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Axiome

– (dignitates) heißen in der Logik diejenigen wahren Urteile, die nach der allgemeinen Meinung, also ohne Berufung auf ein logisches Axiom, keines Beweises bedürfen, oder die allgemein für wahr gehalten werden, trotzdem sie nicht bewiesen werden können. Einer der ersten und stärksten Gegner der Aristoteles-Logik, der unglückliche Ramus, der denn auch dafür und für andere Ketzereien in der Bartholomäusnacht umgebracht wurde (von einem wissenschaftlichen Gegner ermordet, erzählte man damals), hat das Wort in einem weiteren Sinne gebraucht: für alle Urteile, die man für wahr hält, denen man Glauben schenkt, nicht nur für die glaubenswerten. Dieser gelehrte Sprachgebrauch der Ramisten deckt sich mit der ursprünglichen Bedeutung des griechischen Wortes; ε ἰναι ἐν ἀξιωματι ὑπο τινος hieß nichts anderes als: bei jemand in Achtung stehen. Es war also ein Wertbegriff und gehörte ordentlich in die Disziplin der Axiologie. Wir werden gegen das Ende unseres vom Alphabete gelenkten Weges (vgl. Art. Wahrheit) genauer erfahren, daß die Begriffe Wahrheit und Glaube einander viel näher stehen, als unsere glaubensfeindliche Wissenschaft zuzugeben geneigt ist. Wir werden uns dann nicht mehr darüber wundern, daß die Axiome, auf welche unsere wissenschaftlichen Wahrheiten nach dem immer noch herrschenden Sprachgebrauch als auf ihre letzten Prinzipien zurückgeführt werden, in Wahrheit Sätze des Glaubens sind.

Es scheint nach einer Stelle (Met. IV, 3), daß Aristoteles den Terminus Axiom von den Mathematikern übernommen und in ihrem Sinne in die Philosophie eingeführt habe. Und die mathematischen Axiome müssen doch, hoch über allem Glauben, absolute Wahrheiten sein. Nun hat aber die nicht-euklidische Geometrie dieses Eine nachgewiesen, daß man an der Wahrheit euklidischer Axiome zweifeln und dennoch, in der Theorie wenigstens, ganz logisch zu einer andern Art von Geometrie gelangen könne. Hören wir, was Poincaré in seiner gar lesenswerten Schrift »La Science et l'Hypothèse« darüber sagt (S. 64 f.): Wären die geometrischen Axiome (um die arithmetischen soll es anders stehen) synthetische Urteile a priori, wie Kant sich ausdrückte, so müßten sie sich uns mit solcher Gewalt aufzwingen, daß wir ihren Gegensatz gar nicht begreifen und auf ihm kein theoretisches Gebäude errichten könnten. Es gäbe gar keine nicht-euklidische Geometrie. Wäre aber die Geometrie eine Erfahrungswissenschaft, dann wäre sie keine exakte Wissenschaft, dann wäre sie einer unaufhörlichen Revision unterworfen. Vielmehr wäre sie schon heute eines Irrtums überführt, weil wir wissen, daß es, im strengsten Sinne, unveränderlich starre Körper nicht gibt. Die geometrischen Axiome sind also weder synthetische Urteile a priori, noch Erfahrungstatsachen. Sie sind Konventionen. Anders ausgedrückt, die geometrischen Axiome sind nur verkleidete Definitionen. Die Frage nach der Wahrheit der euklidischen Geometrie hat also gar keinen Sinn. Ebenso gut könnte man fragen, ob das Metersystem wahr sei und die alten Maße falsch seien. Eine Geometrie kann nicht wahrer sein als die andere; sie kann nur bequemer sein. Die euklidische Geometrie ist nun die bequemste und wird es bleiben, weil sie die einfachste ist, und weil sie recht gut zu den Eigenschaften der Körper stimmt, die wir tasten und sehen, und aus denen wir unsere Maßinstrumente verfertigen.

