen zwischen aufmerken und apperzipieren vergleiche man noch den Artikel Apperzeption, für die Beziehungen zwischen Aufmerksamkeit und Gedächtnis den Artikel Gedächtnis. Hier nur noch die sprachliche Notiz, daß in den romanischen Sprachen diese letzte Beziehung durch die Ähnlichkeit der Worte attentio und intentio sich verrät; im deutschen findet sich etwas Ähnliches in der Gemeinsprache: merken heißt so viel wie: eben fühlbar apperzipieren, aber auch: dem Gedächtnisse einverleiben.