Soweit Poincaré. Ich halte seinen Ausdruck définitions ou conventions déguisées, die er vorher (S. 3) l'œuvre de la libre activité de notre esprit genannt hat, nicht für glücklich gewählt, trotzdem er damit nicht sagen wollte, sie wären willkürlich; denn sie wären in diesem Falle, fügt er selbst hinzu, unfruchtbar. Warum also die Bezeichnung Konvention? Auch wenn man statt Konventionen Gewohnheiten sagen würde, so wäre damit für die Begreiflichkeit des nicht ganz unwesentlichen Umstandes nicht viel gewonnen, daß die auf Grund solcher Gewohnheiten berechneten Maschinen funktionieren, daß die geometrischen Gesetze, seitdem die Welt steht, noch niemals Lügen gestraft worden sind. Innerhalb der Fehlergrenze, sagen die Vertreter der nicht-euklidischen Geometrie, die es mit Gauss für möglich halten, daß die Winkelsumme eines ebenen Dreiecks am Ende doch nicht ganz gleich 2 R sei.

Mir scheint, daß die Sachlage doch ein wenig anders ist, als Poincaré sie darstellt. Die geometrischen Beziehungen sind, absolut oder nur innerhalb der Fehlergrenze, so fest und so genau berechenbar, daß man wohl alle Regeln dieser Beziehungen denknotwendig nennen kann. Aber diese Beziehungen sind wechselseitig. Schopenhauer hat die Beziehungen der Seiten und der Winkel eines Dreiecks zum Beispiel dieser Wechselseitigkeit gewählt; ich möchte ein viel allgemeineres Beispiel vorschlagen: die Beziehungen des Kreises zu dem rechtwinkligen Dreieck, und berufe mich darauf, daß Lobatschefskij (Pangeometrie § 2) mit der Kugel und dem Kreise beginnt, anstatt wie hergebracht mit der Ebene und der geraden Linie. Würde unsere ganze Geometrie, was für Köpfe von guter Raumvorstellung recht gut möglich wäre, auf den Kreis begründet, so daß ein Kreis von einem Radius unendlicher Dimension erst zur Annahme einer Geraden, eine entsprechende Kugel zur Annahme einer Ebene führen könnte (wie denn unsere empirischen Ebenen wirklich solche Flächen mit verschwindend kleinem Krümmungsmaß sind), – dann würde sich das Verhältnis von Axiom und Lehrsatz umkehren, dann wäre die Definition des Kreises, d. h. eine Nominaldefinition oder Tautologie, das oberste Axiom der Geometrie. Schopenhauer, der darin Hamilton zum Vorgänger hatte, hält wenig von den Schulbeweisen der Geometrie und möchte jeden Lehrsatz aus reiner Intuition begriffen wissen. Das wäre unpraktisch und unbequem für den Schulbetrieb, für die Mitteilung mathematischer Wahrheiten, vielleicht auch für ihre Auffindung; richtig wäre es für den erkenntnistheoretischen Standpunkt, weil die Wechselseitigkeit der Beziehungen es gleichgültig erscheinen läßt, von welchem der Sätze man ausgeht. Worauf ich hinaus will: nicht der Inhalt der geometrischen Axiome ist konventionell und richtet sich nach der Bequemlichkeit, sondern nur die Stellung, die man dem einen Satze dem andern Satze gegenüber anweist, dadurch, daß man in der Darstellung lieber von ihm als vom andern ausgeht. Der berühmte Streit um die Beweisbarkeit des elften euklidischen Axioms, welcher Streit dann noch zu Schopenhauers Lebzeiten, von ihm unbemerkt, zur Aufstellung, Entdeckung oder Erfindung, der nicht-euklidischen Geometrie führte, hätte gar nicht entbrennen können, wenn der Parallelensatz sich erst am Ende des Weges aus dem Kreisaxiom ergeben hätte. Das geometrische Axiom ist also ein relativer Begriff, nicht im Sinne des Subjektivismus, sondern in dem Sinne, daß das diskursive menschliche Denken sich beim Begreifen der Raumgesetze an den Relationen oder Beziehungen weitertastet, so wie es diese Beziehungen irgendwo zuerst zu fassen kriegt. Es gibt keine absoluten geometrischen Axiome.

Sind nun die geometrischen Axiome nur Definitionen, brauchbare Tautologien, so sind die logischen Axiome oder die obersten Denkgesetze unbrauchbare Tautologien. Ich habe das für die drei Sätze von der Identität, vom Widerspruch und vom ausgeschlossenen Dritten (Kr. d. Spr. III, S. 350f.) ausführlich nachgewiesen. Logische Axiome oder unbeweisbare oberste Gesetze waren übrigens nur so lange ein Bedürfnis, als alle Logik deduktive Logik war und darum wie die Mathematik jeden Satz beweisen wollte. Ausgangspunkt mußte bei dieser Methode der allgemeinste Begriff sein, der allgemeinste Satz. Kein Wunder, wenn diese Übungen des Scharfsinns unfruchtbar blieben, einerlei, ob für diesen allgemeinsten Begriff das Seiende oder das Nichtseiende, das Ich oder das Bewußtsein gehalten wurde. Es waren Begriffe ohne Anschauung, also leer; und wenn von diesen Begriffen etwas ausgesagt wurde, so kamen leere Axiome heraus. Seitdem bemüht sich die Logik mehr und mehr, induktiv zu werden, also psychologisch; in der psychologischen Wirklichkeit aber, in dem unendlich feinen Gewebe von Assoziationen, das jeden Augenblick zur Orientierung in unserer Weltanschauung von unserem Gedächtnisse oder unserer Sprache bereit gehalten wird, tasten wir uns erst recht von dem Faden ab weiter, den wir gerade erst zu fassen gekriegt haben, noch viel abhängiger von unserem diskursiven Denken, als wir es in der Mathematik sind. Die Anfänge des induktiven Verfahrens sind, wenn man da schon von Anfängen reden will, die unmittelbaren Gegenstände der Sinneseindrücke, die allerdings unbeweisbar und dennoch gewiß sind, auf die aber die Bezeichnung Axiome nun einmal durchaus nicht passen will. Die induktive Methode hat den logischen Axiombegriff überflüssig gemacht.

Das gilt natürlich in noch höherem Maße von der angewandten Logik und Mathematik, von der Physik nämlich und den Naturwissenschaften überhaupt. Auch da hat es früher Axiome oder ewige Wahrheiten gegeben, die nach längerer oder kürzerer Herrschaft sich als vergänglich herausstellten. Das hat schon Mill, der beste Verteidiger der induktiven Logik, erkannt, und Sigwart (Log.² I, 415) hat den Gedanken in die klaren Worte gefaßt: »Das Kriterium des Nicht-anders-denken-könnens ist immer wieder von der psychologischen Unmöglichkeit infolge der Gewohnheit, statt von der logischen Notwendigkeit verstanden worden.« Sigwart führt u. a. den horror vacui und die Unmöglichkeit der Wirkung in die Ferne als Beispiele an. Wir stehen aber jetzt inmitten solcher Revolutionen des Denkens, die noch mehr ewige Wahrheiten vergehen lassen. Ich erinnere nur an das physikalische Axiom von der Erhaltung der Energie, das durch die Entdeckung des Radiums und seiner Eigenschaften ins Wanken geraten ist, und an das biologische Axiom Natura non facit saltus, das nicht aufrechterhalten werden kann, wenn die Mutationslehre von de Vries mit ihrer Korrektur des Darwinismus recht hat.

Die moralischen Axiome will ich nur kurz erwähnen, um nicht ins Spotten zu geraten. Die mathematischen Axiome und im gehörigen Abstande auch die logischen Axiome sind Lehrsätze, die kraft ihrer tautologischen Wahrheit geglaubt werden und um ihrer Stellung oder Anordnung im System des diskursiven Denkens oder der Darstellung zum Range von Prinzipien oder Obersätzen gelangt sind. Die naturwissenschaftlichen Axiome werden so lange geglaubt, bis sie nicht mehr geglaubt werden; bei ihnen deckt sich der Begriff Glaube mit dem des Axioms. Bei allen diesen Arten des Axiombegriffs läßt sich mit scheinbarem Sinne darüber streiten, ob diese obersten Grundsätze synthetische Urteile a priori seien oder nicht, ob sie (so ist Kants Ausdruck zu verstehen) Erfahrungsurteile vor aller Erfahrung seien oder nicht. Nüchtern und klar hat schon Reid die Entscheidung gefällt: Experience informs us only of what is, or has been, not of what must be (On the intel. powers of man); nur der ordnungsliebende Menschenverstand bringt die Trennung in Axiome und Folgesätze in die Erfahrungsergebnisse hinein. Unser Glaube an die Axiome beruft sich immer auf Erfahrung, und wenn's nur eine vermeintliche Erfahrung wäre. Aber die moralischen Axiome haben nicht einmal eine vermeintliche Erfahrung hinter sich; es sollen Axiome (man sagt in solchen Fällen lieber Maximen) des menschlichen Handelns sein, aber alle Welt ist darüber einig, daß die Menschen nicht nach solchen Grundsätzen handeln. Diese moralischen Grundsätze, die von der Kanzel bis zum Ekel, auf der Schule bis zur Rebellion des Schülers gepredigt werden, stehen zu den einzelnen Handlungen der Menschen nicht in dem Verhältnisse der Wechselseitigkeit; die Handlungen, die wir erleben, lassen sich nicht aus ihnen deduzieren, sie werden überhaupt nicht geglaubt, weder für ewige, noch für irgend dauernde, nicht einmal für gegenwärtige Wahrheiten gehalten; sie haben keine Begriffsähnlichkeit mit den mathematischen, logischen und naturwissenschaftlichen Axiomen und tun darum ganz recht daran, sich eben nicht gern Axiome zu nennen.

Und beinahe im Ernste möchte ich behaupten, daß die Maximen der Moral wirklich synthetische Urteile a priori seien, die einzigen synthetischen Urteile a priori, die es gibt: keine Erfahrung geht ihnen voraus; leider folgt ihnen auch keine Erfahrung. Kants oberste Maxime: handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne, – dieses oberste Sittengesetz ist das köstlichste Beispiel von synthetischen Urteilen a priori; es spricht die gestellte Aufgabe so eindringlich aus, mit solcher Überzeugung von seiner ewigen Wahrheit, daß es die Formel der Aufgabe für ihre Lösung hält. Die Einschränkung der Bezeichnung Maxime auf Grundsätze des Handelns ist neueren Ursprungs. Boëthius hat das Wort geprägt (maximae propositiones), das aber noch lange, auch als Substantivum, allgemein logische Axiome ausdrückte. Die wichtigsten und darum unbeweisbaren, die man darum glauben mußte (magnus = wichtig, insbesondere gefahrvoll, maxima tempora nach μαγιστοι καιροι, Zeiten der dringendsten Gefahr; Goethe prägte danach: Du sprichst ein großes Wort usw.). Bei den Franzosen bildete sich im 17. Jahrhundert der Gebrauch aus, maximes, das früher mit axiomes gleichbedeutend war, für kurze, witzige Lebensregeln anzuwenden. Die Maximes et Réflexions von La Rochefoucauld, das berühmteste Beispiel, enthalten aber wahrhaftig nicht erdachte Sittengesetze eines Idealisten, sondern bittere Erfahrungssätze. Aber auch von den sittlichen Normen a priori galt immer das Wort Pascals: Toutes les bonnes maximes sont dans le monde; on ne manque qu'à les appliquer.